Happy Birthday, Schweinesystem!
Seite 2: Abschied von der Illusion einer "Zivilisierung" des Kapitalismus
- Happy Birthday, Schweinesystem!
- Abschied von der Illusion einer "Zivilisierung" des Kapitalismus
- Autoritärer Kreislauf durch Identifikation mit der Ökonomie
- Ein Blick gen Süden genügt, um der Zukunft des Arbeitslebens in der Bundesrepublik ansichtig zu werden
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Diese eindeutigen Zahlen vermögen es aber nicht, die tiefreichenden autoritären Transformationsprozesse innerhalb der deutschen Gesellschaft widerzuspiegeln, deren Katalysatoren Agenda 2010 und Hartz IV waren. Insbesondere die Hartz-Arbeitsgesetze stellen ein Unterwerfungssystem dar, das auf die Produktion von Untertanen, auf die Eliminierung aller Widerstandspotenziale der Lohnabhängigen und deren totale Entsolidarisierung abzielt. Den Marktextremismus der Agenda 2010 bringt wohl am besten das damals propagierte Ideal der "Ich-AG" zur Geltung: Wir alle hätten uns als die "Unternehmer unserer Selbst" zu betrachten, als in allseitiger Konkurrenz zueinander befindliche Marktatome, die nur noch nach der optimalen Verwertung ihrer Arbeitskraft zu streben haben. Ohne Übertreibung kann konstatiert werden, dass dieses extremistische Entrechtungs- und Kahlschlagprogramm die gesamte Bundesrepublik von Grund auf verändert hat. Die von Rot-Grün durchgesetzten "Reformen" bildeten den Abschied von der Ära der Nachkriegsprosperität in der BRD, einen Abschied von der Illusion einer "Zivilisierung" des Kapitalismus.
Für die Arbeitslosen, die Opfer dieses Systems, gleicht Hartz IV einem institutionalisierten Spießrutenlaufen, bei dem die Fallmanager der "Jobcenter" angehalten sind, mit einem Übermaß an Schikanen den ALG2-Beziehern das Leben zur Hölle zu machen und diese in jede noch so ausbeuterische Arbeit zu nötigen. Dies geschieht unter kalkuliertem Rechtsbruch der ohnehin drakonischen Arbeitsgesetze, wie die Klageflut gegen die Exzesse der deutschen Arbeitslosenverwaltung belegt. Allein am Berliner Sozialgericht hat sich die Zahl der Verfahren nach der Einführung von Hartz IV vervierfacht. Bei rund 70 Prozent der Rechtsstreitigkeiten geht es um Hartz IV, wobei die Erwerbslosen in 54 Prozent der Fälle diese für sich entscheiden können. Der Alltag eines Arbeitslosen ist folglich von einem permanenten Kampf mit diesem Apparat geprägt, der alle Möglichkeiten nutzt, um diesen etwa durch falsche Berechnungen der Unterkunftskosten, kurzfristige Vorladungen zum Rapport beim Fallmanager, oder durch das Verdonnern zu "Weiterbildungskursen" und stupiden "Beschäftigungsgelegenheiten" zu schikanieren.
Dieser Windmühlenkampf des zielgerichtet in die Vereinzelung getriebenen Arbeitslosen mit den übermächtigen Institutionen der kapitalistischen Menschenverwaltung ist auf psychischen Verschleiß, auf das Brechen des Widerstandswillens der Betroffenen ausgerichtet. Das antisoziale Konstrukt der "Bedarfsgemeinschaft" wurde eigens mit der Intention eingeführt, die soziale Atomisierung der "Ich-AGs" zu forcieren, die künftig darauf achten sollen, sich bloß mit niemandem in einer "Bedarfsgemeinschaft" einzulassen, der zu einer finanziellen Belastung werden könnte. Die Agenda 2010 hat erst dann voll "gegriffen", wenn deren Opfer sich tatsächlich als Ich-AGs imaginieren, die selbst die übelste Ausbeutung und Zwangsarbeit als eine "Chance" zur Steigerung der eigenen Markfähigkeit betrachten. Jeder soll sich laut der Gehirnwäsche der Agenda-Ideologie als sein "eigener Chef" fühlen - in Wirklichkeit wird jeder zum stromlinienförmigen Untertanen dressiert.
Zudem etablierte sich mit der Agenda 2010 die Hetze gegen die Krisenopfer, die in einer beispiellosen Diffamierungskampagne zu Tätern, den Verursachern der Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft aufgebaut wurden. Bei dieser Stimmungsmache überboten sich sozialdemokratische sowie grüne Politiker und Massenmedien mit immer neuen Geschichten über angebliche "Sozialschmarotzer", die der Allgemeinheit nur faul auf der Tasche liegen würden (Bild, Deutschlands frechster Arbeitsloser und "Volkes Stimme"). Die Arbeitslosen wurden als "faul" oder "arbeitsscheu" charakterisiert, die Ursachen der Arbeitslosigkeit in der BRD wurden in Rahmen dieser Ideologie personifiziert. Die Erwerbslosen trügen die Schuld an der Arbeitslosigkeit, so der implizite Subtext der damaligen Kampagne, die auf die grundlegende Entsolidarisierung der Lohnabhängigen abzielte. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die Bild-Kreation Florida-Rolf oder an Schröders Spruch: "Es gibt kein Recht auf Faulheit."
Personalisierung der Krisenursachen
Die mit der Agenda 2010 eingeführte Scharfmacherei gegen die Opfer der kapitalistischen Systemkrise, die in einer ideologischen Personifizierung der Krisenursachen zu deren Verursachern halluziniert werden, ist seitdem zu einem beständigen Moment des öffentlichen Diskurses in der Bundesrepublik geworden. Die berüchtigte Sarrazin-Debatte bei der das Feindbild des "Sozialschmarotzers" mit xenophoben und antiislamischen Ressentiments angereichert wurde, wäre ohne die demagogische "Vorarbeit" im Rahmen der Agenda 2010 genauso wenig möglich gewesen, wie die jüngsten Hetztiraden gegen die "korrupten Griechen" oder gegen "faule Südeuropäer" im Gefolge der Eurokrise (Krisenmythos Griechenland). In all diesen Fällen wird von den Einpeitschern in Politik und Meiden an die niedersten Instinkte und Ängste derjenigen Bevölkerungsgruppen appelliert, die noch nicht unter die Räder der amoklaufenden kapitalistischen Wirtschaftsmaschine geraten sind. Es war vor allem die von Abstiegsängsten geplagte Mittelklasse, die nur allzu bereitwillig diese Ideologie verinnerlichte und alle Maßnahmen akzeptiere, mit denen die Entrechtung, soziale Isolierung und Schikanierung der zu Tätern getempelten Krisenopfer umgesetzt wurde.
Der blindwütige Reflex dieser wutbebenden und angstschwitzenden "Mitte" besteht schlicht in dem Bedürfnis, sich von den "Krisenverlierern" möglichst stark abzugrenzen - und gerade dadurch konnten diese Lohnabhängigen dazu gebracht werden, gegen ihre ureigensten Interessen zu handeln. Den selbstverständlich besteht der einzige elementare Unterschied zwischen dem im Standesdünkel verhafteten Mittelschichtsangehörigen und dem von ihm verabscheuten Hartz-IV-Empfänger nur darin, dass der Erstere noch in der Lage ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Sie beide können nichts anderes als ihre Arbeitsfähigkeit zu Markte tragen. Folglich führte die Durchsetzung von Hartz IV, die Entrechtung und Verelendung der Arbeitslosen, auch zur Verschärfung der Arbeitsbedingungen vieler Lohnabhängigen, die zuvor die Agenda-Politik begrüßten.