Große Herausforderungen, kleinlicher Streit
Statt sich an die Details der Umsetzung zu machen oder gar die ehrgeizige Vision einer Bürgerkarte anzugehen, ergötzen sich Verbände und "Toll Collect"-geschädigte Medien bei der elektronischen Gesundheitskarte an fruchtlosen Debatten über Zeitpläne
Die elektronische Gesundheitskarte ist ihrer Realisierung einen großen Schritt näher gekommen: Auf der Computermesse CEBIT hat das vom Softwarehersteller IBM geführte Industriekonsortium bIT4health Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt die so genannte Telematikrahmenarchitektur übergeben, ein über tausendseitiges Dokument, das eine Art schematischer Bauplan für die künftige Kommunikationsinfrastruktur im deutschen Gesundheitswesen sein soll.
Die eGesundheitskarte: "Das größte IT-Projekt Europas"
In den meisten Medien wird das Projekt "Telematikinfrastruktur" unter dem Schlagwort "elektronische Gesundheitskarte" diskutiert, was nicht falsch, aber etwas unvollständig ist. Die eGesundheitskarte ist Teil eines angestrebten, deutschlandweiten Medizinnetzes, über das künftig möglichst alle Dokumente und irgendwann auch diagnostische Bilder und Filme elektronisch zugänglich gemacht werden sollen. Industriekreise sprechen bei dem Gesamtvorhaben gerne vom größten IT-Projekt Europas.
Die Gesundheitskarte stellt dabei genauso wie ihr Pendant auf Seiten der Ärzte und Apotheker, der elektronische Heilberufsausweis, eine Art Zugangsberechtigung zu diesem Medizinnetz dar. Nur in Verbindung mit der eGesundheitskarte des Patienten soll es den Angehörigen von Heilberufen künftig gestattet sein, auf medizinische Dokumente zuzugreifen, sofern der Patient damit einverstanden ist. Die elektronische Gesundheitskarte dient außerdem analog der bisherigen Krankenversichertenkarte als Träger administrativer Daten.
Die jetzt veröffentlichte Telematikrahmenarchitektur gibt den "Rahmen" vor, in dem sich künftige Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte bewegen sollen. Dazu zählen das sogenannte eRezept, das das bisherige Papierrezept ablösen soll, der elektronische Arztbrief sowie als höchste Ausbaustufe der Infrastruktur die elektronische Patientenakte. Vorgesehen ist außerdem eine Medizinfach genannte Miniakte, in der Notfalldaten, wichtige Diagnosen und die Arzneimittel dokumentiert werden sollen, die ein Patient einnimmt. Die Arzneimitteldokumentation soll unter anderem dazu dienen, computergestützte "Risikochecks" durchzuführen, um etwa die Liste der Erkrankungen mit der Liste der Medikamente im Hinblick auf mögliche Unverträglichkeiten hin abzugleichen oder um die eingenommenen Medikamente untereinander hinsichtlich möglicher Arzneimittelinteraktionen zu überprüfen.
Die administrativen Funktionen einschließlich des elektronischen Rezepts werden für alle 70 Millionen Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung verpflichtend sein. Die medizinischen Funktionen einschließlich der Dokumentation der Notfalldaten bleiben freiwillig.
Ziel ist eine flächendeckende Public Key Infrastruktur
Technisch sieht die Rahmenarchitektur ein dezentrales Servernetz vor, das von den Arztpraxen beziehungsweise Apotheken aus über getunnelte Internetverbindungen im Sinne eines Virtual Private Network zugänglich ist. Aus Sicherheitsgründen sollen die Rechner, die diese Tunnelung vornehmen, physisch getrennt sein von Rechnern, die herkömmliche Interverbindungen beziehungsweise Mailserver bedienen. Die Sicherheitsfunktionen einschließlich der kompletten Kryptografie werden innerhalb der Infrastruktur abgelegt, was unter anderem das Problem der Updates lösen soll.
Während der elektronische Heilberufsausweis von Anfang an als vollständige Signaturkarte mit der Möglichkeit zur qualifizierten elektronischen Signatur nach dem Deutschen Signaturgesetz konzipiert ist, ist das Ausmaß, in dem auch die Patientenkarte kryptografiefähig sein wird, noch umstritten. Weil der Patient Einblick in die über ihn gespeicherten Daten erhalten soll, ist perspektivisch daran gedacht, den Inhalt der Karte beziehungsweise der serverbasierten Akten von zuhause aus zugänglich zu machen, was einen Kartenleser erfordert. Solange der nicht vorausgesetzt werden kann, ist an kioskartige Leseterminals, etwa in Wartezimmern oder Apotheken, gedacht.
Server oder Karte, das ist hier die Frage
Zum jetzigen Zeitpunkt ist erst in Ansätzen geklärt, welche Dokumente im Servernetz abgelegt und durch die Gesundheitskarte über Pointer-Systeme zugänglich gemacht werden, und welche Dokumente direkt auf der Karte gespeichert werden. Weithin Einigkeit besteht, dass die elektronischen Patientenakten schon aus Speicherplatz-, aber auch aus Datenschutzgründen nicht auf die Karte kommen. Auch die Arztbriefe für die innermedizinische Kommunikation werden wohl eher auf Servern liegen, von denen sie dann nach Autorisierung durch den Patienten abgerufen werden können.
Umstritten war lange das elektronische Rezept, das im Rahmen der Tests in den nächsten anderthalb Jahren sowohl auf Karten als auch auf Servern gespeichert werden soll. Die Notfalldaten kommen wohl auf die Karte, bei der Arzneimitteldokumentation ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Was in Arztpraxen und Apotheken an Technik vorgehalten werden muss, hängt naturgemäß stark davon ab, wie viele Geschäftsprozesse über Server laufen. Die Rahmenarchitektur stellt hier Modellrechnungen an, die von einer im Alltag einer Arztpraxis realistischen, maximalen Antwortzeit von 3 Sekunden ausgehen, die in 98 Prozent aller Fälle eingehalten werden sollte. Unter diesen Bedingungen würde im Regelbetrieb eine ISDN-Leitung genügen, die allerdings schon bei der noch recht simplen Arzneimitteldokumentation zur Hälfte ausgelastet wäre (Rechnungen im Detail). Problematisch ist auch die Software, die in den Praxen und Apotheken vorgehalten wird und die nach ersten Schätzungen bei 25 bis 50 Prozent der Einrichtungen so veraltet ist, dass die Systeme für die Telematikinfrastruktur komplett ausgetauscht werden müssen.
Kosten: 1,4 Milliarden. Plus X
Der aktualisierte Zeitplan sieht vor, dass die Spitzenverbände von Krankenkassen, Ärzten, Krankenhausbetreibern und Apothekern sich bis Sommer auf die so genannte Lösungsarchitektur für die eGesundheitskarte und deren erste Anwendung, das eRezept, verständigen.
Mit dem Rezept anzufangen macht insofern Sinn, als sich damit mit einiger Sicherheit zügig Geld sparen lässt. Das sehen selbst die in Sachen Einsparen traditionell skeptischen Krankenkassen so, die im Moment pro Jahr deutschlandweit rund 600 Millionen Papierrezepte beackern. Hans Jürgen Ahrens, der Vorsitzende des AOK-Bundesverbandes und als solcher einer der mächtigsten Männer in der deutschen Kassenmedizin, ließ sich auf dem eHealth-Tag auf der CEBIT sogar zu der entfernt an Hilmar Koppers "Peanuts"-Zitat erinnernden Aussage hinreißen, zwar gehe man im Moment davon aus, dass die Einführung der eGesundheitskarte geschätzte 1,4 Milliarden Euro kosten werde, doch komme es auf die Zahl hinter dem Komma nicht so sehr an.
Großzügig bei den Kosten, kleinlich beim Zeitplan
Ab Anfang 2005 sollen Gesundheitskarte, elektronischer Arztausweis und eRezept dann in wahrscheinlich zwölf Bundesländern getestet werden. Mit der Serienproduktion der Karten, die auch ein Foto enthalten sollen, soll in der zweiten Jahreshälfte 2005 begonnen werden, um sie dann ab 1. Januar 2006 ausgeben zu können. Auch wenn Kassen und Ärzte im Großen und Ganzen hinter dem Projekt stehen, haben sie sich doch wie schon vorher erneut sehr skeptisch über diesen Zeitplan geäußert. Ahrens und viele seiner Verbandskollegen sehen eher ein Jahr 2007 oder 2008 für die Kartenausgabe.
Was Gesundheitsministerin Schmidt geritten hat, sich so präzise auf einen zumindest gewagten Starttermin festzulegen, wird ewig ihr Geheimnis bleiben. Mindestens genauso unverständlich sind aber viele Reaktionen aus den Reihen der Selbstverwaltung und auch der Medien, die dem Scheitern des Zeitplans, nicht des Projekts, mit kaum unterdrückter Schadenfreude entgegen zu fiebern scheinen.
Worin diese morbide Lust begründet liegt, kann man nur raten. Schmidts geringe Popularität seit ihrer (unterschätzten) Gesundheitsreform mag ein Grund sein. Die Erfahrungen mit Toll Collect ein anderer. Und ein dritter ist wohl innerhalb der Verbände des Gesundheitswesens zu suchen, die ihre eigenen Abstimmungsschwierigkeiten auf einen vermeintlich zu ehrgeizigen Zeitplan abwälzen. Denn abgesehen von den technischen und organisatorischen Problemen, die es noch zu lösen gilt - Aufbau der Serverinfrastruktur und der Public Key Architektur, Einsammeln der Fotos, Ausgabe der 70 Millionen Karten, Praxistests der Funktionalitäten -, sind jetzt vor allem die Verbände am Zug, die sich sichtbar schwer tun mit ihrer Verantwortung.
Technik ist das eine, doch (Verbands)Politik ist das eigentliche Problem
So hat es nach unbestätigten Gerüchten 34 Anläufe gebraucht, bis sich die Gremien der Selbstverwaltung endlich auf eine gemeinsame Pressemitteilung verständigt hatten, die sich unter anderem mit dem vom Ministerium vorgelegten Zeitplan auseinandersetzt. Auch besteht die latente Gefahr, dass Partikularinteressen einzelner Verbände die technische Ausgestaltung des Gesamtprojekts beeinflussen. So waren etwa die Apothekerverbände lange Zeit darauf fixiert, das elektronische Rezept ausschließlich auf der Gesundheitskarte selbst abzulegen. Eine solche Lösung würde den ungeliebten Online-Apotheken das Wasser abdrehen. Völlig unklar ist auch noch die Ausgestaltung des Trustcenter- und Zertifizierungsnetzwerks, das zumindest für die Ausgabe der Heilberufsausweise aufgebaut werden muss.
Streit innerhalb der Verbände gibt es auch über die Finanzierung des Projekts, sodass hier schon mal vorsorglich von allen Seiten nach dem Staat gerufen wird. Etwas überraschend kam auf der CEBIT das Angebot von IBM, die Telematikinfrastruktur vorzufinanzieren und sich das Geld dann analog zu anderen Kommunikationsnetzen über Transaktionsgebühren wieder herein zu holen. Angesichts der Tatsache, dass die geplante Infrastruktur auch gewartet werden muss, ist das sicher eine elegante Lösung, die allerdings die Verbände der Selbstverwaltung auch nicht davon befreit, sich einigen zu müssen, wer denn die Transaktionskosten übernimmt. All das soll in den nächsten Monaten passieren.
Die Gesundheitskarte als Wegbereiter des eGovernment in Deutschland?
Statt ständig Zeitpläne auf- oder in Frage zustellen, könnte man auch öffentlich darüber diskutieren, inwieweit es Sinn machen würde, die eGesundheitskarte als einen Wegbereiter für andere eGovernment-Projekte oder zusammen mit solchen zu konzipieren. Das ist zwar im Prinzip irgendwie angedacht, aber konkrete Schritte in diese Richtung sind bisher Fehlanzeige, wohl auch, weil das den Abstimmungsbedarf noch einmal erhöhen würde.
Angemessener öffentlicher Druck könnte das vermutlich ändern, denn das Projekt eGesundheitskarte ist wahrlich teuer genug, um Schritte zu rechtfertigen, die verhindern, dass das gleiche Rad auch noch einmal im Wirtschafts- und Innenministerium erfunden wird. Im Wirtschaftsministerium sind die Pläne für die Jobkarte schon recht weit gediehen, sodass am Rande der CEBIT das Jahr 2007 als Starttermin ins Gespräch gebracht wurde. Das Funktionsprinzip der Jobkarte, bei der es vor allem um die von den Arbeitgebern ausgestellten Arbeitsbescheinigungen geht, ist ziemlich deckungsgleich mit dem der eGesundheitskarte.
Die eigentliche Frage ist, in wie weit es Sinn machen könnte, die eGesundheitskarte von Anfang an als voll funktionsfähige Signaturkarte mit der Möglichkeit einer qualifizierten Signatur zu konzipieren. So wie die Gesundheitskarte im Moment geplant ist, muss sie zwar kryptografiefähig, aber, anders als der elektronische Heilberufsausweis, nicht voll signaturfähig sein. Auch die Jobkarte braucht per se keine qualifizierte Signatur, wohl aber weitergehende eGovernment-Anwendungen im Sinne elektronischer Verwaltungsakte, die allerdings in Deutschland noch in den Kinderschuhen stecken.
Lohnend scheint auf jeden Fall ein Blick ins Nachbarland Österreich, wo zu dieser Thematik ein interessanter Feldversuch läuft. Nach dem Desaster mit der ersten Runde des Projekts e-card - dem beauftragten Industriekonsortium wurde der Auftrag wegen Unfähigkeit wieder entzogen -, haben die Verantwortlichen es jetzt in veränderter Version wieder ausgeschrieben. Die ersten Tranchen wurden bereits vergeben.
Die Strategie ist in Österreich eine andere: Bereits 2005 sollen die rund vier Millionen Karten ausgegeben werden, die zunächst - abgesehen von den administrativen Funktionen einer in Österreich bislang unbekannten, herkömmlichen Krankenversichertenkarte - als reine Signaturkarten konzipiert sind. Auf diese sollen dann modulartig Chipkartenfunktionalitäten "aufgesteckt" werden können, seien es medizinische wie das eRezept, seien es Jobcard-ähnliche Lösungen oder Bürgerkartenmodule für Verwaltungsakte. Wenn es diese Karte wirklich im Jahr 2005 flächendeckend gibt, wird es interessant sein, zu beobachten, wie schnell potenzielle Nutznießer der Technologie (zum Beispiel Banken) auf den Zug aufspringen. Spätestens dann wird die Diskussion um eine voll signaturfähige Chipkarte auch in Deutschland geführt werden müssen.