"Größtenteils nutzlos und potenziell schädlich"

Seite 3: Finanzielle Interessenkonflikte sind ein sehr großes Problem

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Inwiefern spielen finanzielle Interessenkonflikte, von denen man immer wieder hört, hier eine Rolle?

Michael P. Hengartner: Diese sind ein sehr großes Problem. Man weiß heute, dass die Meinungsführer in der Psychiatrie stark von den Geldern der Pharmaindustrie abhängig sind. Manche von ihnen haben Verbindungen mit sechs bis acht verschiedenen Unternehmen.

In Einzelfällen ist belegt, dass es um mehrere hunderttausend Dollar geht, die jemand innerhalb weniger Jahre mit Vortragshonoraren, als Berater und in anderen Funktionen verdienen konnte. Manche halten sogar Anteile der Unternehmen, deren Produkte sie eigentlich unabhängig und neutral untersuchen sollen. Solche Leute und deren Mitarbeiter produzieren dann Ergebnisse, die die Regulierungsbehörden erfordern, um die Medikamente auf dem Markt zuzulassen.

Dazu kommt, dass die Pharmaindustrie in der Breite viele der Studien finanziert. Auch Kongresse und Weiterbildungen werden finanziell unterstützt und mit medikamentenfreundlichen Inhalten versehen. Wie soll dann eine neutrale, kritische Meinung, wie wir sie von der Wissenschaft erwarten, noch möglich sein?

Eine Anekdote hierfür: Marcia Angell, früher Chefredakteurin des New England Journal of Medicine, eine der führenden medizinischen Fachzeitschriften, suchte einmal einen bekannten Psychiater ohne Interessenkonflikt. Dieser sollte einen Leitartikel zu einem bestimmten Forschungsthema verfassen. Es war aber so gut wie unmöglich, unter den führenden Persönlichkeiten des Faches so jemanden zu finden.

Es gibt aber auch Patienten, die felsenfest davon überzeugt sind, dass die Medikamente ihnen geholfen haben. Wie erklären Sie sich solche Fälle?

Michael P. Hengartner: Wie gesagt, Antidepressiva sind psychoaktive Substanzen, die haben durchaus psychische und körperliche Effekte. SSRIs beispielsweise wirken bei einigen Menschen aktivierend. Das können manche Patienten, die etwa unter Lethargie leiden, als sehr hilfreich empfinden.

Bei anderen kann diese Aktivierung aber auch zu innerer Unruhe, zu Gedankenrasen und Schlaflosigkeit führen. Ich bezweifle nicht, dass Antidepressiva wirken, sondern dass sie spezifisch anti-depressiv wirken. Zudem denke ich, dass diese Effekte längerfristig schädlich sind.

Davon abgesehen ist allein schon die Überzeugung, dass man einen Wirkstoff bekommt, für viele Patienten beruhigend. Was oft nicht berücksichtigt wird, ist dass man zusätzlich zu dem Medikament auch Aufmerksamkeit bekommt, eine Hilfeleistung. Jemand erkundigt sich nach den Symptomen.

Allein das führt oft schon zu einer Besserung. Wahrscheinlich hätten viele Patienten, denen man an Stelle eines Antidepressivums ein Placebo gegeben hätte, ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. In der klinischen Praxis wird das aber aus ethischen Gründen nicht durchgeführt.

Alternativen für die Forschung und die Therapie

Und zum Schluss: Ihre Zusammenfassung der Forschung zeichnet ein eher düsteres Bild der Psychiatrie und Psychopharmakologie. Haben Sie eine Idee, wie eine bessere Alternative aussehen könnte?

Michael P. Hengartner: Ich denke vor allem, dass die Pharmaindustrie nicht länger die Wirksamkeit ihrer eigenen Medikamente bestimmen dürfte. Stellen Sie sich vor, eine Fußballmannschaft dürfte selbst den Schiedsrichter stellen! Jedem leuchtet unmittelbar ein, dass das System Sport so nicht funktionieren würde.

Warum ist es in der Wissenschaft dann anders? Es müsste eine vollständig unabhängige Instanz geben, die die Studie von Anfang bis Ende durchführt und publiziert. Das heißt insbesondere, dass das Ausmaß der Abhängigkeit von der Pharmaindustrie, das leider eine katastrophale Dimension erreicht hat, reduziert werden müsste.

Die Interessenkonflikte beginnen schon dort, wo Fachleute sich Gedanken machen, wie man psychische Störungen überhaupt definiert und diagnostiziert. Im Ergebnis werden mitunter aus Trauer oder Stressbelastung aufgrund kritischer Lebensereignisse psychische Störungen gemacht, die dann pharmakologisch behandelt werden. Auch die Behandlungsrichtlinien dürften nicht von Leuten aufgestellt werden, die für Nebentätigkeiten tausende oder gar hunderttausende Dollar von der Pharmaindustrie bekommen haben.

Das ist immer noch sehr aus der Perspektive von Fachleuten gedacht. Können Sie etwas mit Blick auf die Patientinnen und Patienten empfehlen?

Michael P. Hengartner: Es ist wichtig, Patienten und Ärzte für das Thema zu sensibilisieren. Gerade bei milden Depressionsformen gibt es Alternativen zur Verschreibung von Psychopharmaka. Außerdem werden mehr als die Hälfte der Psychopharmaka an Leute verschrieben, bei denen überhaupt keine depressive Störung diagnostiziert wurde.

Bei solchen Personen oder bei milden Formen der Störung sollte man eher an soziale oder psychologische Interventionen denken. Keinesfalls sollte man die Medikamente als "Glückspillen" missverstehen. Es ist doch frappierend, wenn inzwischen in den USA rund 20 Prozent der Frauen im Alter zwischen 40 und 60 Jahren Antidepressiva verschrieben bekommen!

In vielen Fällen geht es schlicht um Überlastung, Frust oder Stress. Dann sollte man sich auch die Lebensumstände anschauen, die Schlafhygiene, die Ernährung. Man weiß auch, dass körperliche Aktivität und Sport für viele Menschen eine Hilfe sein können. Das sollte bei milderen Formen der Probleme der erste Ansatz sein.

Und selbst bei schweren Depressionsformen hat sich Psychotherapie als wirksame Alternative zu den Medikamenten erwiesen. Vor allem längerfristig scheint die Psychotherapie der medikamentösen Therapie überlegen zu sein und hilft beispielsweise auch dabei, wieder eine Arbeit zu finden, was Medikamente nicht können. Zudem kann Psychotherapie keine schwerwiegenden körperlichen Störungen verursachen. Das ist ein großer Vorteil.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.