Halbe Wahrheiten: Die Macht der Vereinfachung in der Berichterstattung
Nicht Fake News sind die größte Gefahr für guten Journalismus. Auch Weglassen kann manipulieren. Was Medien verschweigen, hat oft System.
"Die am weitesten verbreitete Manipulation ist im Übrigen nicht das Hinzuerfinden, sondern das Weglassen."
Diese Erkenntnis stammt von Brigitte Fehrle, die als ehemalige Chefredakteurin der Berliner Zeitung 2019 der vom Spiegel eingesetzten "Relotius-Kommission" angehörte, welche Fälschungen und deren mögliche Ursachen des einst gefeierten Reporters Claas Relotius untersucht hat.
Fehlende Informationen können manipulieren
Geäußert hat Fehrle diese Erkenntnis seinerzeit im Branchenmagazin journalist. Und sie ist weit über den Relotius-Fall hinaus bedeutsam.
Denn wenn auch "halbe Wahrheiten" rein dogmatisch nicht falsch sein müssen, vermitteln sie doch ein ganz anderes Bild, als es jeder um Erkenntnis bemühte Betrachter des Geschehens bei eigener Inaugenscheinnahme hätte.
"Krankenpfleger schlägt Patientin"
Eine für Journalisten-Seminare typische Verbildlichung: "Krankenpfleger schlägt Patientin." Diese Momentaufnahme ist zwar richtig, aber nicht vollständig.
Denn zoomen wir ein wenig weiter aus dem Geschehen heraus, zeigt sich, dass der Pfleger die Frau eilig wecken wollte. Sie hatte also geschlafen. Ein womöglich wichtiges Detail.
Noch eine Ebene weiter sehen wir, dass es im Krankenhaus der Patientin brennt, und der Pfleger sie in Sicherheit bringen wollte.
Und auf der nächsten Ebene sehen wir womöglich, dass es sich gar nicht um einen realen Fall, sondern einen Film-Dreh handelt, alles also nur gespielt ist.
Wer mag, kann jetzt noch fast beliebig viele Ebenen weiter zoomen. Vielleicht war die Aufnahme für einen Image-Film eines Pflegeheims bestimmt, zu dem es (berechtigte?) Kritik zum Umgang mit den Bewohnern gab? Dann wäre die Aussage der ersten Einstellung vielleicht gar nicht verkehrt?
Relevantes darf nicht fehlen
Dass man nicht in jedem Nachrichtentext die ganze Welt erklären kann, ist selbstverständlich. Vor allem, weil kein Journalist die ganze Welt sieht, geschweige denn versteht.
Der Anspruch an Journalismus sollte jedoch sein, dass er stets so viele Informationen liefert, dass ein anderer Betrachter nicht zu deutlich abweichenden Eindrücken kommen müsste.
Denn das Gegenstück zum Journalismus ist die Werbung oder allgemein die Public Relations (PR). Hier erwarten wir nicht, dass neben allen Vorteilen auch die Nachteile eines Produkts benannt werden – von den inzwischen gesetzlich vorgeschriebenen vielleicht abgesehen.
Gute und Böse im US-Haushaltsstreit
Im Ticker der Süddeutschen Zeitung (SZ) war am 19. Dezember, im Morgen-Newsletter extra beworben, folgende Meldung zu lesen:
Donald Trump forderte alle republikanischen Abgeordneten auf, einem bereits mit den Demokraten (Partei, die derzeit den Präsidenten stellt, Einf. d. A.) ausgehandelten Gesetzestext nicht zuzustimmen. Sie hätten zu viele Zugeständnisse an die Demokraten gemacht. Der designierte US-Präsident torpediert damit die Verabschiedung eines Übergangshaushalts im Kongress – und riskiert einen Stillstand der Regierungsgeschäfte.
Um einen solchen Shutdown zu verhindern, muss US-Präsident Biden den Gesetzestext bis spätestens Freitag (20. Dezember, Einf. d. A.) unterzeichnen. Passiert das nicht, müssen staatliche Institutionen teilweise ihre Arbeit einstellen, viele Staatsbedienstete bleiben in diesem Fall unbezahlt.
Den längsten "Shutdown" in der Geschichte des Landes gab es während Trumps erster Amtszeit. Wegen des Streits über die von ihm geforderte Mauer zu Mexiko standen damals mehr als fünf Wochen lang Teile der Regierung still. (...)
Teil des Gesetzes ist auch ein milliardenschweres Hilfspaket für von Wirbelstürmen betroffene Gebiete in den USA. Es hatte sich aber bereits angedeutet, dass der Vorschlag auf Widerstand stoßen könnte – Tech-Milliardär Elon Musk, der Trump beim Kürzen von Regierungsausgaben helfen soll, hatte auf seiner Plattform X geschrieben: (...)
Die Biden-Regierung erinnerte hingegen daran, dass Abmachungen zwischen den Parteien auch eingehalten werden müssten. (...).
Süddeutsche Zeitung
Um die folgende Kritik an dieser Meldung nachzuvollziehen, ist es ratsam, die SZ-Meldung im Original zu lesen, wobei im hiesigen Zitat nichts für diese Wesentliche ausgelassen wurde.
Die wohl beabsichtigte Kernbotschaft findet sich im ersten und im letzten zitierten Satz: Donald Trump ruft dazu auf, eine Abmachung zu brechen.
Und im Ergebnis sind viele Staatsbedienstete ohne Arbeitslohn, wenn es zu einem "Shutdown" kommt – der jedoch später noch abgewendet wurde.
Wie informiert müssen Abgeordnete sein?
Was hier fehlt: Zunächst die Aufgabenbeschreibung für Abgeordnete.
Schließlich werden in Demokratien – welcher Ausprägung auch immer – mehr Vertreter in ein Parlament entsandt, als es Parteien gibt. Die ist nur dann sinnvoll, wenn die verschiedenen Köpfe einer Partei verschiedene Ansichten haben können, unterschiedliche Fragen stellen etc.
Stattdessen wird der Eindruck vermittelt, Parlamentarier hätten sich einem irgendwo und irgendwie entstandenem Votum zu beugen. Das wäre dann für die Leser der SZ genauer zu erläutern: Sollten Abgeordnete in einem demokratischen System nicht mehr frei sein, für oder gegen ein Gesetz zu stimmen?
Natürlich kennen wir auch aus Deutschland den Begriff des "Fraktionszwangs" – er ist aber kein demokratisches Institut, sondern nur im Rahmen der freien Mandatsausübung gebilligt: Wer sich freiwillig einer Vorgabe seiner Parteispitze unterwirft, ist ja noch von niemandem zu seiner Entscheidung gezwungen worden.
Dem steht auch nicht entgegen, dass sich nicht jeder in jedes Detail einarbeiten kann, wenn man etwas mehr Vollständigkeit zu dem Vorgang bekommt.
Denn kurzfristig vorgelegt wurde ein Haushaltsgesetz mit 1.547 Seiten Umfang, dessen Ausgabevolumen gegenüber dem Vorjahr von 879 Milliarden Dollar auf 1.050 Milliarden steigen soll.
Omnibus-Verfahren bei Gesetzgebung
Wie Abgeordnete diesen Entwurf in der Kürze der Zeit lesen sollen, um verantwortlich zustimmen zu können, erklärt die SZ nicht. Ein Blick in die US-amerikanische Presse, etwa die New York Times, zeigt die Probleme wesentlich differenzierter.
So wird unter anderem kritisiert, dass viele Einzelgesetze gemeinsam abgestimmt werden sollen, was im Englischen wie im Deutschen als "Omnibus" bezeichnet wird und auch in Deutschland hoch umstritten ist. Denn die Abgeordneten können nur allem oder nichts zustimmen.
Und natürlich verfolgen sowohl Republikaner als auch Demokraten taktische Ziele mit dem aktuellen Haushaltsgesetz, um sich für die neue Legislaturperiode mit leicht veränderten Machtverhältnissen in Repräsentantenhaus und Senat möglichst gut aufgestellt zu sehen.
Die Sachlage ist also wesentlich differenzierter, als es die SZ schreibt, zumal sie einen wesentlichen Punkt als Tatsache darstellt, nicht als Wertung von irgendjemandem:
Der designierte US-Präsident torpediert damit die Verabschiedung eines Übergangshaushalts im Kongress – und riskiert einen Stillstand der Regierungsgeschäfte.
Süddeutsche Zeitung
Beide Seiten zeigen
Unvollständige Berichterstattung findet sich im deutschen Journalismus laufend.
Beispielsweise als es um die Randale von Fußballfans rund um die Begegnung Ajax Amsterdam gegen Maccabi Tel Aviv ging. Diese wurden in vielen Medien ausschließlich als antiisraelisch oder antisemitisch dargestellt. Dabei wurde teilweise ein Video verwendet, das in Wirklichkeit jedoch Übergriffe israelischer Fans zeigte.
In einer Diskussion dazu vertrat der Deutschlandfunk-Redakteur Christoph Sterz zwar die wenig überraschende Auffassung, dass falsche Zuordnungen nicht in Ordnung seien, betonte aber auch mehrfach, damit solle nichts relativiert werden.
Dabei liegt in der vollständigen Berichterstattung zwangsläufig eine notwendige "Relativierung": Wenn sich nämlich zeigt, dass es keine eindeutige Täter- und Opfergruppen gab, sondern Gewalt von beiden Seiten ausging – was eben meist unerwähnt blieb und nur durch die Verwendung falsch zugeordneter Bildszenen zum Thema wurde.
Fehlende Updates
Unvollständigkeit betrifft nicht nur einzelne Beiträge, sondern vor allem auch die Nachrichtenauswahl über eine längere Zeit. Immer wieder werden dabei nämlich wichtige Updates nicht vermeldet, sodass die Mediennutzer auf einem überholten, nicht mehr gültigen Informationsstand bleiben.
Beispiel: Wenn ein Medium wie der Spiegel wiederholt über Disziplinarverfahren gegen einen Richter, der zuvor Abgeordneter war, berichtet, darf eine spätere Entscheidung zu dessen Gunsten nicht fehlen.
Besonders häufig wird zwar über die Erstattung von Strafanzeigen berichtet, die spätere Einstellung von Ermittlungen jedoch ignoriert.
In all solchen Fällen gilt: "Wer A sagt muss auch B sagen", also eine begonnene Geschichte zu Ende erzählen.