Griechische Schulden und deutsche Verantwortung

Seite 2: Deutsche Krisengewinne und Schäubles schwarze Null

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Gesine Schwan hat kürzlich daran erinnert, dass sich Experten des IWF bereits im Frühjahr 2010 gegen neue Kredite für das faktisch insolvente Griechenland ausgesprochen haben. Sie plädierten für einen Schuldenschnitt. Um jedoch deutsche und französische Banken vor Verlusten zu bewahren, setzten sich Merkel, Schäuble und der damalige IWF-Chef Strauss-Kahn vehement dafür ein, neue Kredite in das überschuldete Land zu pumpen.

Das war in der damaligen Situation, in der kritischen Phase der Finanzkrise mit hohen Crash-Gefahren im Bankensektor, eine nachvollziehbare Entscheidung. Aber die Bundesregierung dachte gar nicht daran, diese fatale Weichenstellung so schnell wie möglich zu korrigieren. Sie machte das griechische Hilfsprogramm zum Modell für das europäische Krisenmanagement und verstärkte so die bereits bestehende Polarisierung in der Eurozone. So konnten sich die Gläubigerstaaten wirtschaftlich stabilisieren, während die Empfänger der Hilfskredite in einen Teufelskreis aus wachsenden Schulden und einer zusammenbrechenden Wirtschaft geführt wurden.

Vor allem Deutschland profitierte dann auch von den eskalierenden Krisen in Südeuropa. Die schwarze Null, auf die sich Wolfgang Schäuble so viel zugute hält, ist vor allem ein Resultat dieser Krisengewinne. Im Zuge der Eurokrise sanken die Zinsen für deutsche Staatsanleihen auf historische Tiefs. Bis zu einer Laufzeit von sechs Jahren liegen sie mittlerweile im negativen Bereich. Der deutsche Staat kann also mit Schulden Geld verdienen.

Das ist zum einen dadurch zu erklären, dass Bundesanleihen zum sicheren Hafen der Geldanleger geworden sind. Zum anderen war die EZB wegen der wirtschaftlichen Depression in Südeuropa zu einer expansiven Geldpolitik gezwungen und verstärkte damit diesen Trend. In einer Studie aus dem Kieler Institut für Weltwirtschaft von 2012 wurden diese deutschen Zinsersparnisse auf 68,4 Milliarden Euro berechnet. Inzwischen schätzt der Autor der Studie, Jens Boysen-Hogrefe, die Gesamtsumme auf 100 Milliarden Euro.

Auch der deutsche Steuerzahler ist einer der großen Krisenprofiteure der Eurozone

Aber nicht nur der Bundeshaushalt profitierte. Aus ähnlichen Gründen bekommen auch deutsche Unternehmen ihr Fremdkapital zu sehr günstigen Konditionen. Sie konnten sich zudem über die Einwanderung qualifizierter junger Leute aus Spanien und Griechenland freuen. Der niedrige Eurokurs begünstigt die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exporteure zusätzlich. Und schließlich bescherten die guten Geschäfte der Wirtschaft auch dem deutschen Fiskus reichliche Steuereinnahmen. So sanierte sich der Bundeshaushalt quasi von selbst, während die Krisenländer des Südens gezwungen wurden, soziale Leistungen zu kürzen, Angestellte zu entlassen, Mindestlöhne zu senken, Tarifverträge aufzulösen und so in eine wirtschaftliche Todesspirale abzustürzen.

Der vielzitierte deutsche Steuerzahler ist einer der großen Krisenprofiteure der Eurozone. Auch diese Erkenntnis kratzt am Selbstbild vieler Bundesbürger, die davon überzeugt sind, dass die Krisenländer auf ihre Kosten lebten und deshalb auch die Sparvorgaben widerspruchslos zu schlucken hätten, frei nach dem Motto: "Wer zahlt, bestimmt."

Ein räuberischer Hegemon

Welche Gründe könnte es für Deutschland nun geben, seine Politik zu verändern und in führender Rolle dabei mitzuwirken, das Krisenkarussel zu stoppen? Varoufakis setzt hier weder auf die historisch begründete Verantwortlichkeit der Deutschen noch auf ihre Einsicht in die Ungerechtigkeiten der Eurozone. Er appelliert an das "aufgeklärte Eigeninteresse".

Der gütige Hegemon orientiert sich ja durchaus, dem historischen Beispiel folgend, an seinen eigenen strategischen Interessen. Im Zuge einer wirtschaftlichen Erholung in der europäischen Peripherie, argumentiert Varoufakis in seinem Blog, würden Arbeitsplätze und Einkommen entstehen. Und dadurch könnte auch die deutsche Exportwirtschaft ihre Absatzmärkte sichern und ausbauen. Am Ende würden alle profitieren.

Diese keynesianisch inspirierte Argumentation trifft jedoch die wirtschaftliche Realität Deutschlands nicht ganz. Denn das deutsche Geschäftsmodell läuft nach wie vor auf Hochtouren. Mit ihren Exportüberschüssen erreichte die Bundesrepublik im vergangenen Jahr erneut die weltweite Spitzenposition. Laut Ifo-Institut stieg der deutsche Leistungsbilanzüberschuss auf einen neuen Rekordstand von 220 Milliarden Euro, trotz der darniederliegenden Wirtschaft und den sozialen Notlagen in den Krisenländern.

Die deutsche Exportwirtschaft, die in den Jahren nach der Euro-Einführung die Märkte der weniger wettbewerbsfähigen Länder abräumte und so die fundamentalen Ungleichgewichte produzierte, findet heute ihre wachsenden Absatzmärkte außerhalb der Eurozone. Auch dabei hilft die Krise der anderen Euroländer: Sie bringt die EZB dazu, den Eurokurs niedrig zu halten und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exporteure auf den Weltmärkten zu steigern.

Anscheinend hat Deutschland seine Rolle als Hegemon längst gefunden, aber nicht als gütiger, sondern als räuberischer, ausbeuterischer Hegemon, der seinen wirtschaftlichen Vorteil mitnimmt, ohne das Wohl des Ganzen zu berücksichtigen. Aber vielleicht gibt es ja doch noch ein handfestes Motiv für die Bundesregierung, mehr Verantwortung für das Wohl der gesamten Eurozone zu zeigen. Hat sie nicht wenigstens ein Interesse daran, die Schuldenkrise durch Wachstum zu lösen, damit die Kredite zurückgezahlt werden können?

Auch hier ist Skepsis angebracht. Denn solange der Schuldendienst irgendwie sichergestellt wird und das Finanzkarussel nicht ins Stocken gerät, sind Schulden kein Problem. Im Gegenteil. Sie bieten Anlagemöglichkeiten für Geldkapital. Und der Bundesregierung bieten sie die Chance, zusammen mit EU-Kommission und IWF anderen Ländern das gewünschte neoliberale Politikmodell aufzuzwingen, von dem Deutschland in vielfältiger Weise profitiert.

Nur der Widerstand in den betroffenen Ländern kann dieses fatale Interessengeflecht durchbrechen. Die griechischen Wähler haben es gewagt, in einen Widerstandsmodus zu wechseln. Das ist eine echte Chance für eine politische Neuorientierung in Europa. Gelingen kann sie aber nur, wenn sich auch Deutschland verändert.

Ein erster Schritt dahin wäre eine ehrliche Debatte über die Rolle Deutschlands in Europa, einschließlich einer realistischen Bilanz der Gewinne und Verluste. Bis jetzt weicht die Bundesregierung dieser Debatte konsequent aus. Jahrelang predigte Angela Merkel, die Deutschen hätten "ihre Hausaufgaben erledigt". Ihre gleichbleibende Botschaft ist, in Deutschland sei alles richtig gemacht worden. Andere Länder können an ihren Problemen folglich nur selbst schuld sein.

Tief in dieser Botschaft lauert die alte Ideologie der Ungleichheit, der deutsche Dünkel, besser zu sein als andere, besser als "Südländer" und andere Krisengeschädigte. Schon allein deshalb ist die Erinnerung an die historische Verantwortung, und auch an die historischen Schandtaten der Deutschen, die uns in diesen Tagen aus Athen erreicht, eine wertvolle Medizin.