Große Götter und kleine Mädchen
Sind Mangas religiöse Bücher?
Eine abenteuerliche Mischung aus Zwischenwelten, Geistern und Dämonen, massiver Gewalt und fremdartigen Riten: Dies sind viele Mangas oder Animes - die Filmversion der japanischen Comics. Aber was bedeutet das eigentlich? Sind solche Mangas religiöse Bücher? Eröffnen sie ein System, eine Religion? Spiegeln sie einen Religionsboom wider? Oder sind sie schlicht Unterhaltung?
Über diese Fragen ist kürzlich eine Broschüre erschienen: Von Geistern, Dämonen und vom Ende der Welt. Religiöse Themen in der Manga-Literatur. Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Wir sprachen mit ihrem Autor Franz Winter. Er hat sich mit einer Arbeit über eine japanische neureligiöse Bewegung habilitiert und ist Lehrbeauftragter am Institut für Religionswissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Herr Winter - bei Mangas denkt man nicht an Religion. Aber vielleicht an Übersinnliches. Nur: Ist das Religion?
Franz Winter: Im Kontext der Religionswissenschaften ist "Religion" kein eindeutig definierter Begriff. Ich wollte mit einem möglichst umfassenden Religions-Begriff arbeiten. Außerdem schreibe ich im Buchtitel von "religiösen Themen", um das möglichst offen zu halten. Das oft als "Übersinnliches" Bezeichnete ist auf jeden Fall Teilbereich des religiösen Feldes und sollte davon nicht abgetrennt, das heißt als "Nicht-Religion" behandelt werden.
Es wird in vielen Medien immer wieder ein "Religions-Boom" postuliert. Sie dagegen haben geschrieben, dass dieser viel zitierte Boom gar nicht empirisch gesichert sei.
Franz Winter: Seit den 1970er Jahren gibt es einen massiven Exodus aus religiösen Gemeinschaften, vor allem aus den traditionellen Religionsgemeinschaften. Das ist ein globales Phänomen und auch in Asien zu beobachten. Manche Leute bewegen sich in andere Gebiete der Religion hinein, etwa in die Esoterik. Aber die meisten Leute verabschieden sich von einem religionsbestimmten Leben, würde ich zumindest behaupten. Bei Umfragen unter Jugendlichen hat sich herausgestellt, dass Religion für sie keinen besonderen Stellenwert mehr hat.
Man kann die These aufstellen, dass Religion an sich an Bedeutung verliert. Und das gilt auch für Japan, wo beispielsweise für die 1980er Jahre vergleichbare Thesen vom "Boom" oder der "Rückkehr" der Religionen aufgestellt wurden. Zwar ist der Zugang zu Religion in Asien oft ein völlig anderer, aber einen solchen "Boom" zu konstatieren und ihn empirisch zu untermauern, das fällt schwer.
Aber trotzdem sind religiöse Themen in Mangas und Animes präsent? Wie geht das zusammen?
Franz Winter: Seit den 1970er Jahren lässt sich auf jeden Fall bemerken, dass bestimmte religiöse Themen eine Breitenwirkung entfaltet haben, unter anderem auch in der Manga-Literatur. Der eben genannte "Religions-Boom" bestand ja vor allem in einer Auseinandersetzung mit einzelnen Themen, die in einem völlig neuen Gewand präsentiert wurden. Möglicherweise hat man deshalb diesen "Boom" auch konstatiert, obwohl es sich in erster Linie um alte Themen im neuen Gewand handelte. Die Manga-Literatur spiegelt somit einen allgemeinen gesellschaftlichen Trend.
Was sind das für religiöse Themen?
Franz Winter: Das sind apokalyptische Szenarien, Geister und Dämonen, oder die Auseinandersetzung mit einem Bereich, der pauschal als das "Okkulte" - was im Japanischen übrigens als importiertes Fremdwort verwendet wird.
Ein häufiges Thema in Mangas ist Sexualität mit übersinnlichen Wesen, in so genannten "Hentais", also Porno-Mangas: Wie kommt man auf solche Ideen? Was bedeutet das?
Franz Winter: Hentai ist bei uns eine gebräuchliche Bezeichnung für alle pornografischen Mangas. Sie sind zahlenmäßig und in Bezug auf ihre Verbreitung schlecht erfasst; es ist aber von einem sehr hohen Verbreitungsgrad auszugehen, was ja auch mit dem Internet zusammenhängt. Hentai haben eigene Spezifika; allerdings geht es in erster Linie um explizite pornographische Darstellung, wohinter alle anderen Themen zurückstehen.
Wie etwa Tentakelmonster, die alles und jeden vergewaltigen?
Franz Winter: Ja. Das hat aber eine lange Darstellungstradition in Japan, etwa mit dem Oktopus. Damit umging man vermutlich das Verbot der expliziten Darstellung sexueller Handlungen. Diese Tradition hat sich in den Mangas fortgepflanzt. Das ist übrigens typisch für Mangas: Sie übernehmen oft klassische Darstellungsformen, die teilweise sehr alt sind und bilden ein neues Gewand für diese.
A propos Gewaltdarstellungen: Sie berichten in Ihrer Broschüre von Touristen in japanischen U-Bahnen, die schockiert waren, wenn sie sahen, was ihre Sitznachbarn so lasen.
Franz Winter: Ja, darüber wurde viel in westlichen Medien berichtet, insbesondere in den 1980er und frühen 1990er Jahren: Ein kleiner Junge blättert ein Manga durch und dort gab es massive Gewalt- und Sexdarstellungen, Vergewaltigungen. In dem Film Lost in Translation wird genau dies beispielsweise in einer kurzen Szene dargestellt. In Japan sind Gewaltdarstellungen viel präsenter und brutaler, im Westen gibt es dann bei der Übernahme der Manga oft eine Art Zensur, d.h. eine Anpassung an westliche Darstellungstraditionen, die diese Dinge nicht so kennen. Dazu ist anzumerken, dass es hier auch eine sehr ausführliche Diskussion in Japan gab, die zu einigen Verbesserungen und Änderungen auf dem Markt führte.
Zurück zur Religion: Sie schreiben von Elementen westlicher Esoterik, die in japanischen Mangas aufgenommen werden. Warum ausgerechnet Esoterik aus dem Westen?
Franz Winter: In den 1950er Jahren entstand in den USA die New Age-Bewegung mit einer Welle von Buchveröffentlichungen. Dies macht heute hier im Westen die wesentlichen Inhalte dessen, was man gemeinhin als "Esoterik" bezeichnet, aus. In Japan wurde die New Age-Bewegung in den 1970ern sehr stark rezipiert und bildete dort einen eigenen Komplex, den man meistens als "spirituelle Welt" (seishin sekai) bezeichnet. Darin finden sich verschiedene Themen, die meist mit bekannten Elementen der japanischen Religionstradition verknüpft werden, wie beispielsweise die Idee einer "überirdischen" Welt, die der "realen" gegenübersteht; die Frage, wie man mit dieser in Kontakt treten kann, wobei hier so genannte "Sonderkräfte" eine große Rolle spielen.
Viele kleine Mädchen in japanischen Mangas haben Sonderkräfte ...
Franz Winter: Diese Manga bilden ein eigenes Genre, die so genannten "Magical Girl"-Manga. Es entstand in den 1970ern und ist inzwischen fast ein Hauptgenre: Darin entdeckt ein Mädchen aufgrund der Begegnung mit der Geisterwelt, dass es übersinnliche Kräfte hat, und dass es diese Welt über der anderen Welt überhaupt gibt. Dies Mädchen wird oft als eher tollpatschig im täglichen Leben dargestellt, und ausgegrenzt. Und plötzlich wird es mit Zauberkräften ausgestattet. Das bekannteste Beispiel ist auch eines der international erfolgreichsten Manga: Sailor Moon, das in seiner Filmfassung in den 1990er Jahren zu einem Massenphänomen auch im Westen wurde.
Wie in dem Film Chihiros Reise ins Zauberland?
Franz Winter: Ja. Aber im Japanischen hat dieser Film einen anderen, nämlich deutlicheren Titel. Dort wird das Wort "kamikakushi" verwendet, und das bedeutet nicht "Reise", sondern "von den Göttern entführt". Dies ist auch eine lange Tradition in Japan, solche "Entführungen", das ist nicht erst ein Phänomen der Gegenwart. Das ist wieder ein typisches Beispiel für die Fortsetzung einer spezifischen Vorstellungstradition, wie sie in den Manga so oft begegnet.
Wiese tauchen solche Themen überhaupt in Mangas auf, wenn es doch gar keinen Religions-Boom gibt? Warum diese Auseinandersetzung?
Franz Winter: Mangas sind einerseits mit der Comickultur in den USA verbunden, andererseits mit den vielfältigen Erzähl- und Märchentraditionen in Japan. Es gibt einzelne Themenfelder, auf die ich mich in meiner Broschüre konzentriert habe: auf apokalyptische Szenarien, auf Geister und Dämonen, auf die Elemente aus der Esoterik des Westens, den ganzen Mix. Religiöse Begriffe und Themen dienen auch oft als Chiffre, sie sollen provozieren oder cool sein.
Cool sein? Religiöse Themen?
Franz Winter: Das ist eine pop-kulturelle Verwendung von Elementen aus der Religion. Was wirkt cool? Viele der religiösen Begriffe werden verwendet, aber nicht definiert. In vielen Mangas gibt es Anspielungen auf religiöse Themen, aber nicht in allen. Und dies sind oft nur Geschichten ohne Bezug auf religiöse Deutungsmuster. Und nun wird manch einer womöglich sagen: "Oh, davor muss ich meine Kinder schützen, da kommen komische Rituale und magische Dinge vor. Ist das vielleicht schädlich?" - Dies ist auch ein Thema in Japan, vor allem in den 1980ern und dann in den 1990ern nach dem Anschlag durch Mitglieder der Religionsgemeinschaft Aum Shinrikyo in der Tokyoter U-Bahn 1995, wo man die Mangakultur als Teil der Vorstellungswelt vieler Mitglieder wahrnahm und deren angebliche religiöse Desorientierung thematisierte.
Gibt es für Sie ein Fazit der Beschäftigung mit Religion und Mangakultur?
Franz Winter: Bei allen Problemfeldern muss man sich vor Augen halten, dass Manga vor allem eines wollen: unterhalten. Unter diesem Aspekt sollten sie auch gelesen werden, wenn sie noch so oft "ernste" Themen berühren.
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