Henry Kissinger: Ein Leben von besonderer Bedeutung

Henry Kissinger auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, 2008. Napalm-Bombardierung der USA im Süden Vietnams nahe der Grenze zu Kambodscha. Bilder: WEF / CC BY-SA 2.0; U.S. National Archives / Public Domain

Zum Tod des mächtigsten US-Außenministers der Nachkriegszeit. Eine "Jahrhundertgestalt". Auch China verehrt ihn noch heute. Was ist mit den Kriegsverbrechen?

Henry Kissinger ist am gestrigen Mittwoch in Kent, Connecticut, gestorben. Ein hundertjähriges Leben, allein das ist außergewöhnlich, ist zu Ende gegangen.

Jahrzehntelang zog Kissinger im Machtzentrum der Nachkriegsgroßmacht USA an den großen Fäden. Er war der "mächtigste Außenminister der Nachkriegszeit", schreibt die New York Times. Das war in Zeiten des Kalten Krieges. Seit einiger Zeit erlebt der Kalte Krieg ein Update, wie sich in den gegenwärtigen geopolitischen Bewegungen, in Diskussionen und dem moralischen Überbau der jeweiligen Lager dazu zeigt.

Noch selten war das vergleichende Lesen von Nachrufe so "spannend und informativ", wie der Medienwissenschaftler Uwe Krüger kommentiert.

Der Spiegel sieht eine Lichtgestalt, ohne das konkret zu begründen. Glam-Journalismus mit Pietäts-Trauerschleife?

Andere sehen schärfer hin: auf einen Initiator von Flächenbombardements (siehe weiter unten im folgenden Artikel) und von Putschen, wie Harald Neuber im Fall Chile.

Was die geopolitischen Rivalen betrifft, so hat China im Fall Kissinger ein angesichts der derzeitigen Spannungen interessantes, freundliches Bild. Der Sprecher des Außenministeriums, Wang Wenbin, bezeichnete Kissinger als "alten Freund und guten Freund des chinesischen Volkes und als Pionier und Erbauer der chinesisch-amerikanischen Beziehungen" (AP).

Kissinger hatte, wie auch immer die Bilanz der Leserschaft, ausfällt, einen eigenen Blick (womit er sich zuletzt mit seinen Positionen zum Ukraine-Krieg in ein paar Nesseln setzte) und er hatte ein Gespür für wichtige gegenwärtige Großthemen. Seit längerer Zeit schon beschäftigte er sich mit China und AI.

Im Folgenden präsentiert die Redaktion einen kritischen Artikel anlässlich Henry Kissingers 100-Jahre-Geburtstag im Mai dieses Jahres. (Die Red.)

Happy Birthday, Völkermörder Henry Kissinger

Der ehemalige US-Außenminister wird 100 Jahre alt. In den deutschen Medien wird er als "Jahrhundertgestalt" gepriesen. Warum sind wir derart taub für schwerste US-Kriegsverbrechen?

26. Mai 2023

Von David Goeßmann

Henry Kissinger feiert am Samstag seinen 100. Geburtstag. Der NDR hat anlässlich dessen eine Dokumentation produziert mit dem Titel: "Henry Kissinger – Eine Jahrhundertgestalt".

Fokussiert wird laut Ankündigung auf den ehemaligen US-Außenminister als "Architekt der Entspannung im Kalten Krieg, als Wegbereiter für die Annäherung zwischen den USA und China und als Vermittler bei den Friedensbemühungen im Nahen Osten". Der am 27. Mai 1923 in Fürth geborene Heinz Alfred Kissinger kam 1938 inmitten von fliehenden Juden in die Vereinigten Staaten. 1973 erhielt er den Friedensnobelpreis.

In der Wochenzeitung Die Zeit erschien am Mittwoch bereits ein langes Interview mit Kissinger. Titel: "Wenn die Staatsmänner weise wären  ...". Das Gespräch dreht sich um Russland, Putin, den Ukraine-Krieg, die Gefahr eines Atomkriegs mit China, die Rolle der USA in der Welt und künstliche Intelligenz.

Am Ende wird kurz noch auf etwas anderes verwiesen. Es geht um Vorwürfe von "Kritikern", so die Interviewer, die ihn wegen seiner Rolle bei den Bombenangriffen auf Kambodscha während des Vietnamkriegs einen Kriegsverbrecher nennen würden. 250 Wörter werden dem Thema in dem 4.300 Wörter umfassenden Interview am Ende eingeräumt.

Hier die entsprechende Passage im Interview:

ZEIT: Stört Sie das [die Vorwürfe] immer noch?

Kissinger: Ja, aber vor allem sollte es die Medien-Leute stören ...

ZEIT: Warum?

Kissinger: Wie kann solche Propaganda ... (unterbricht sich) Ich will darüber nicht sprechen, ich muss mich nicht verteidigen. Und ich wäre sehr traurig, wenn dieses Gespräch mit dem Thema Kambodscha enden würde ...

ZEIT: Wir haben noch andere Fragen ...

Kissinger: Mich einen Kriegsverbrecher zu nennen war ein einfacher Weg, eine Debatte zu führen, ohne sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen. Deshalb habe ich diese Frage, diesen Vorwurf, generell nie beantwortet. Stört es mich? Ja, natürlich stört es mich.

ZEIT: Wenn Sie heute auf den Krieg in Vietnam und die Angriffe auf Kambodscha zurückschauen, sehen Sie nichts, was Sie anders hätten machen sollen?

Kissinger: Nennen Sie mir einen Guerillakrieg, in dem geduldet worden ist, dass die Guerilla Stützpunkte unmittelbar hinter den Grenzen eines Nachbarlandes errichtet! Nennen Sie mir ein Beispiel! Unsere Luftangriffe haben kaum zivile Opfer gehabt, denn es lebten kaum Menschen in den Gegenden in Kambodscha, die wir angegriffen haben.

ZEIT: Kambodscha war damals neutral. Sie halten es für legitim, ein neutrales Land anzugreifen?

Kissinger: Ich halte es, abstrakt betrachtet, nicht für legitim, ein neutrales Land anzugreifen. Aber ich hielt und halte es für legitim, ein Land anzugreifen, auf dessen Territorium sich Militärbasen befanden, von denen aus Südvietnam und die dort stationierten US-Truppen dort angegriffen wurden. Das war die Lage, das ist alles gut dokumentiert.

Nach diesem journalistischen "Kreuzverhör" darf Kissinger am Ende dann (wie von ihm erbeten) friedlich in die Zukunft schauen, sich optimistisch zeigen angesichts der "lösbaren Probleme" und seine Zuneigung zu Aufklärung, Kant und Leibniz zum Ausdruck bringen.

Blicken wir etwas genauer zurück auf das, was Die Zeit und Kissinger mit "Schwamm-drüber" schnell beiseitelegen.

Bevor die brutalste Phase des US-Krieges in Kambodscha in den 1970er-Jahren begann, übermittelte der damalige Nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses unter US-Präsident Richard Nixon, Henry Kissinger, einen Befehl an General Haig, seinen militärischen Berater: "Es ist ein Befehl, es muss getan werden. Alles, was fliegt, auf alles, was sich bewegt. Habt ihr das verstanden?"

Ein Aufruf mit klarer völkermörderischer Absicht, protokolliert in den öffentlich zugänglichen Staatsarchiven in den Vereinigten Staaten.

Da man Angst vor der öffentlichen Meinung hatte und nicht glaubte, dass der US-Kongress einen Angriff auf ein neutrales Land jemals genehmigen würde, begannen Kissinger und Haig einen Monat nach Nixons Amtsantritt 1968 mit der Planung einer verdeckten Operation.

Diese wurde der US-amerikanischen Bevölkerung, dem Kongress und sogar hochrangigen Pentagon-Beamten durch verschwörerische Tarngeschichten, verschlüsselte Nachrichten und einem doppelten Buchhaltungssystem, das Luftangriffe in Kambodscha als Schläge in Südvietnam aufführte, verheimlicht.

Aber wie viele andere Medien lobt Die Zeit Kissingers Staatskunst und nennt ihn in einem früheren Artikel einen "weisen Realisten". Im Jahr 2015 schrieb er in dem Hamburger Wochenmagazin einen Nachruf auf seinen langjährigen Freund Helmut Schmidt, den ehemaligen deutschen Bundeskanzler und Mitherausgeber der liberalen Zeitung. Überschrift: "Das Gewissen unserer Zeit".