"Größtenteils nutzlos und potenziell schädlich"
Seite 2: Beeinflusste und beeinflussende Beobachter
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Welche Rolle spielen die Fachleute, die die Untersuchungen machen, bei solchen Studien?
Michael P. Hengartner: Ein klassischer Befund aus der Psychologie ist, dass es in experimentellen Studien einen Beobachtereffekt gibt. Das heißt, wenn die Versuchsperson oder der Forscher weiß, zu welcher Gruppe er gehört, dann fällt das Studienergebnis anders aus. Gerade deshalb sollen in solchen Studien weder die Patienten, noch die klinischen Fachleute wissen, wer das Placebo und wer den Wirkstoff bekommt. Man nennt das Doppelverblindung.
In der Praxis funktioniert das aber nicht: Sowohl die Patienten als auch die Fachleute haben oft jahrelange Erfahrung mit den Wirkungen von Psychopharmaka. Das heißt, wenn ein Patient nach einigen Tagen keine der häufigen Nebenwirkungen wie etwa Mundtrockenheit berichtet, dann können beide Seiten vermuten, dass hier ein Placebo verwendet wird, auch wenn niemand das offiziell weiß.
Das kann die Studienergebnisse verfälschen. Schließlich sind die Fachleute diejenigen, die den Patienten Fragen stellen und dann beurteilen, wie stark die Symptome sind - etwa leicht, mittel oder schwer -, woraus dann ein allgemeiner Depressionswert berechnet wird. In Untersuchungen wurde gezeigt, dass rund 90 Prozent der Fachleute nach einiger Zeit wissen, wer das Placebo und wer den Wirkstoff bekommt. Damit ist die Aussagekraft und Gültigkeit der Studien fundamental gefährdet.
Man hat in einigen Studien mittels Fragebögen die Patienten selbst ihre Symptome bewerten lassen. Dann wurden die Effekte kleiner oder verschwanden sogar ganz. Fachleute und Patienten haben also unterschiedliche Meinungen über die Wirkung. Davon abgesehen erfassen solche Depressionsskalen meist nicht, wie es den Patienten im wirklichen Leben geht. Können sie arbeiten? Wie steht es um ihre Beziehungen? Das sind aber Dinge, die für die Betroffenen unabhängig vom Schweregrad ihrer Symptome von großer Bedeutung sind.
Gefährdete Repräsentativität
Inwiefern sind solche Studien überhaupt repräsentativ?
Michael P. Hengartner: Das ist ein anderer wichtiger Punkt. Neben Menschen, die stark auf ein Placebo reagieren, werden auch Menschen vom Versuch ausgeschlossen, die zusätzliche Probleme haben wie Angst- oder Substanzstörungen, also eine Alkohol- oder Drogensucht. In der Fachsprache nennt man das Komorbidität. Ebenfalls ausgeschlossen werden in der Regel Patienten, die unter psychotischen Symptomen oder Suizidgedanken leiden.
Jeder Kliniker weiß aber, dass Patienten mit der Diagnose Depression oft vielfältige Probleme haben. Die Studien müssten eigentlich nachweisen, welche Effekte die Medikamente in dieser typischen Patientengruppe haben, arbeiten aber mit einer ganz anderen, stärker eingegrenzten Gruppe. Daher lassen sich die Ergebnisse von Placebo-kontrollierten Antidepressivastudien nicht verallgemeinern.
Sie schreiben auch, dass Antidepressiva das Suizidrisiko erhöhen und die Gesundheit gefährden können. Würden Sie das bitte näher erläutern?
Michael P. Hengartner: Diese Diskussion ist schon mindestens zwanzig Jahre alt. Eigentlich wurde schon Anfangs der 1990er Jahre bekannt, dass die damals neuen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) sowohl bei gesunden Personen als auch bei Menschen mit psychischen Störungen extreme Unruhe auslösen oder Suizidalität verursachen können. Das heißt, sie können unkontrollierbare, aggressive Impulse bekommen, an den Tod denken oder gar konkrete Schritte unternehmen, sich selbst zu verletzen.
Ein Problem war, dass die Wirksamkeits-Studien zu wenige Personen untersuchten, um diese Effekte statistisch signifikant werden zu lassen. Und Sie müssen wissen, dass man in der Forschungswelt die 5%-Signifikanzschwelle verabsolutiert, mehr als es die statistische Theorie rechtfertigt. So haben erst spätere Meta-Analysen mit den Daten tausender Menschen bestätigt, dass Antidepressiva zu einer erhöhten Suizidalität führen können. Der bereits erwähnte David Healy hat hierauf bereits sehr früh hingewiesen und sich damit viele Feinde geschaffen.
Dazu kommt, dass Suizidversuche, wenn sie in der oben beschriebenen Washout-Vorbereitungsphase auftraten, der Placebo-Gruppe angerechnet wurden. Dadurch wurde es unwahrscheinlicher, dass Suizidalität im Zusammenhang mit dem neuen Medikament auffällt. Außerdem ist es schwierig das Problem zu messen, wenn man von fatalen Suizidversuchen absieht. In manchen Studien wurden Gedanken an den Tod oder Selbstverletzungen schlicht als "emotionale Instabilität" oder "Verschlechterung der Depression" registriert, um das Problem zu kaschieren.
Gesundheitsgefährdung bei langfristiger Einnahme
Und was meinen Sie mit Gefährdung der Gesundheit?
Michael P. Hengartner: Hier geht es eher um die langfristige Einnahme von Psychopharmaka, also über viele Jahre hinweg. Man muss sich vor Augen führen, dass es sich um psychoaktive Substanzen handelt. Wie andere Drogen auch. Das heißt, die Medikamente wirken irgendwie im Gehirn, auch wenn sie meiner Meinung nach nicht speziell die depressiven Symptome lindern.
Nun weiß man zudem, dass Serotonin im ganzen Körper wirkt und beispielsweise die Immunfunktion und den Stoffwechsel beeinflusst. So kann es schließlich zu einer Störung lebenserhaltender Körperprozesse kommen. Und natürlich zu neurobiologischen Störungen aufgrund andauernder Veränderung der Gehirnchemie.
Mir geht es nicht darum, Psychopharmaka zu verteufeln. Man muss aber bewusster damit umgehen, was die Substanzen im ganzen Körper machen, und das in die Abwägung von Nutzen und Risiken einbeziehen. Mehrere Studien zeigen inzwischen sehr deutlich, dass die langjährige Einnahme von Psychopharmaka bestimmte Gesundheitsrisiken erhöht.
Was Sie in Ihrem Artikel zusammenfassen, ist das Ergebnis jahrelanger Forschung. Es handelt sich um wissenschaftliche Veröffentlichungen, die seit Langem in den Bibliotheken stehen. Warum dringt davon so wenig an die Öffentlichkeit?
Michael P. Hengartner: Man muss sich vor Augen führen, dass sich die Mainstream-Psychiatrie stark auf biomedizinische Konzepte und das Verschreiben von Psychopharmaka eingeschossen hat. Das sind die Krankheitsmodelle, die man am häufigsten untersucht und die Behandlungen, die man am häufigsten anwendet. Diese Botschaft wird auch erfolgreich medial verbreitet und aggressiv vermarktet. Die Hoffnungen in die Biologische Psychiatrie waren und sind sehr groß. Kritische Meinungen und Arbeiten wurden hingegen lange ignoriert.
Das lag auch an den systematischen Verzerrungen, über die wir bereits gesprochen haben. Man weiß heute, dass manche Studien eigentlich nur eine bedeutungslose Differenz zwischen Placebo und Antidepressivum von ein bis zwei Punkten auf einer Depressionsskala von 52 Punkten ergeben haben. In der Publikation wurde am Ende aber eine Differenz von über zehn Punkten berichtet, weil man selektiv nur eine Teilmenge der Patienten ausgewertet hat. Ärzte und Forscher haben diese verzerrten Darstellungen dann gelesen und einen falschen Eindruck bekommen.
Natürlich gibt es auch den großen Wunsch durch das Personal in den Klinken und Arztpraxen, den Menschen etwas anzubieten, das wirklich hilft. Diesen Glauben an die Wirksamkeit der Medikamente wollen sich viele verschreibende Ärzte nicht nehmen lassen.
Zunehmende Verschreibungen
Warum werden dennoch so viele Antidepressiva verschrieben? Sie behaupten sogar, dass es immer mehr werden.
Michael P. Hengartner: Es gibt wahrscheinlich mehr als nur eine einzige Ursache. Ich denke, dass auch die Hilflosigkeit in den Kliniken eine Rolle spielt. Was hat man nicht schon alles bei schwerkranken Patienten versucht? Man will ja auch Hilfe leisten, damit es den Patienten besser geht.
Zudem mangelt es eben auch an Mitteln und alternativen Möglichkeiten. Bei einer akuten, schweren Depression mit psychotischen Symptomen ist beispielsweise eine Psychotherapie schwierig, da die Patienten vielleicht nicht mitmachen oder schnell abbrechen.
Es liegt aber auch daran, dass, wie gesagt, die Wirksamkeit der Medikamente überschätzt wird. Weil diese Meinung so weit verbreitet ist, haben es kritische Arbeiten schwer, durch den wissenschaftlichen Gutachterprozess zu kommen. Die Peer Reviewer, die eigentlich neutral und unabhängig sein sollten, halten diese Sichtweise für falsch und erschweren die Veröffentlichung. Rasch wird man auch als irrationaler Polemiker oder gar Sektierer abgestempelt.
Wie verhält es sich eigentlich mit den offiziellen Richtlinien für die Behandlungen? Sind diese denn eindeutig?
Michael P. Hengartner: In diesen äußert sich ein weiteres Problem, dass man nämlich an unterschiedlichen Orten verschiedene Meinungen darüber hat, was die beste Behandlung ist. So schreibt etwa die Richtlinie der Amerikanischen Psychiatrievereinigung vor, dass man schon bei milden Depressionen Antidepressiva verschreiben soll. Das entsprechende britische Komitee rät aber strikt davon ab und schreibt vor, in solchen Fällen erst einmal abzuwarten und zu beobachten.
Interessant ist, dass sich beide Gremien, also die amerikanischen und die britischen Psychiater, im Wesentlichen auf dieselben Studien berufen - aber dennoch zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Was soll ein Arzt also machen? Wenn er zudem an Weiterbildungen teilnimmt, die so gut wie immer von der Pharmaindustrie gesponsert sind, wo dann jemand kommt, der ein Loblied auf die Medikamente singt.