Haiti: Unabhängigkeit darf keine Erfolgsgeschichte sein

Französischer Soldat stößt einen schwarzen Soldaten ins Meer. Bild (1805): Marcus Rainsford / CC BY-SA 4.0

Wie man ein Land im Elend hält: Das Scheitern des Staates in Haiti und die Rolle der USA und Frankreich. Das sind die Hintergründe.

Vor fast einem Jahr, am 7. Juli 2021 um 01:00 Uhr Ortszeit wurde der haitianische Präsident Jovenel Moïse in Port-au-Prince ermordet. Seitdem befindet sich das Land in "Aufruhr". Bewaffnete Gangs kämpfen um die Vorherrschaft, während es der Bevölkerung immer schlechter geht.

Warum es der ehemaligen Kolonie so schlecht geht? Letztes Wochenende veröffentlichte die New York Times eine ausführliche Geschichte des Inselstaates und verfolgte das Elend der haitianischen Bevölkerung bis zu seiner Gründung zurück. Die ehemaligen Kolonialmächte -und später die USA- wollten nicht zulassen, dass Haitis Weg in die Unabhängigkeit eine Erfolgsgeschichte wird. Denn einst hatten genau hier versklavte Menschen das Undenkbare getan: Europa herausgefordert und gesiegt.

Natürlich ging es der Kolonialmacht Frankreich vornehmlich ums Geld, genauer gesagt um Ausbeutung. Das war am offensichtlichsten als Haiti noch der größte Hort der Sklaverei in der Karibik war. Die Haitianische Revolution und der darauffolgende Kampf um Unabhängigkeit wird von westlichen Geschichtsschreibern und Politikexperten oft übergangen, vielleicht weil die Französische Revolution diesen Platz in den Geschichtsbüchern ausfüllt.

Aber vielleicht auch, weil sie nicht leicht in europäische Revolutionsnarrative einzuordnen ist, weder in das liberale aufklärerische Ideal, das Napoleon in Form des Code Napoleon durch ganz Europa trug, noch in das marxistische. Denn für eine marxistische Revolution braucht es erst einmal ein Proletariat, und ein solches setzt ein Lohnarbeitsverhältnis voraus.

Die Haitianische Revolution jedoch begann mit dem Aufstand der verschleppten versklavten Afrikaner:innen und deren Nachfahren gegen ihre französischen "Besitzer".

Damit brachten die nun freien Sklaven die europäische Welt in eine Zwickmühle. Ausgerechnet Napoleon, der sich zwar selbst als Aufklärer betrachtete, in erster Linie aber als Eroberer verstand, sandte rasch Truppen nach Haiti, um den Vorposten des französischen Empire zu bewahren.

In der Schlacht um Batay Vètyè, die letzte große Schlacht der haitianischen Revolution, schlugen die haitianischen Streitkräfte am 18. November 1803 die französischen Expeditionsstreitkräfte des Napoleons und konnten so ein Jahr später ihre Unabhängigkeit erklären.

Inwiefern die Haitianische Revolution die Vordenker der Aufklärung (angeblich Hegel) beeinflussten, oder selbst von Spinoza und Co. beeinflusst waren, wird immer noch diskutiert. Was feststeht ist, dass sich die siegreichen, inzwischen freien Bürger Haitis, immer noch der geballten Übermacht des französischen Empire gegenübersahen.

Die Rolle des Finanzkapitals

Was indessen folgte, kann als eine Proto-Version des Neokolonialismus bezeichnet werden: Ein System der direkten Unterdrückung und Ausbeutung, wie Sklaverei, wird durch die Ausbeutung mittels finanzieller Instrumente ersetzt. Militärische Intervention ist in solch einem System nur noch hin und wieder nötig, um die Interessen des Finanzkapitals zu wahren.

So auch in Haiti. Trotz des Sieges sah sich die zuvor versklavte Bevölkerung einer militärischen Übermacht gegenüber. Denn obwohl die europäischen Mächte während der Napoleonischen Kriege hauptsächlich mit sich selbst zu tun hatten, war klar, dass diese den Frevel einer geglückten Sklavenrevolte im Grunde nicht ungestraft lassen konnten, basierte doch das gesamte frühkapitalistische Modell des transatlantischen Dreieckhandels zwischen Afrika, den Amerikanern und Europa auf diesem Modell.

Außerdem sah sich der französische Staat in der Pflicht, die Aktionäre, die ihr Geld in Sklaven und Zuckerrohr-Plantagen auf der Insel angelegt hatten, zu entschädigen.

Die "Lösung" dieses Konfliktes wirkt aus heutiger Sicht erschreckend fortschrittlich, wenn man Neokolonialismus als Fortschritt vom Kolonialismus bezeichnen möchte. Der französische Staat intervenierte, genauer gesagt: drohte im Namen der Anleger, und die Haitianer mussten sich freikaufen, sowohl aus der Sklaverei wie auch das Land, auf dem sie lebten.

Letztes Wochenende präsentierte die New York Times nun ihre genaue Berechnung, wie viel die haitianische Regierung über fast das gesamte 19. Jahrhundert an die ehemaligen Sklavenhalter bezahlen musste, und wie der französische Staat und seine Banken davon profitierten.

Laut Recherchen der Zeitung haben die Haitianer rund 560 Millionen in heutigen US-Dollar bis 1888 direkt an die ehemaligen Sklavenhalter bezahlt. Diese Summe hätte Haiti im Laufe der Zeit konservativ geschätzt mindestens 21 Milliarden Dollar eingebracht, hätten sie es selbst reinvestieren dürfen.

Das ist viel mehr als die gesamte Wirtschaft des Inselstaates im Jahr 2020. Angenommen, Haiti hätte ohne Schulden ein Wirtschaftswachstum wie das seiner Nachbarn in Lateinamerika genossen, schätzt die New York Times die abgepresste Summe auf etwa 115 Milliarden Dollar, das Achtfache der Größe der haitianischen Wirtschaft im Jahr 2020.

Und so wurde aus einer Kolonie eine Neo-Kolonie. Denn selbst als die direkten Zahlungen an die ehemaligen Sklavenhalter eingestellt wurden, blieb das Land finanziell unter der Kontrolle der Kolonialmächte.

Die kleine Nation hatte jetzt Schulden und so flossen bis 1911 2,53 Dollar von drei Dollar, die Haiti aus der Kaffeesteuer, seiner wichtigsten Einnahmequelle, einnahm, in die Begleichung von Schulden bei französischen Investoren.

"Peacekeaping" mit CIA: Dauernde Interventionen

Solche wirtschaftlichen Voraussetzungen sorgen nicht gerade für politische Stabilität, aber auch dafür hatten die westlichen Mächte eine Lösung. Ab 1915 besetzten immer wieder US-Truppen die Insel, oft unter dem Vorwand nach der Ermordung des einen oder anderen Präsidenten für Ruhe sorgen zu wollen.

Die Politik des sogenannten "peacekeaping" ist ein klassisch neokolonialistisches Narrativ, das sich wiederholt. Der letzte Präsident Jovenel Moïse wurde von kolumbianischen Söldnern ermordet, von denen jetzt drei in den USA vor Gericht stehen.

Diese ehemaligen Mitglieder antikommunistischer paramilitärischen Einheiten, oftmals von der CIA ausgebildet, um gegen die FARC zu kämpfen, verdingen sich mittlerweile weltweit als Söldner. Und so füttert der eine Bürgerkrieg in den ehemaligen Kolonien den anderen. Mal mehr, mal weniger unter direktem Einfluss der westlichen Mächte, aber immer unter deren wachsamen Auge.

Die ständigen "Interventionen" der USA hatten auch direkte finanzielle Folgen für das Land. Während einiger Jahre der Besatzung wurde mehr vom haitianischen Haushalt für die Gehälter und Ausgaben der US-amerikanischen Beamten aufgewendet, die ihrerseits die Finanzen Haitis kontrollierten, als für die medizinische Versorgung der gesamten Nation mit rund zwei Millionen Einwohnern.

Selbst nachdem die Amerikaner in den späten 1940er-Jahren die Kontrolle über die Finanzen abgegeben hatten, lebten die haitianischen Bauern nach Angaben der Vereinten Nationen "oft nahe am Hungertod". Nur eines von sechs Kindern ging zur Schule. Eigentlich ein unhaltbarer Zustand, aber wie sollten sich die Haitianer gegen diese Form der Ausbeutung wehren?

Im Jahr 2003 startete Jean-Bertrand Aristide, der erste demokratisch gewählte Präsident nach Jahrzehnten langer Diktatur, eine Kampagne, in der er von Frankreich die Rückzahlung der entzogenen Gelder forderte. Einen Monat später unterstützte die französische Regierung den Sturz von Aristide mit der Begründung, sie wolle verhindern, dass das in Aufruhr befindliche Haiti in einen Bürgerkrieg abgleite.

Denn nicht nur Banken wie die Crédit Industriel, in Frankreich als C.I.C. bekannt, haben von der finanziellen Unterwerfung und Ausbeutung der ehemaligen Kolonie profitiert, auch der französische Staat wurde für seine Mühen entschädigt.

Vom Elend profitieren

Die New York Times förderte mehrere Regierungsdokumente aus den frühen 1900er-Jahren zutage, aus denen hervorgeht, dass 2 Millionen Francs von den Nachkommen der versklavten Haitianer, das sind 8,5 Millionen Dollar in heutiger Währung, in der französischen Staatskasse landeten.

Dass eine Bank, die nun 355 Milliarden wert, ist immer noch von dem Elend einer Nation profitiert, aus dem regelmäßig Nachkommen von versklavten Menschen in die Länder ehemaliger Sklavenhalter fliehen müssen, ist pervers, aber Teil der neokolonialistischen Weltordnung.

Haiti ist die Blaupause eines frühen anti-kolonialistischen Kampfes aus dem die Unterdrückten siegreich hervorgingen, nur um später durch das kapitalistische Finanzsystem in Armut und Elend gezwungen zu werden. Erst von den ehemaligen Kolonialmächten, später von der neuen Hegemonialmacht USA.

Es gibt mehr als ein Haiti und die wichtigsten Instrumente des Neokolonialismus liegen in den USA: sie heißen Weltbank und IWF.