Haben Medien eine Adresse?

Eine Aufsatzsammlung als Werkzeugkasten für die Betrachtung von Medien

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Irgendein Mann geht an irgendeiner Telefonzelle in New York vorbei. Es klingelt. Und er nimmt ab. Zufällig beobachtet das der amerikanische Ethnologe Edmund Carpenter und beginnt Anfang der Siebziger Jahre mit Experimenten: Er notiert sich die Nummern öffentlicher Telefone am Kennedy Airport und der Grand Central Station und ruft dort zu willkürlichen Zeiten an. Fast immer geht jemand ans Telefon. Warum? "Weil es geläutet hat!", antworten die meisten. Das Medium ist offensichtlich die Botschaft. Es läutet, also nimmt man ab - auch wenn man nicht der Adressat dieses Anrufs sein kann.

Ähnliches vollzieht jeder Mensch beim Adressieren einer Email. Nur scheinbar sagen die Adressangaben george@whitehouse.com etwas über George, seinen Arbeitsplatz und sein Heimatland aus. Wohin die Email geht, weiß der Absender nicht - das entscheidet ein Domain Name Server, der die Buchstaben in Zahlenfolgen umrechnet und dann die Botschaft zum Bestimmungsort leitet. Das Medium hat dem Subjekt die Relevanz abgeluchst. Nimmt man das als gegeben an, eröffnet sich ein neues Problem: Was ist eigentlich das Medium?

An einzelne Postämter kann man sich wenden, aber nicht an das Medium Post. Es hat keine Adresse, weil es "alle Adressen in sich hat", weil es das ist, "was Adressen möglich macht", wie der Medientheoretiker W. J. T. Mitchell schreibt. Der Glaube, Individuen adressieren zu können, ist ebenso Fiktion wie jener an die Adressierbarkeit des Mediums selbst.

Bevor sich die Wissenschaft also an einer ebenso dringenden wie fruchtlosen Definition des Medienbegriffs versucht, muss sie über "Die Adresse des Mediums" sprechen, wie Stefan Andriopoulos, Gariele Schabacher und Eckhard Schumacher ihre Aufsatzsammlung überschreiben, die eben dies versucht. Das Buch ist ein Werkzeugkasten mit sehr verschiedenen Thesen und Texten - das Spektrum reicht von einer technischen Beschreibung der Adresserierungsmethoden im Internet bis zu einer Beschreibung des Kinomatographen "als Ereignis experimenteller Psychologie um 1900".

Wie sinnvoll und lohnenswert jedoch die Klammer ist, die all dies zusammenhält, veranschaulicht Mitchells Beitrag "Der Mehrwert der Bilder". Er ist Einleitung und Schlusswort zugleich, obwohl er in der Mitte des Buches versteckt wird. Mitchell zeigt, dass die beiden Probleme der Adressierbarkeit von Medium und Subjekt eigentlich eines sind: "Wir denken nicht nur über Medien nach, wir denken in ihnen." Niklas Luhmanns Urteil folgend, Kommunikation sei nur durch Kommunikation in ihre Elemente aufzulösen, ziehen die Herausgeber zuvor das Fazit, dass "Medien nur durch Medien, und zwar durch vorzugsweise andere Medien in ihre Elemente auflösbar werden."

Mitchell geht mit seiner Schlussfolgerung noch etwas weiter: "Es gibt keine privilegierte Metasprache über Medien in der Semiotik, Linguistik oder Diskursanalyse. Unsere Beziehung zu Medien ist eine der gegen- und wechselseitigen Konstitution: Wir erschaffen sie und sie erschaffen uns." Das ist eine Fortentwicklung von Luhmanns Theorie der Kommunikation als "gemeinsamer Aktualisierung von Sinn", die das Entstehen und das Fortbestehen sozialer Systeme möglich macht.

Mitchell beschreibt die konkrete Sinnstiftung durch Bilder: " . . . Menschen bilden ihre kollektive, historische Identität, indem sie um sich herum eine zweite Natur erschaffen, die aus Bildern besteht, welche nicht bloß die Werte reflektieren, die von ihrem Machern bewusst intendiert sind, sondern die neue Wertformen zurückstrahlen, welche sich im kollektiv politischen Unbewussten ihrer Betrachter bilden."

Diese Interdependenz von Medium und Subjekt veranschaulicht Mitchell an einem Bild aus den "Illustrated London News" von 1854. Eine Abendgesellschaft feiner, bürgerlicher Herren diniert im offengelegten Bauch eines Dinosauriers. Dieses Bild zeigt uns das 20. Jahrhundert: Geburt der Moderne aus dem und ihre Umschlungenheit vom Archaischen, Gewalt des neo-darwinistischen, scheinbar natürlichen Kapitalismus, Massenvernichtung und Genozid. Schaffen wir diese Bilder oder diese Bilder uns? Mitchell zeigt, wie fruchtbar die in diesem Band vorgeschlagene Perspektive der Adressierung sein kann, etwa, wenn sie eine Analyse der "sozialen, dialogischen und dialektischen" Beziehung von Bild und Betrachter ermöglicht.

Stefan Andriopoulos, Gabriele Schabacher, Eckhard Schumacher: Die Adresse des Mediums. DuMont Verlag, Köln 2001. 282 Seiten, 39,80 Mark.