Griechenland in der Abwärtsspirale

Foto: Wassilis Aswestopoulos

Krawallnächte und wachsende Gewaltbereitschaft: der schwarze Dezember oder doch nur anhaltende Perspektivlosigkeit?

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Mit einem "schwarzen Dezember" hatte Nikos Romanos (Athen: Von anarchistischen Luftlandetruppen und anderen Surrealitäten) das griechische Establishment vom Gefängnis aus bedroht. Der Text, in dem von brennenden Innenstädten die Rede ist, hat auch innerhalb der autonomen Szene intensive und kontroverse Diskussionen ausgelöst. Die konservativeren Kräfte witterten einen Aufruf zur Revolution. Romanos lieferte einen weiteren Text, in dem er den Dezember 2008 und die damaligen Ereignisse thematisierte und Einblicke in die persönlichen Beweggründe von sich und seinen Freunden gab.

Abermals rief er zur anarchistischen Revolution auf. Die Befürworter von Romanos Gewaltaufruf argumentieren, dass das Abrennen der Innenstädte schlicht ein Spiegelbild der von der Regierung verübten sozialen Gewalt sei.

Romanos war am 6.12.2008 anlässlich seines Namenstages zusammen mit seinem Freund Alexis Grigoropoulos mit einer Gruppe von Freunden in Exarchia unterwegs, als ein Streifenwagen an ihnen vorbei fuhr. Die damals jugendlichen fünfzehnjährigen Schüler bewarfen den Streifenwagen mit Wasserflaschen aus Plastik. Der Wagen hielt, die Polizisten stiegen aus, auf Flüche der Schüler folgten eine Blendgranate und ein Schuss aus der Dienstpistole des psychisch kranken Vasilios Korkoneas. Am Ende verstarb Grigoropoulos und Athen brannte einen Monat lang inmitten ständiger Demonstrationen.

Die Jugendrevolte wurde auch als Protest gegen die Hoffnungslosigkeit einer gesamten Generation gesehen. Die Generation 700 nannte man seinerzeit die 20- bis 40-Jährigen. Denn 700 Euro waren der durchschnittliche Monatslohn, der sie erwartete. Korkoneas, der seinem Dienstherrn korrekt seine ernsthafte Depressionserkrankung gemeldet hatte und um Versetzung aus dem autonomen Viertel bettelte, ist nun ein verurteilter Mörder. Alljährlich gedenken Jugendliche und jung Gebliebene Alexis Grigoropoulos in landesweiten Demonstrationen. Geändert hat sich seit 2008 kaum etwas an der Perspektivlosigkeit. Außer, dass sie noch größer wurde.

Fast drei Viertel der griechischen Jugend ist ohne Arbeit. Die Glücklichen, die einen Job mit Krankenversicherung ergattern können, müssen oft einen Arbeitsvertrag für vier Stunden pro Tag unterschreiben und dürfen dann acht oder mehr Stunden arbeiten. Ausbezahlt bekommen sie den Mindestlohn für die vier Stunden, also knapp 15 Euro pro Tag. 700 Euro erscheinen ihnen als Vermögen, weil die Mindestlöhne sich nun um die 500-Euro-Grenze bewegen.

Foto: Wassilis Aswestopoulos

An den Zuständen in der Polizei und den daraus resultierenden Gewaltübergriffen änderte sich ebenfalls nichts. Die Justiz steht auf dem Standpunkt, dass sie mit der Verurteilung Korkoneas ihre Schuldigkeit getan hat. Verantwortliche Vorgesetzte oder gar das gesamte System der Polizeiausbildung wurden weder durchleuchtet noch reformiert.

Nun müssen die Polizisten erneut Abstriche verkraften. Die bislang kostenlose Beförderung im ÖPNV wird aus Spargründen gestrichen. Eine Motorradstaffel wurde ebenfalls eingestellt. Neben Gehaltskürzungen müssen die Uniformierten auch die Gelder für einen Teil ihrer Dienstbekleidung aufbringen. Dies steigert auch bei den Beamten die Frustration.

Ein langweiliger Dezemberauftakt

Weil zudem am 5. Dezember die Verabschiedung des Staatshaushalts das Parlament passierte, standen die Chancen für einen erneuten Aufruhr der Jugend nicht schlecht. Heraus kam eine eher ziellose Gewaltorgie. Bereits in der Nacht vom Freitag auf Samstag lieferten sich Gruppen von Anarchisten rund um die Stournara Straße in Athen ein Katz- und Maus-Spiel mit Einsatzpolizisten.

Vordergründig ging es um den Versuch, das Hauptgebäude der Technischen Hochschule von Athen, Ecke Stournara Straße und Patision Avenue, zu besetzen. Molotowcocktails flogen bis in die frühen Morgenstunden, die Beamten überzogen das Viertel mit Tränengasschwaden und rissen die Anwohner mit so genannten Flashbang-Granaten aus dem Schlaf.

Die fünftägige Debatte im Parlament blieb dagegen ebenso leblos, wie ein Generalstreik am Donnerstag sowie zahlreiche weitere kleiner Demonstrationen in der gesamten Woche. Teilweise verloren sich an den Fingern einer Hand abzählbare Politiker in der wichtigen Debatte. Alle Redner spulten mehr oder minder ihr Programm ab, so dass ein wirklicher Dialog von Dienstag bis Freitag vollkommen ausblieb. Immerhin werden mit der Verabschiedung des Budgets die gesetzlichen Weichen für die Rentenkürzungen, Steuererhöhungen und Leistungsstreichungen des Staats gestellt.

Foto: Wassilis Aswestopoulos

Die Bevölkerung hat abseits von politisch besonders interessierten Kräften, wie den Autonomen, das Interesse an jedweder politischer Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit verloren. Die meisten klagen nur noch über den als Verrat empfundenen Kurs des Sparzwangs, wenn sie zum Bäcker oder zum Kiosk gehen.

Das Bild änderte sich am Samstag zumindest im Parlament. Für den Samstagabend waren die Reden der Parteichefs und des Premiers programmiert. Die Veranstaltung wurde besser besucht und auch die Live-Übertragung fand mehr Zuschauer. Tatsächlich jedoch kommentieren böse Zungen in Athen, dass sich während des verbalen Schlagabtauschs lediglich die vorher Gescheiterten mit den nun Scheiternden darüber stritten, wessen Scheitern schlimmer sei.

Obwohl zeitgleich mit der Debatte bekannt wurde, dass Wirtschaftsminister Giorgos Stathakis bei der obligatorischen Angabe der persönlichen Vermögensverhältnisse insgesamt 1,8 Millionen Euro sowie 37 Immobilien "vergaß", blieb die Reaktion in der Bevölkerung verhalten. Die Griechen nahmen es mit Galgenhumor und rätselten, wo Stathakis denn seine Besucher zum Namenstag empfangen würde, wenn er vielleicht sogar seine Wohnungsadresse vergessen würde.

Zur Offenlegung der persönlichen Vermögensverhältnisse sind alle in der öffentlichen politischen Welt stehenden Personen vom Stadtrat bis zum Staatspräsidenten verpflichtet. Die Regel erfasst auch Journalisten. Verstöße bei der Deklaration werden entsprechend einer Steuerhinterziehung strafrechtlich verfolgt, selbst wenn der Betreffende das Vermögen ansonsten brav dem Fiskus gemeldet hat.

Weder Tsipras noch Stathakis sehen jedoch Handlungsbedarf. Ein Rücktritt wurde ausgeschlossen. Zumal sich die auf einer dünnen Parlamentsmehrheit stützende Regierung über ihre "Unstürzbarkeit" freut, weil die heillos zerstrittene Opposition mit sich selbst beschäftigt ist.

Ohne die in allen Jahren seit 2010 traditionellen Demonstrationen vor dem Parlament brachte Premierminister Alexis Tsipras zusammen mit seinem Finanzminister mit den ihm verbliebenen 153 Parlamentariern das Maßnahmenpaket durch das Plenum. Direkt nach Abschluss der Sitzung, eine Stunde nach Mitternacht in der Nacht zum Sonntag flammten in Exarchia die Unruhen wieder auf. Erneut tummelten sich Anarchisten und Polizisten in der Stournara Strasse.

Foto: Wassilis Aswestopoulos

Wieder gab es ein bis in die Morgenstunden andauerndes Gefecht mit Steinwürfen von der einen Seite und Tränengas samt der Krach machenden Blendgranaten von der anderen. Während der Ausschreitungen wurde ein Tourist aus Portugal verletzt, zwei Fotografen verloren einen Teil ihrer Arbeitsausrüstung. Zumindest hinsichtlich des einen Fotografen ist bekannt, dass er sich auf eine kontroverse Diskussion mit einem Autonomen einließ.

Andererseits konnten beide streitenden Parteien auch mitten in der Nacht noch mit einem Zweirad passiert werden. Es kam bei der Passage der entsprechenden Stellen offenbar darauf an, möglichst ohne Kommentierung des Geschehenden an den beiden Truppen vorbei zu fahren. Geradezu grotesk mutet in diesem Zusammenhang an, dass die Kontrahenten das gegenseitige Bewerfen mit Wurfgeschossen aller Art für die Dauer der Passage unterließen.

Die Demonstration des 6. Dezember

Für den Nikolaustag waren gleich zwei Demonstrationen angemeldet. Die Schülerdemo startete um 14 Uhr. Bei ihr fanden sich die führenden Politiker der Syriza-Abspaltung Volksunion ein. Die Partei von Panagiotis Lafazanis versucht sich bislang mit minderem Erfolg, als linke Alternative zu Tsipras zu positionieren. Trotz der relativ hohen Teilnehmerzahl von Schülern gab es bereits bei Beginn der Demonstration Scharmützel mit der Polizei.

Außer einem regelrechten Steinhagel von Seiten der Schüler und der entsprechenden Antwort der Einsatzpolizei blieben weitere Eskalationen aus. Die Demonstration löste sich kurz vor 17 Uhr friedlich auf, als hätte es keine zwischenzeitliche Auseinandersetzung gegeben.

Foto: Wassilis Aswestopoulos

Bis zum Beginn der abendlichen Großdemonstration konnte in Exarchia ein reges Treiben beobachtet werden. Alte Türen und Baumaterial wurden auf den zentralen Platz gebracht. Das Viertel rüstete sich für den Abend. Die Geschäfte rund um den Platz wurden geschlossen und von ihren Besitzern verbarrikadiert. Anders als sonst hatten sich auch die hartgesottensten Ladenbesitzer für diese Maßnahme entschieden, zumal am Vormittag, kurz vor 12h ein Bekleidungsladen aus noch unbekannten Gründen und ohne eine Demonstrationsgruppe in der Nähe schlicht abgefackelt worden war.

Die überall in der Stadt präsenten Einsatzpolizisten erklärten derweil jedem, den sie in schwarzer Kleidung oder mit einem Kapuzenpullover sahen, dass sie am Abend eine Tracht Prügel garantieren würden. Dazu gab es die entsprechenden, expliziten sexuellen Hintergrund implizierenden Handbewegungen der Uniformierten.

Der eigentliche Demonstrationszug startete von den Propyläen am Hauptgebäude der Athener Universität aus. Geplant war ein Marsch zum Omonia-Platz, dann zum Syntagma-Platz am Parlament und wieder zurück zum Uni-Hauptgebäude. Wie üblich skandierte die Menge Parolen gegen die "mörderische Polizei", die verlogene Presse und die Nazis und zog durch die Straßen.

Der Weihnachtsbaum am Syntagma-Platz, ein von allen erwarteter Ort des Showdowns, wurde ohne Probleme passiert. Erst 300 Meter später, und knapp 300 m vom Ziel entfernt, gab es den ersten Zwischenfall. Ein Demonstrant zündete einen Molotowcocktail und warf diesen so unglücklich in Richtung numismatisches Museum, dass der Alleenbaum das Wurfgeschoss zurück in die Demonstrationsmenge katapultierte. Das war das Signal für die Polizei zum Zuschlagen.

Foto: Wassilis Aswestopoulos

Innerhalb von Sekunden flogen Dutzendweise Blend- und Tränengasgranaten. Die vollkommen orientierungslose Menge wurde auseinandergetrieben. Die Polizisten schlugen dabei mit Schlagstöcken auf jeden ein, der nicht sichtbar mit einer Kamera in der Hand als Journalist auffiel. Rechtsanwälte, die sich mit ihrem Ausweis am Revers zum Schutz vor Gewaltübergriffen der Polizei freiwillig in die Demonstration begeben hatten, wurden derweil das Opfer von hitzigen Menschen jeden Alters, die im Ausweisträger einen Zivilpolizisten vermuteten.

Erst zwanzig Minuten später sammelten sich die Demonstrationsteilnehmer in Sichtweite des Omoniaplatzes, wobei der Polizeikordon um die Menge nur zwei Auswege offen ließ. "Wer gehen will, kann in Richtung Omonia verschwinden", ließen die Polizisten wissen. Der zweite Weg führte hinein nach Exarchia.

Dort teilten sich die die Lager in Polizisten, die von der Patision Avenue aus operierten und Autonome, die vom zentralen Platz aus operierend die Polizei angriffen. Es gab einen recht sinnlos erscheinenden Schlagabtausch, der sich über mehrere Parallelstraßen der Stournara Straße zog. Teilweise flogen seitens der Autonomen zwanzig Molotowcocktails gleichzeitig in Richtung Polizei. Die Autonomen hatten zudem mit einer generalstabsmäßig geplanten Aktion die Einsatzkräfte in Angst versetzt. Ein offensichtlich herrenloser Smart Kleinwagen war mit Gaskartuschen gefüllt worden und wurde in Brand gesetzt auf eine Polizeieinheit gerollt.

Foto: Wassilis Aswestopoulos

Zu den Besonderheiten des Tages zählt die Tatsache, dass die Polizeikräfte teilweise so verwirrt waren, dass sie sich gegenseitig mit Blendgranaten bewarfen. Gleichzeitig jedoch achteten sie anders als sonst darauf, die Journalisten nicht zu verletzen. Bei den Autonomen kam es zu ähnlichen Fehlleistungen als einige, offenbar von den Blendgranaten ihrer Orientierung beraubt, ihre Molotowcocktails statt in Richtung Polizei auf die Balkone der Anwohner schmissen, und damit dort Brände auslösten.

Die erste "6. Dezember Demonstration" unter Premierminister Alexis Tsipras war gezeichnet von einem flächendeckenden, exzessiven Einsatz von Gasen aller Art durch die Polizei. Neben konventionellem Tränengas gab es Granaten, welche den Attackierten die Atmung nahezu lähmten. Trotzdem dauerte die Straßenschlacht bis in die frühen Morgenstunden des Montags an. Als bisheriges Ergebnis der drei Nächte sind 11 Anklagen gegen Beteiligte bekannt geworden. Unter den Festgenommenen befinden sich auch Minderjährige.

Was ansonsten wirklich wichtig war

An der Situation im Land änderte sich derweil überhaupt nichts. Die Insassen des Gefängnishospitals von Griechenlands größter Strafanstalt, Korydallos, traten nach zweiundzwanzigtägigem Medikamentenstreik nun auch in den Hungerstreik. Sie beklagen untragbare hygienische Zustände, das Fehlen von Ärzten und Krankenwagen, sowie die chronische Überbelegung.

In Korydallos. Foto: @kolastirio

Im Gebäudetrakt, der nur euphemistisch Krankenhaus genannt werden kann, werden an AIDS Erkrankte ohne Schutz zusammen mit anderen Patienten mit ansteckenden Krankheiten in einer "Isolierstation" eher gestapelt als versorgt. Krebspatienten wird die Versorgung verweigert. Wer über einen Anwalt die internen Zustände bekannt macht, erhält eine Zusatzstrafe. Statt vorbeugender Behandlung gibt es für Strafgefangene die Amputation erkrankter Gliedmaßen.

Wer klagt, dem wird die Versorgungsleistung komplett verweigert. Kolastirio (= Höllenloch) nennen die Insassen den Trakt, in dem offensichtlich die Einweisung einer Todesstrafe gleich kommt.