HYPERTEXTUALITÄT IM WORLD WIDE WEB

Eine medienphilosophische Analyse

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Das World Wide Web mit seinen multimedialen Hypertextdokumenten verändert unsere Denk-, Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen tiefgreifend. Wir müssen erst lernen, uns im Geflecht der Hypertexte zurechtzufinden. Sandbote stellt die philosophischen Implikationen dieses neuen Mediums heraus.

Einleitung

Homepage von Mike Sandbothe

Im Zentrum des Internet steht heute die grafische Anwenderoberfläche des World Wide Web(1) Sie wurde 1989 von Tim Berners-Lee und Robert Cailliau am europäischen Laboratorium für Teilchenphysik CERN entwickelt. Die ersten PC-Versionen von NCSA (National Center for Supercomputing Application) unter dem Namen "Mosaic" vorgestellt. Der gegenwärtig am meisten verbreitete WWW-Browser "Netscape" wurde 1994 entwickelt. In die Browser-Programme sind die klassischen, textorientierten Internetdienste in graphisch überarbeiteter Form integriert.

Während diese klassischen Dienste von EMail und Talk über die Net News und Mailinglisten bis zum IRC(2) , den MUDs(3) und MOOs(4) am Modell linearer Textualität orientiert sind, vollzieht sich im World Wide Web der qualitative Übergang zur nicht-linearen Hypertextualität. Die semiotischen Veränderungen, die dieser Übergang mit sich bringt, werden deutlich, wenn man sich die klassischen Distinktionen in Erinnerung ruft, die unseren praktischen Umgang mit Zeichen bisher bestimmt haben.

Die klassische Trias: Bild, Sprache, Schrift

Traditionell(5) werden in der Philosophie Sprache und Schrift als abstrakte und arbiträre Zeichensysteme dem Bild als konkretem und natürlichem Abbildungsmedium entgegengesetzt. Dabei kommt dem Bild ein eigentümlich ambivalenter Status zu. Einerseits erscheint es in der von Platon bis Hegel reichenden Tradition als eine Nachbildnerei der Erscheinung(6) , d.h. als potenzierter Schein. Dem scheinhaften Bild werden dabei die vermeintlich scheinresistenteren Medien der Sprache und der Schrift gegenübergestellt. Andererseits fungiert das Bild im Hauptstrang der westlichen Tradition, in dem Erkennen als Abbilden und Wahrheit als adaequatio(7) gedacht wird, als positives Leitmodell.

Sprache wird seit Aristoteles als Werkzeug der arbiträren Bezeichnung von wirklichkeitsabbildenden mentalen Bildern(8) (Vorstellungen), die "bei allen Menschen dieselben sind", interpretiert. Entsprechend wird die Schrift zu einem tertiären Supplement degradiert. Als phonetische dient sie dieser Tradition zufolge dazu, die lautlichen Zeichen der gesprochenen Sprache zu materialisieren und speicherbar zu machen. Das Ideal, dem dabei Sprache und Schrift gleichermaßen unterworfen werden, ist das am Modell des Bildes abgelesene Verfahren einer adäquaten und interpretationsneutralen Wiedergabe(9) . Wo die Sprache und die Schrift dieses Ideal nicht zu erfüllen vermögen, geraten sie in die dem Täuschungsverdacht ausgesetzte Position, in der sich im X. Buch der platonischen Politeia das Bild befindet. Diese Konstellation hat Jacques Derrida in der Grammatologie(10) herausgearbeitet und zu dekonstruieren versucht.

In der von Derrida, Goodman, Rorty u.a. angestoßenen neueren Diskussion werden Bilder nicht länger in der Abgrenzung von Zeichen, sondern selbst als Zeichensysteme aufgefaßt, die nach dem Modell von Sprache und Schrift zu analysieren sind. Dabei werden jedoch häufig bestimmte traditionelle Voraussetzungen festgehalten. So wird zumeist angenommen, daß die Differenz zwischen sprachlichen, schriftlichen und piktorialen Zeichen eine Differenz(11) sei, die in der semantischen und/oder syntaktischen Struktur der jeweiligen Zeichensysteme begründet ist. Diesen Annahmen steht die auf den späten Wittgenstein zurückgehende These entgegen, daß ein Zeichen erst durch seinen Gebrauch(12) als Laut, als Buchstabe oder als Bild bestimmt wird. Gerade unter den Bedingungen einer Gebrauchstheorie des Zeichens wird dann allerdings von verschiedenen Autoren weiterhin darauf insistiert, daß es eine einheitliche Art und Weise der Verwendung von etwas als Bild, als Sprache oder als Schrift gebe. Dieser Ansicht liegt die Vorstellung zugrunde, daß bestimmte Merkmale des Gebrauchs namhaft zu machen seien, die alle `Bildspiele`, `Sprachspiele` bzw. `Schriftspiele` als Bildspiele, Sprachspiele bzw. Schriftspiele auszeichnen. Diese durchgängigen Merkmale sollen es erlauben, die unterschiedlichen Zeichenspiele intern einheitlich zu definieren und die verschiedenen Zeichensorten gebrauchstheoretisch(13) sauber voneinander zu scheiden.

Dem ist entgegenzuhalten, daß es bei einer konsequenten Durchführung der pragmatischen Gebrauchstheorie des Zeichens naheliegt, davon auszugehen, daß wir es jeweils mit komplexen Bündeln von Bild-, Sprach- und Schriftspielen zu tun haben, die auch auf der gebrauchstheoretischen Ebene kein einheitliches Merkmal aufweisen, das allen Elementen der jeweiligen Menge gemeinsam ist. Bereits Wittgenstein hat zur Beschreibung komplexer Verflechtungsverhältnisse dieser Art die Metapher der Familienähnlichkeiten(14) eingeführt.

Zur internen Verflechtung von Bild, Sprache und Schrift kommt die externe Verflechtung, die das Verhältnis der drei Zeichensorten zueinander bestimmt. So wenig ein durchgehendes Wesensmerkmal aufzeigbar ist, das Bilder als Bilder, Sprache als Sprache und Schrift als Schrift definiert, so wenig lassen sich feste Trennungslinien zwischen den unterschiedlichen Zeichentypen fixieren. Bilder, Laute und Buchstaben sind immer relativ auf und in Abhängigkeit von den Medien im engsten Sinn, die den Rahmen ihres Gebrauchs abstecken, voneinander abgegrenzt bzw. miteinander verflochten. Das bisherige Mediensystem, in dem audiovisuelle Medien und Printmedien deutlich voneinander geschieden waren, legte strikte Grenzziehungen zwischen den Zeichensorten nahe. Das multimediale Zeichengeflecht des World Wide Web(15) hebt diese Trennungen auf und definiert die Relationen neu.

Das digitale Zeichengeflecht des Hypertext

Bevor ich auf das für das World Wide Web charakteristische Geflecht von Bild, Sprache und Schrift zu sprechen komme, möchte ich vorweg noch einmal kurz auf die textorientierten Chat-Programme (IRC, MUDs, MOOs) zurückkommen. Die Chat-Programme haben sich unabhängig vom World Wide Web entwickelt, werden aber zunehmend ins Web integriert.

In den Chat-Programmen fungiert die Schrift als Medium der direkten synchronen Kommunikation zwischen Gesprächspartnern, die physisch getrennt sind und sich im Regelfall noch nie zuvor gesehen haben. Die dem Schriftmedium des Buches eigene Anonymität verbindet sich im "Chat" mit der synchronen Interaktivität und der aktuellen Präsenz der Gesprächspartner, die als charakteristisch für die gesprochene Sprache in der Face-to-face-Kommunikation gilt. In der Computer Mediated Communication der Chat-Programme verflechten sich demnach Merkmale, die bisher als Differenzkriterien(16) zur Unterscheidung von Sprache und Schrift dienten. Der Gebrauch von geschriebenen Zeichen im Kontext des neuen Mediums Internet führt folglich zu einer Veränderung im System der Zeichen insgesamt. Die Übergänge zwischen Sprache und Schrift werden fließend. Die traditionelle Auszeichnung der gesprochenen Sprache als Medium der Präsenz wird problematisch. Die Schrift erfährt eine Rehabilitierung.

Die zeichentheoretischen Konsequenzen, die sich aus den kulturellen Praktiken ergeben, die auf dem World Wide Web insgesamt entstehen, sind komplexer als die beschriebenen Effekte im Bereich der Chat-Programme. Indem das World Wide Web die textorientierten Chats in sich integriert, nimmt es einerseits die durch diese Dienste ermöglichte sprachanaloge Verwendungsweise von Schrift auf. Andererseits aber wird Schrift in den für das World Wide Web charakteristischen Hypertext-Dokumenten am Leitfaden des Bildes neu organisiert.

Die den Kernbereich des World Wide Web ausmachenden Hypertextdokumente(17) können mittels der einfachen Auszeichnungssprache HTML (HyperText Markup Language) so strukturiert werden, daß der Text nicht eine fixe lineare Sequenz darstellt, sondern als ein aktiv zu gestaltendes Geflecht von Textbausteinen funktioniert. Jeder Textbaustein enthält eine Vielzahl anklickbarer Stichworte, Piktogramme und Bilder: die sogenannten Links. Diese einfach anzulegenden und flexibel veränderbaren Schnittstellen verbinden die Textbausteine zu einem komplexen Netzwerk. Die Hypertext-Technologie hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Schreiben und Lesen von Texten.

Jeder Leser hinterläßt bei der Lektüre seine eigene Spur im Text. Oder besser: jeder Leser komponiert den Gegenstand seiner Lektüre durch aktive Selektion der vorgegebenen Links. Die individuelle Rezeptionsperspektive bestimmt die Abfolge der Textbausteine. Lesen ist nicht länger ein passiver Vorgang der Rezeption, sondern wird zu einem Prozeß der kreativen Interaktion zwischen Leser, Autor und Text.

Auch das Schreiben von Texten verändert sich. Schreiben wird zu einer produktiven Vernetzung assoziativer Komplexe. Die vielfältigen Beziehungen, die zwischen den verschiedenen Gedankengängen bestehen, die der Schreibende entwickelt, lassen sich durch Hyperlinks festhalten und repräsentieren. Während der lineare Buch- oder Aufsatztext die komplexen Verflechtungsverhältnisse, die zwischen unseren Gedanken bestehen, künstlich linearisiert und in eine hierarchische Ordnung zwingt, erlaubt der Hypertext eine direkte Darstellung derjenigen Strukturen und Zusammenhänge, die im Buch nachträglich und unzulänglich durch Fußnotenverweise und Indices rekonstruiert werden.

Unter Hypertextbedingungen werden Schreiben und Lesen zu bildhaften Vollzügen. Der Schreibende entwickelt ein netzartiges Gefüge, ein rhizomatisches Bild seiner Gedanken. Dieses Bild ist vielgestaltig und komplex. Es besteht aus einer Pluralität unterschiedlicher Pfade und Verweisungen, die der Lesende zu neuen Gedankenbildern formt, die sich aus dem Zusammenspiel zwischen der offenen Struktur des Textes und den Interessen und Perspektiven des Lesenden ergeben.

Zugleich ist der Schreibende im Medium des Hypertextes nicht mehr in der Position des Allwissenden. Während der traditionelle Autor für das geschlossene System des von ihm geschriebenen Buches oder Aufsatzes allein verantwortlich zeichnet, vollzieht sich das hypertextuelle Schreiben und Denken in unmittelbarer Interaktion mit dem Schreiben und Denken anderer Menschen. Da prinzipiell jede im Internet zugängliche Datei als Textbaustein in das eigene Schreiben integriert werden kann, sind die Interaktionsmöglichkeiten unendlich. Das Verweisungssystem ist grenzenlos. Man könnte sagen, daß es sich beim World Wide Web insgesamt um einen einzigen großen Hypertext handelt, der sich in permanenter Veränderung, in ständiger Bewegung befindet.

Durch das hypertextuelle Datengeflecht des World Wide Web wird es möglich, die Dynamik der Wissenstransformation, die für die moderne Wissenschaft charakteristisch ist, im elektronischen Medium unmittelbar zu spiegeln. Das Medium des Buches und die damit verbundenen Verlagsinstitutionen des Buchmarktes können der sich exponentiell steigernden Dynamik des Wissens schon lange nicht mehr gerecht werden. Der zeitliche Abstand zwischen der Niederschrift eines Textes und seiner Publikation durch den Verlag beträgt mehrere Monate oder sogar Jahre. Diese Zeitkluft wird durch das unmittelbare Publizieren im Netz überwunden. Es ist sogar möglich, im Netz selbst an einem Buch oder einem Aufsatz zu arbeiten. Dann vollzieht sich bereits die Entstehung des Textes im Modus der Öffentlichkeit, d.h. in enger Kooperation mit anderen Netznutzern, die sich mit ihren Kommentaren in das work in progress einschalten.

Das Ende des Buches?

Das World Wide Web verpflichtet nicht zur Hypertextualität. Die linearen Buchstrukturen sind im World Wide Web ohne weiteres abbildbar. Die meisten Texte, die sich gegenwärtig im Netz befinden, sind keine Hypertexte, sondern ganz normale Aufsätze und Bücher, die in HTML-Code konvertiert und ein wenig für das Netz überarbeitet wurden. Derzeit dient das World Wide Web in erster Linie dazu, Bücher und Aufsätze besser und schneller zugänglich zu machen. So ist es heute für einen mit dem Internet vertrauten Philosophen kein Problem mehr, sich die Werke von Immanuel Kant oder John Locke via World Wide Web auf den Bildschirm zu holen oder die Vorträge, die auf einer für ihn wichtigen Konferenz gehalten und im Netz publiziert wurden, einzusehen.

Demgegenüber stellt das eigentliche, dem neuen Medium angemessene Schreiben und Denken im Hypertext-Stil noch eine anspruchsvolle Zukunftsaufgabe dar. Schulen und Universitäten, Lehrer, Wissenschaftler und Autoren müssen darauf erst noch vorbereitet(18) werden. Es ist zu erwarten, daß die klassischen Texte der Tradition zu diesem Zweck langfristig auch als echte Hypertexte, d.h. als durch Links verbundene Gedankennetze, zugänglich gemacht werden. Das ist nicht so revolutionär und außergewöhnlich, wie es auf den ersten Blick erscheint. Bereits die antiken Texte(19) , die wir heute wie selbstverständlich in Buchform lesen, haben einen ähnlichen Medienübergang hinter sich. Sie wurden ursprünglich auf Papyrus-Rollen ohne Interpunktion, Seitenzählung und Inhaltsverzeichnis geschrieben und erst nachträglich in Buchform gebracht.

Nicht nur schriftliche Texte, sondern auch Bilder, d.h. eingescannte Fotografien oder Videos, spielen im World Wide Web eine wichtige Rolle. Auch sie fungieren dort zumeist nach traditionellem Muster, nämlich als eine Art Quasi-Referenz. Sie unterbrechen den Fluß der Verweisungen und stellen künstliche Endpunkte von Menüs, d.h. Sackgassen im Hyperraum dar. Es gibt jedoch auch geschicktere, dem Hypertext-Medium angemessenere Formen der Bildpräsentation auf dem Netz. Dabei werden verschiedene Bereiche des Bildes mit source anchors versehen, die auf jeweils unterschiedliche destination anchors verweisen. Das Bild funktioniert dann selbst wie ein Hypertext. Aktiviere ich einen Link innerhalb des Bildes, werde ich auf andere Bilder oder Texte verwiesen. Das Bild erscheint nicht länger als Referenz und Schlußpunkt eines Menüs, sondern wird selbst zu einem Zeichen, das auf andere Zeichen verweist. Ebenso wie die schriftlichen Hyptertexte dient das hypertextuelle Bild als semiotische Schnittstelle im unendlichen Verweisungsgefüge des Cyberspace.

Berücksichtigt man die interne Datenstruktur digitaler Bilder, dann wird deutlich, daß aus Pixeln zusammengesetzte Bilder in sich selbst Schriftcharakter haben. Mit den entsprechenden Editor-Programmen lassen sich die Elemente, aus denen das digitale Bild besteht, wie die Buchstaben einer Schrift austauschen, verschieben und verändern. Bilder werden so zu flexibel redigierbaren Skripturen. Im digitalen Modus verliert das Bild(20) seinen ausgezeichneten Status als Abbildung von Wirklichkeit. Es erweist sich als eine ästhetische Konstruktion, als ein technologisches Kunstwerk, dessen Semiotik sich intern aus der Relation der Pixel und extern durch die hypertextuelle Verweisung auf andere Dokumente ergibt.

Die pragmatische Beschränkung, thematische Rückbindung und zielgerichtete Strukturierung der schriftlichen und bildlichen Elemente des World Wide Web zu einem Verweisungsgefüge, das Antworten gibt, auf die Fragen, die man sich vor Beginn des Web-Browsing gestellt hat, ist als aktive Leistung vom Nutzer zu erbringen. Durch den schnell zu erlernenden Einsatz von Net-Search-Robots, d.h. automatischen Index-Programmen wie InfoSeek, Lycos, WebCrawler oder World Wide Web Worm sowie durch die Verwendung von Archivierungs- und Strukturierungswerkzeugen wie Bookmarks und Hotlists wird aus dem Netz-Newbie, dem zunächst das `lost in cyberspace` droht, im Laufe der Zeit ein souveräner Netz-Navigator. Der Netz-Navigator oder Cybernaut hat gelernt, sich in der rhizomatischen Flut von Hypertextlinks zurechtzufinden. Er weiß, daß es keinen Ursprungstext, kein `eigentliches` Dokument gibt, auf das alle anderen Dokumente zu beziehen wären. Er hat durchschaut, daß es auf dem Netz in erster Linie darum geht, aus den vielfältigen und verstreuten Textbausteinen(21) kleine Maschinen, kreative Textgestalten, sinnhafte Bilder zu formen.

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