HYPERTEXTUALITÄT IM WORLD WIDE WEB

Seite 4: Das Ende des Buches?

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Das World Wide Web verpflichtet nicht zur Hypertextualität. Die linearen Buchstrukturen sind im World Wide Web ohne weiteres abbildbar. Die meisten Texte, die sich gegenwärtig im Netz befinden, sind keine Hypertexte, sondern ganz normale Aufsätze und Bücher, die in HTML-Code konvertiert und ein wenig für das Netz überarbeitet wurden. Derzeit dient das World Wide Web in erster Linie dazu, Bücher und Aufsätze besser und schneller zugänglich zu machen. So ist es heute für einen mit dem Internet vertrauten Philosophen kein Problem mehr, sich die Werke von Immanuel Kant oder John Locke via World Wide Web auf den Bildschirm zu holen oder die Vorträge, die auf einer für ihn wichtigen Konferenz gehalten und im Netz publiziert wurden, einzusehen.

Demgegenüber stellt das eigentliche, dem neuen Medium angemessene Schreiben und Denken im Hypertext-Stil noch eine anspruchsvolle Zukunftsaufgabe dar. Schulen und Universitäten, Lehrer, Wissenschaftler und Autoren müssen darauf erst noch vorbereitet(18) werden. Es ist zu erwarten, daß die klassischen Texte der Tradition zu diesem Zweck langfristig auch als echte Hypertexte, d.h. als durch Links verbundene Gedankennetze, zugänglich gemacht werden. Das ist nicht so revolutionär und außergewöhnlich, wie es auf den ersten Blick erscheint. Bereits die antiken Texte(19) , die wir heute wie selbstverständlich in Buchform lesen, haben einen ähnlichen Medienübergang hinter sich. Sie wurden ursprünglich auf Papyrus-Rollen ohne Interpunktion, Seitenzählung und Inhaltsverzeichnis geschrieben und erst nachträglich in Buchform gebracht.

Nicht nur schriftliche Texte, sondern auch Bilder, d.h. eingescannte Fotografien oder Videos, spielen im World Wide Web eine wichtige Rolle. Auch sie fungieren dort zumeist nach traditionellem Muster, nämlich als eine Art Quasi-Referenz. Sie unterbrechen den Fluß der Verweisungen und stellen künstliche Endpunkte von Menüs, d.h. Sackgassen im Hyperraum dar. Es gibt jedoch auch geschicktere, dem Hypertext-Medium angemessenere Formen der Bildpräsentation auf dem Netz. Dabei werden verschiedene Bereiche des Bildes mit source anchors versehen, die auf jeweils unterschiedliche destination anchors verweisen. Das Bild funktioniert dann selbst wie ein Hypertext. Aktiviere ich einen Link innerhalb des Bildes, werde ich auf andere Bilder oder Texte verwiesen. Das Bild erscheint nicht länger als Referenz und Schlußpunkt eines Menüs, sondern wird selbst zu einem Zeichen, das auf andere Zeichen verweist. Ebenso wie die schriftlichen Hyptertexte dient das hypertextuelle Bild als semiotische Schnittstelle im unendlichen Verweisungsgefüge des Cyberspace.

Berücksichtigt man die interne Datenstruktur digitaler Bilder, dann wird deutlich, daß aus Pixeln zusammengesetzte Bilder in sich selbst Schriftcharakter haben. Mit den entsprechenden Editor-Programmen lassen sich die Elemente, aus denen das digitale Bild besteht, wie die Buchstaben einer Schrift austauschen, verschieben und verändern. Bilder werden so zu flexibel redigierbaren Skripturen. Im digitalen Modus verliert das Bild(20) seinen ausgezeichneten Status als Abbildung von Wirklichkeit. Es erweist sich als eine ästhetische Konstruktion, als ein technologisches Kunstwerk, dessen Semiotik sich intern aus der Relation der Pixel und extern durch die hypertextuelle Verweisung auf andere Dokumente ergibt.

Die pragmatische Beschränkung, thematische Rückbindung und zielgerichtete Strukturierung der schriftlichen und bildlichen Elemente des World Wide Web zu einem Verweisungsgefüge, das Antworten gibt, auf die Fragen, die man sich vor Beginn des Web-Browsing gestellt hat, ist als aktive Leistung vom Nutzer zu erbringen. Durch den schnell zu erlernenden Einsatz von Net-Search-Robots, d.h. automatischen Index-Programmen wie InfoSeek, Lycos, WebCrawler oder World Wide Web Worm sowie durch die Verwendung von Archivierungs- und Strukturierungswerkzeugen wie Bookmarks und Hotlists wird aus dem Netz-Newbie, dem zunächst das `lost in cyberspace` droht, im Laufe der Zeit ein souveräner Netz-Navigator. Der Netz-Navigator oder Cybernaut hat gelernt, sich in der rhizomatischen Flut von Hypertextlinks zurechtzufinden. Er weiß, daß es keinen Ursprungstext, kein `eigentliches` Dokument gibt, auf das alle anderen Dokumente zu beziehen wären. Er hat durchschaut, daß es auf dem Netz in erster Linie darum geht, aus den vielfältigen und verstreuten Textbausteinen(21) kleine Maschinen, kreative Textgestalten, sinnhafte Bilder zu formen.

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