Hätte, hätte Lieferkette: Wie sich Ausbeuter vor Verantwortung drücken
Eine Studie zeigt auf, wie Lobbyisten Maßnahmen gegen Menschenrechts- und Umweltschutzverstöße der Industrie hintertreiben und die EU-Kommission dabei Pate steht
Der Weg zu einem wirksamen Lieferkettengesetz in der Europäischen Union ist steinig – beziehungsweise vermint durch Lobbyisten, die genau das verhindern wollen. Leider mit Erfolg: Nach den am Mittwoch vorgestellten Ergebnissen einer Studie dreier zivilgesellschaftlicher Organisationen haben Industrievertreter folgenschweren Einfluss auf einen seit zwei Jahren laufenden Prozess genommen, dessen ursprünglicher Anspruch es war, europäische Konzerne und Unternehmen zur Einhaltung von Menschenrechten sowie örtlichen Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards in ihren Fertigungsländern zu verpflichten.
Gemessen daran ist der im Februar durch die EU-Kommission eingebrachte Entwurf für ein entsprechendes Regelwerk kaum mehr als ein Papiertiger. Die Vorlage weise "verdächtig viele Schlupflöcher" auf, biete "zahlreiche Möglichkeiten, sich der Haftung zu entziehen" und habe die Pflichten von Unternehmern "enorm" begrenzt, erklärte der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) am Mittwoch in einer Pressemitteilung. Außerdem seien wesentliche Teile der Wertschöpfungskette ausgenommen und die Gruppe derer, die unter das Gesetz fallen, "deutlich dezimiert".
Reichweite: ein Prozent
Das ist noch diplomatisch formuliert. Aus dem Report mit dem Titel "Inside Job" geht hervor, dass der Geltungsbereich der Vorlage sich auf rund ein Prozent aller EU-Unternehmen beschränkt – und zwar allein auf solche mit mehr als 500 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von mehr als 150 Millionen Euro. Sämtliche kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) bleiben außen vor und könnten auch nach Beschluss der Vorlage ihre mithin Mensch und Natur ausbeutenden Geschäfte unbehelligt weiterverfolgen.
"Es ist erschreckend, wie erfolgreich die europäische Wirtschaftslobby in ihrem Ziel war, die eigene Verantwortung für den Schutz der Umwelt und der Menschenrechte zu schwächen", kommentierte BUND-Geschäftsführerin Antje von Broock. Neben ihrem Verband waren an den Recherchen das Umweltnetzwerk Friends of the Earth Europe (FoEE) sowie das Corporate Europe Observatory beteiligt, das sich mit lobbyistischen Umtrieben in Brüssel und Straßburg befasst.
"Mit ganzer Kraft gegen die Gesetzesvorlage eingesetzt" haben sich nach den Befunden die Wirtschaftsverbände BusinessEurope, Eurochambres sowie Dansk Industri (DI), die dazu mit "voller Unterstützung der dänischen Regierung" gegen allzu weitreichende Eingriffe in die unternehmerische Freiheit interveniert hätte.
Das deutsche Gesetz ist zahnlos
Dabei war die Ausgangslage 2020 noch ermutigend gewesen und erschien das Vorhaben lange Zeit ziemlich ambitioniert. Im Unterschied etwa zum gleichgelagerten deutschen "Sorgfaltspflichtengesetz", das im Juni 2021 vom Bundestag beschlossen wurde und 2023 in Kraft treten soll, ließen die ersten Vorstöße der EU-Bürokratie auf einen nachgerade großen Wurf hoffen. Rückblickend war der deutsche Weg aber wohl doch nur "Vorbild" für ein ähnlich schlechtes Pendant für ganz Europa.
Denn auch in Berlin tummeln sich massenhaft Lobbyisten, die das anfänglich vielversprechende Projekt in ihrem Sinne entkernen konnten. Die deutsche Regelung greift erst bei Unternehmen mit 3.000 Beschäftigten (1.000 ab 2024), verweigert Betroffenen Schadensersatzansprüche und fokussiert einseitig auf Menschenrechtsverstöße im Produktionsprozess.
Nur sobald ein solcher nachweislich vorliegt, können ergänzend Umwelt- und Klimaaspekte berücksichtigt werden. Für sich allein betrachtet, gelten diese allerdings nicht anzeigens- und verfolgungswürdig. Die Bestimmungen wirken so fast wie ein Freibrief, weiter ungestraft Böden, Grundwasser und Flüsse zu verseuchen oder Wälder abzuholzen.
Bollwerk gegen Regulierung
Aber wie setzen die "Einflussagenten" der Wirtschaft ihre Agenda ins Werk? Und auf welchem Wege wurden die anfangs weitreichenden Vorsätze der EU bis zur Unkenntlichkeit verwässert? Laut Studie lässt sich das nicht allein durch die Einflüsterungen von externen Industrieabgesandten – etwa bei eigens ausgerichteten Tagungen oder informellen Treffen mit politischen Entscheidern – erklären. Vielmehr gibt es den Autoren zufolge mit dem "Regulatory Scrutiny Board" (RSB) eine Schlüsselinstitution im Inneren des EU-Apparats – deshalb "Inside Job" –, auf die Lobbyisten gezielt eingewirkt hätten, um das Gesetz abzuschwächen.
Gemäß der Darstellung ist das RSB ein undurchsichtiger und industrienaher Ausschuss, der sich aus nicht gewählten Beamten zusammensetzt und den die Kommission als "Bollwerk gegen Vorstöße" installiert habe, "die Wirtschaft im Interesse der Öffentlichkeit zu regulieren". Dabei operiere das Gremium unter der Vorgabe, dass neue EU-Vorschriften die Wettbewerbsfähigkeit von europäischen Unternehmen nicht beeinträchtigen dürfen. Damit wird praktisch jede politische Grenzziehung für unternehmerisches Handeln – und sei dieses ethisch noch so verwerflich – per se zum No-Go.
Flucht nach Afrika
Nach dieser Logik wäre dann auch eine Verpflichtung zu Sicherheitsvorkehrungen gegen Katastrophen wie den Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch, bei dem 2013 über 1.100 Näherinnen und Näher ihr Leben verloren, eine ungebührliche Einmischung in die unternehmerische Freiheit. An dem besagten Unglück tragen eine ganze Reihe westlicher Modelabels zumindest indirekt eine Mitschuld, indem sie die erbärmlichen Arbeits- und Produktionsbedingungen ihres Zulieferers stillschweigend tolerierten.
Wenngleich die Diskussion um eine unternehmerische Verantwortung für Menschenrechts- und Umweltschutzverstöße entlang der gesamten Wertschöpfungskette mit dieser Tragödie erst richtig in Gang kam, hat sich in der Praxis bis heute kaum etwas zum Besseren verändert. Weil die Massenproduktion der Textilriesen im fernen Asien plötzlich über Nacht in Verruf geraten war, machten sich viele Unternehmen nach Afrika davon, um dort unter noch elenderen Zuständen und mit noch billigeren Arbeitskräften produzieren zu lassen.
Bock zum Gärtner gemacht
Das RSB und mit ihm die EU-Kommission agieren faktisch als eine Art Schutzpatron für solche Machenschaften. Laut Studie zeigen zahlreiche Mails, Briefe und Dokumente detailliert auf, wie die Wirtschaftslobby den EU-Ausschuss als Verstärker ihrer Interessen instrumentalisierte.
Beispielsweise habe das Kontrollorgan zweimal Entwürfe der EU-Kommission zum EU-Lieferkettengesetz zurückgewiesen und die Präsentation der finalen Vorlage "um mindestens acht Monate verzögert". Dabei kam dann zum Beispiel heraus: Unternehmen sollen zwar einen Plan zur Reduktion ihrer Klimagasemissionen erstellen, werden aber nicht verpflichtet, diesen auch umzusetzen.
"Auf Wirtschaftslobbys zu hören, wenn es um Regeln für eine verbindliche Konzernverantwortung geht, ist wie den Hund auf die Wurst aufpassen zu lassen", bemerkte am Mittwoch Stefan Grasgruber-Kerl von der österreichischen Menschrechtsorganisation Südwind. In einer Medienmitteilung im Vorfeld des Welttags gegen Kinderarbeit am 12. Juni verwies er auf Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und des Kinderhilfswerks Unicef, wonach "weltweit knapp 160 Millionen Buben und Mädchen" zu arbeiten genötigt seien.
Solange den Verantwortlichen keine rechtlichen Konsequenzen drohten, "wird die Ausbeutung von Kindern weiterhin ihren Weg in unsere Supermarktregale finden". Gerade weil die nationale Gesetzgebung gegen Kinderarbeit in vielen Ländern nicht durchsetzungsfähig sei, komme internationalen Regelwerken eine "besonders große Bedeutung" zu, so Grasgruber-Kerl. Sein Appell: "Die Politik muss beim Schutz der Menschenrechte klare Kante zeigen und darf nicht auf Ausreden und Drohgebärden von Lobbyisten hereinfallen."
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