Guter Ismus, schlechter Ismus
Von der unscharfen Abgrenzung zwischen Nationalismus und Patriotismus, dem Aufstieg Westdeutschlands nach 1945 und einem Vogelschiss (Teil 2)
Der zweite Teil dieser Serie behandelt die populäre, aber nicht haltbare Abgrenzung des "Patriotismus" vom "Nationalismus".
Nicht nur in Deutschland gibt es die öffentliche Sorge darüber, dass der Weg zur Vaterlandsliebe mit Tücken behaftet sei und auf Abwege führen könne. Deshalb besteht eine populäre Belobigung des Patriotismus darin, ihn vom sogenannten Nationalismus abzugrenzen. Dazu hat nicht nur die Schuljugend Definitionen dieser Art zu betrachten:
Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.
Ex-Bundespräsident Rau
Im Unterschied zum Nationalbewusstsein bzw. Nationalgefühl (…) ist Nationalismus die Überbetonung des nationalen Gedankens, besonders im Sinne machtstaatlichen Ausdehnungsbestrebens.
Brockhaus
Patriotismus wird heute allgemein vom Nationalismus abgegrenzt, insofern Patrioten sich mit dem eigenen Volk und Land identifizieren würden, ohne dieses über andere zu stellen.
Wikipedia
Der Patriotismus "orientiert sich primär am Staatswesen und unterscheidet sich vom Nationalismus, der sich stärker auf die Interessen eines Volkes oder einer Nation bezieht" (Bundeszentrale für politische Bildung). Das Bezeichnende dieser bemühten begrifflichen Abgrenzungen besteht nun darin, dass die Definitoren selbst wissen, wie unscharf sie sind. Wie nahe es also dem Patriotismus liegt, "andere Vaterländer zu verachten" – das Boulevardblatt Bild etwa spricht von den "Pleite-Griechen" –, die Interessen seines Landes "über andere zu stellen" – "Wir sind nicht der Zahlmeister der EU und nicht das Sozialamt der Welt" – oder "machtstaatliche Ausdehnungen" gutzuheißen, bei denen der deutsche Patriot eine "Wiedervereinigung" (mit der DDR) von einer "Annexion" (zum Beispiel der Krim) streng zu unterscheiden weiß.
Teil 1: Warum das Vaterland lieben?
Selbst das angeblich völkerverbindende Balltreten geht oft mit der Neigung von Fans einher, in den Torschüssen noch ganz andere Taten zu feiern und zu fordern.1 Wikipedia räumt daher ein: "Inwieweit dieser Unterschied (zwischen Patriotismus und Nationalismus) tatsächlich besteht und historisch wirksam wurde, ist in vielen Ländern umstritten." Und die Bundeszentrale meldet ernüchternd: "Die Übergänge sind allerdings fließend." Den definitorischen Grenzhütern bleibt daher nichts weiter übrig, als vor dem "fließenden Übergang" zu warnen – indem sie Unterschiede aufmachen, die keine sind.
Nationalstolz verpönt
Für eine Ausgeburt des schlechten, "übersteigerten" Nationalismus wird – zumindest seit und nach 1945 – ein dreizehnjähriger Abschnitt der deutschen Geschichte gehalten, der noch immer "bewältigt" werden will. Als "Vogelschiss" missbilligen ihn Landsleute, welche die nationale Ehre und ihren Patriotismus davon nicht befleckt sehen möchten. Sie und andere halten die Zeit für gekommen, dieses "dunkle Kapitel" im Namen Deutschlands zwar weiterhin zu bedauern, hauptsächlich aber abzuschließen. Kritische Autoren, die gegen solche Äußerungen von "falsch verstandener" Heimatliebe anschreiben2, entdecken in der deutschen Vergangenheit ein Sonderproblem, von dem sie meinen, es komme ihrer nationalpädagogischen Absicht in die Quere. Denn ein wenig können sie die kritisierten Patrioten sogar verstehen:
Die Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft brachte einen immensen Bedeutungsverlust des nationalen Patriotismus. (Dieser ...) bringt das Bedürfnis nach nationalem Prestige aber keineswegs zum Verschwinden. Es lebt fort, sieht sich an den Rand gedrängt, moralisch in Frage gestellt.
Das Zitat will sagen: Obwohl beziehungsweise weil wegen Hitler und der Folgen die Vaterlandsliebe einen "immensen Verlust" einstecken musste, hat sie sich keineswegs kleinlaut oder belehrt vom Acker gemacht, sondern existiert im "nationalen Prestigebedürfnis" weiter, das aber nicht auf seine Kosten kommt. Und dieses Bedürfnis – insbesondere bei den Schichten, die ihm als bildungsfern gelten –, ist dem Autor derart verständlich, dass er es keiner bildungsbürgerlichen oder sonst einer Kritik unterzogen sehen will:
Wem leistungsorientierte Aufstiegschancen verwehrt sind, kann im Nationalstolz ein Prestigebewusstsein gewinnen, das Schule und Beruf versagen. Eben dieses Prestigebedürfnis wird durch den weltbürgerlichen Antinationalismus der Bildungsschichten in Frage gestellt.
Reell gesehen, wäre den Mindest-, Billiglohn- und "Sozialtransfer"-Empfängern, die von der "Solidargemeinschaft" von Jugend an auf "Chancen" reduziert werden, ein bisschen vom "weltbürgerlichen Antinationalismus" anzuraten, der hier einem Teil der Bildungsbürger angedichtet wird. Aber der Autor wünscht sich offenbar selbst ein wenig den "aufgeklärten Patriotismus" herbei, von dem er und andere sich vielleicht "wegen und nach 1968" etwas abgekommen sehen:
Wer sich mit dem Nationalpatriotismus auseinandersetzen will, sollte daher zunächst das eigene Verhältnis zur Gemeinschaftsform Nation und ihrer geschichtlichen Gestalt in Deutschland klären.
Die Wortwahl verrät, dass gemeint ist, die Kritik des Nationalismus habe zuerst einmal Verständnis für ihn aufzubringen. Wer die Nation schlicht als "Gemeinschaftsform" begreift, gemeindet sich unausgesprochen in ihr ein und landet dabei, "den Begriff (Patriotismus) als die gefühlte Verpflichtung eines Individuums gegenüber der politischen Ordnung zu verstehen". Diesem "individuellen Gefühl" ist dann natürlich mit Bedacht zu begegnen, damit es nicht erschrocken in die Arme des Rechtspopulismus flüchtet. Eine "linke" These zum "Rechtsruck", die im Nationalismus die Folge davon sieht, dass sich der Patriotismus nicht ausleben darf.
"Verfassungspatriotismus"
Was solche Theorien derart falsch deuten, ist der Sache nach dies: Der eher schlechte Ruf des "Nationalismus" in Deutschland verdankt sich dem Umstand, dass sich die Bundesrepublik nach der bedingungslosen Kapitulation des Vorgängerstaats als Bündnispartner des "Westens" zu neuer Größe emporarbeiten musste. Dazu passte eine Gesinnung, die in den 1970er Jahren den Namen "Verfassungspatriotismus" (Habermas et al.) bekam, einfach besser. Denn sie diente einer staatlichen Imagepflege, der zufolge die Nation sich höheren Werten – zum Beispiel den Freiheits- und Menschenrechten3 – verpflichtet fühlt, als nur ihren Interessen und ihrer Macht. (Eine eingehende Analyse des Autors auf Telepolis hier).
Ein solches Selbstverständnis muss dem Nationalstolz einerseits nicht im Wege stehen, wie es eine Historikerin zeitgemäß vorführt. Sie und andere geben an, "stolz auf Deutschland wegen seiner Erinnerungskultur" zu sein: "Ich gehe jede Wette ein, dass eine Umfrage unter Verfassungspatrioten und Leitkulturpatrioten zu dem Ergebnis käme, dass Erstere wesentlich mehr (…) Goethe-Gedichte kennen als Letztere."
Andererseits sehen sich die seitens der Autorin dem "Mief des Leitkultur- und Fahnenpatriotismus" zugeordneten Nationalisten durch die genannte Relativierung immer auch schlecht bedient und verlangen ein ungebrochenes Verhältnis zum Vaterland. Der Erfolg Deutschlands als Führungsnation, der Bedeutungsverlust des "Westens" als Bündnissystem, die sog. Migrationskrise, die Perspektiven der EU - "Sachlagen" solcher Art können diesen Antrag dringlicher machen und ihm neue Spielräume eröffnen.
Die Entscheidung darüber, welcher Ismus sich gehört und welcher nicht, obliegt allerdings weder dem Zeitgeist noch den akademischen oder publizistischen Begriffsbestimmungen. Definitionshoheit hat auch hier die amtierende Staatsmacht. Der gemäß besteht "Nationalismus", vulgo "Rechtspopulismus", heutzutage hauptsächlich in einem Patriotismus, der das etablierte demokratische Getriebe und die durchgesetzte nationale Räson stört und gegebenenfalls zu ändern sucht.
Lesen Sie im dritten Teil etwas über die professionelle Pädagogik der Vaterlandsliebe.
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