Herdenimmunität ohne Antikörper?

Bild: Sebastian Rushworth

Eine Einführung in das Immunsystem

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"Nur eine Minderheit der Schweden hat Antikörper, daher kann es keine Herdenimmunität geben!" — Das Argument höre ich am häufigsten, wenn es heißt, dass es in Schweden keine Herdenimmunität geben kann. Dabei ist die Zahl der Hospitalisierungen und Verstorbenen seit dem Höhepunkt im April kontinuierlich gefallen und nun auf niedrigem Niveau stabil.

Das Argument wird gebracht, obwohl die letzten derzeit vorliegenden Antikörperdaten drei Monate oder älter sind. (Sie zeigen, dass in Teilen Stockholms 19% und in Schweden insgesamt 7% der Menschen Antikörper hatten.) Drei Monate sind angesichts der schnellen Ausbreitung von Covid eine Ewigkeit.

In Japan wurde über den Sommer eine Studie gemacht, die nach der Verbreitung von Antikörpern bei asymptomatischen Arbeitern in verschiedenen Teilen von Tokyo gesucht hat. Die Antikörperwerte stiegen während der drei Sommermonate von 6% auf 47% an.

Was können wir daraus schließen? Es ist ohne weiteres möglich, dass 50% der Schweden mittlerweile Antikörper hat, was die Annahme, dass nur eine Minderheit der Schweden Antikörper hat, widerlegen würde. Wir werden sehen, ob das stimmt, wenn neue Antikörperdaten vom schwedischen Gesundheitsamt später im Jahr verfügbar sind.

Abgesehen davon gibt es eine Reihe von Gründen, warum die Herdenimmunität erreicht sein kann, obwohl nur eine Minderheit der Bevölkerung Antikörper hat. Und zwar sowohl aus epidemiologischen Gründen, die damit zu tun haben, wie sich Infektionen in einer Bevölkerung ausbreiten, als auch aus immunologischen Gründen, die damit zu tun haben, wie das Immunsystem arbeitet. Im Folgenden werde ich mich mit den immunologischen Gründen beschäftigen, warum Herdenimmunität möglich ist, obwohl nur eine Minderheit Antikörper hat.

Ich habe viele Emails erhalten, die mich danach fragen, wie das Immunsystem funktioniert, daher dachte ich, es wäre sinnvoll das etwas gründlicher zu behandeln. Das Folgende ist ein Crashkurs zur Funktion des Immunsystems, der helfen soll, die aktuellen Diskussionen über T-Zellen, Antikörper, Herdenimmunität, und Berichte darüber, ob es Wiederansteckungen gibt, einzuordnen.

Angeborene Immunität

Grundsätzlich besteht das Immunsystem aus zwei Bestandteilen, dem angeborenen Immunsystem und dem adaptiven (sich anpassenden) Immunsystem. Das angeborene Immunsystem wird zuerst aktiviert, wenn der Körper einen neuen Krankheitserreger antrifft. Es besteht seinerseits aus vier Bestandteilen.

Der erste Bestandteil sind die physischen und chemischen Barrieren, wie Haut, Schleim oder Magensäure, die es einem Erreger schwer machen, weiter in den Körper einzudringen. Der zweite Bestandteil sind die Immunzellen, die darauf spezialisiert sind, Eindringlinge zu jagen und zu zerstören. Dazu gehören Makrophagen (wörtlich "große Fresser"), die alles Fremde, das ihnen unterkommt, auffressen, und Neutrophile, die Bakterien zerstören.

Der dritte Bestandteil des angeborenen Immunsystems sind Proteine, die in der Leber produziert werden, und die die Funktionsfähigkeit des Erregers behindern. Das wichtigste Beispiel ist das Komplementsystem, das aus einer Folge von verschiedenen Proteinen besteht, die an Erreger ankoppeln und sie unschädlich machen. Das ist der Grund, warum Menschen mit Leberschaden Gefahr laufen, schwere Infektionen zu bekommen: Ihnen fehlen diese wichtigen Proteine im Körper.

Der vierte Bestandteil sind eine Reihe innerer Mechanismen, die alle Körperzellen besitzen, um Eindringlinge festzustellen. Diese Mechanismen aktivieren die innere Verteidigung und sie lassen die Zellen Warnsignale an Nachbarzellen aussenden. Interferon ist ein solches Signalmolekül, welches von Zellen ausgesandt wird, in die ein Erreger eingedrungen ist. Interferon führt dazu, dass sich die Zelle abschließt, was die Virusvermehrung stark erschwert.

Die Zellen, Proteine und inneren Mechanismen des angeborenen Immunsystems werden auf grundsätzlich gleiche Weise aktiviert. Sie erkennen Eigenschaften, die vielen Erregern gemeinsam sind. Ein Beispiel wäre das Molekül Lipopolysaccharid, das häufig auf der Oberfläche von Bakterien vorkommt. Ein anderes Beispiel wäre doppelsträngige RNA, die im menschlichen Körper natürlicherweise nicht existiert, sondern deren Anwesenheit innerhalb einer Zelle das Eindringen eines Virus anzeigt.

Da das angeborene Immunsystem immer vorhanden und immer aktiv ist, kann es sehr schnell reagieren. Da es allerdings auf sehr viele verschiedene Arten von Erregern reagieren muss (Bakterien, Viren, Parasiten), ist es bei jedem einzelnen nicht besonders wirksam. Es ist wie ein Schweizer Armeemesser, es kann viele verschiedene Dinge tun, aber nichts davon besonders gut. Hier kommt das adaptive Immunsystem ins Spiel.

Das adaptive Immunsystem

Das adaptive Immunsystem besteht aus zwei Hauptbestandteilen, T-Zellen und B-Zellen. B-Zellen erzeugen Antikörper. Das sind Proteine die an Erreger ankoppeln und auf eine bestimmte Art und Weise mit ihnen verfahren. Antikörper ähneln dem Komplementsystem in dem Sinne, dass sie an Erreger ankoppeln und sie unschädlich machen. Das Komplementsystem ist immer vorhanden und erkennt allgemeine Eigenschaften, die bei vielen Erregern vorkommen. Antikörper sind viel spezifischer, sie entstehen aber erst, nachdem der Körper einem neuen Erreger zum ersten Mal begegnet ist.

T-Zellen sind der andere Hauptbestandteil des adaptiven Immunsystems. Diese können wiederum in verschiedene Arten unterteilt werden. Die beiden wichtigsten sind T-Helferzellen (CD4+-T-Zellen) und T-Killerzellen (CD8+-T-Zellen).

T-Helferzellen sind das "Gehirn" des adaptiven Immunsystems. Sie regulieren die Funktionsweise der anderen Bestandteile. B-Zellen und T-Killerzellen können nur nach der Aktivierung von T-Helferzellen voll aktiviert werden. Daher hat jeder, der Antikörper hat, per Definition auch T-Zellen. T-Helferzellen werden zur Aktivierung von B-Zellen gebraucht.

Weil T-Helferzellen eine so zentrale Rolle im adaptiven Immunsystem spielen, ist Aids eine so tödliche Krankheit. Das HI-Virus zielt auf die T-Helferzellen und tötet sie. Ohne T-Helferzellen kann das adaptive Immunsystem nicht aktiviert werden und daher reagiert ein Aidskranker empfindlich auf andere Infektionen. Nicht HIV selbst tötet den Menschen, sondern die Tatsache, dass das angeschlagene Immunsystem nicht mehr mit anderen Infektionen zurechtkommt.

T-Killerzellen funktionieren ganz anders als T-Helferzellen. Sie dienen speziell der Beendigung viraler Infektionen. Wenn sie aktiviert sind, dann suchen sie vom Virus infizierte Zellen und veranlassen diese Zellen, Selbstmord zu begehen. Dadurch wird verhindert, dass mit dem Virus infizierte Zellen weitere Viren erzeugen können, die Infektion wird ausgebremst.

Das ist der Grund, warum T-Killerzellen eine viel wichtigere Verteidigung des Körpers gegen Viren darstellen, als Antikörper. T-Killerzellen sperren Viren in toten infizierten Zellen ein, was sie an der Ausbreitung und der weiteren Infizierung hindert. Antikörper können dagegen nur Virenpartikel angreifen, die außerhalb von Zellen herumschwimmen, indem sie direkt an Viren ankoppeln und sie inaktivieren. Daher können Antikörper das Problem nur zeitweilig unter Kontrolle bringen, weil sie nichts gegen Viren tun können, die sich innerhalb von Zellen vermehren. Antikörper sind große Moleküle, die nicht durch die Zellwand hindurch kommen. Sie existieren nur außerhalb von Zellen. Daher sind Antikörper am wirksamsten gegen große Erreger, die nur außerhalb von Zellen existieren, wie die meisten Bakterien und Parasiten.

Ich habe oben geschrieben, dass B-Zellen Antikörper erzeugen. Es gibt verschiedene Arten von Antikörpern. Wenn B-Zellen aktiviert werden, dann erzeugen sie anfangs IgM-Antikörper. IgM sind kurzlebige Antikörper, die im Körper höchstens ein, zwei Monate Bestand haben und nicht sehr spezifisch sind. Nach einigen Wochen machen die B-Zellen einen sogenannten "Klassenwechsel" durch. Sie hören auf, IgM zu erzeugen, und fangen an, andere Arten von Antikörpern zu erzeugen, die spezifischer sind. Diese Antikörper halten typischerweise viel länger als IgM.

Es gibt vier Arten von Antikörpern, die nach dem Klassenwechsel erzeugt werden. Die häufigste Art ist IgG, die auch mit den meisten klinischen Antikörpertests gemessen wird.

Eine weitere für Covid-19 wichtige Art von Antikörpern ist IgA, die man im Körper dort am häufigsten findet, wo dieser direkten Kontakt mit der Außenwelt hat, zum Beispiel im Belag der Atemwege oder im Darm (der Darm gehört, biologisch gesehen, der Außenwelt an!). Die IgA sind deswegen wichtig in Bezug auf Covid, weil Covid ein Atemwegsvirus ist, das sich daher hauptsächlich eben in den Atemwegen findet. Der Hauptunterschied zwischen IgA und IgG ist, dass IgA robuster sind als IgG. Sie sind für raue Umgebungen wie die Atemwege oder den Darm gemacht, wo IgG schnell abgebaut werden.

Warum berichte ich von IgA? Weil eine im Mai erschienene Schweizer Studie herausgefunden hat, dass 15% bis 20% der Menschen IgA in ihren Atemwegen hatten, ohne Covid-19-Antikörper in ihrem Blut zu haben.

Das Immungedächtnis

Während das angeborene Immunsystem wie ein Schweizermesser für alle Zwecke da ist, ist das adaptive Immunsystem eine Art Spezialwerkzeug. Es macht nur eine Arbeit, diese aber sehr gut. Wenn das adaptive Immunsystem zum ersten Mal einem neuen Erreger begegnet, dann baucht es seine Zeit, bis es erwacht. Wenn es dann allerdings diesem Erreger ein weiteres Mal begegnet, dann reagiert es dank des "Immungedächtnisses" viel schneller.

Wenn das adaptive Immunsystem aktiviert wird, werden aus einigen T- und B-Zellen Gedächtniszellen. Sie warten auf ihre Zeit in einem Schlafzustand und wenn der Körper dem Erreger das nächste Mal begegnet, erwachen sie schnell und starten eine Massenproduktion von Klonen ihrer selbst. Das Ergebnis ist normalerweise, dass die Infektion schon wieder beendet ist, bevor der Rest es Körpers etwas von ihr mitbekommt.

Was heißt das? Immun gegen eine Infektion zu sein, verhindert keine Wiederinfektion, wie manche Leute zu meinen scheinen, angesichts von Medienberichten über Menschen, die eine zweite Covid-Infektion haben, obwohl sie symptomlos sind. Immun gegen eine Infektion zu sein heißt, dass bei einer Wiederinfektion das adaptive Immunsystem so schnell erwacht, dass die Infektion behandelt wird, bevor der Rest des Körpers etwas davon merkt. Das ist die Bedeutung von "Immunität", der Körper reagiert so schnell, dass der Erreger keine Zeit hat, Schaden anzurichten, nicht, dass eine Wiederinfektion nicht möglich ist.

Zum Immungedächtnis ist anzumerken, dass B-Gedächtniszellen schlafen (wenn keine aktive Infektion vorliegt). Das heißt, dass sie dann keine Antikörper produzieren. Wenn man also nur nach Antikörpern im Blut sucht, dann weiß man nicht, ob es B-Zellen im Körper gibt oder nicht. Nur weil jemand keine messbaren Antikörper nach einer Infektion hat, dann bedeutet das also nicht, dass die B-Zellen verschwunden sind. Und es bedeutet auch nicht, dass die Person keine B-Zell-Immunität mehr hat.

Zuletzt sollte man festhalten, dass T-Killerzellen und B-Zellen auf verschiedenen Wegen aktiviert werden (obwohl beide T-Helferzellen benötigen, um aktiviert zu werden). Es ist daher ohne weiteres möglich, dass bei einer Infektion nur die T-Killerzellen oder nur die B-Zellen aktiviert werden. Beide Wege können zu einer Immunität gegen eine virale Infektion führen. Je schwerwiegender die virale Infektion ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass beide Aktivierungswege beschritten werden.

Das hat sich sehr eindrücklich in der Karolinska-Studie gezeigt, über die ich einen Artikel geschrieben habe. In dieser Studie korrelierten schwere Erkrankungen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit damit, sowohl Antikörper als auch T-Zellen zu entwickeln. Es gab jedoch eine signifikante Zahl von Leuten, die Covid-19-spezifische T-Zellen, aber keine Antikörper entwickelt haben. Diese Leute sind vermutlich immun gegen Covid-19, aber sie wären bei Antikörpertests unsichtbar.

Zusammenfassung

Ich hoffe, diese Darstellung hilft dabei, die gegenwärtige Diskussion um T-Zellen, Antikörper, Herdenimmunität, und ob Menschen wieder mit Covid-19 infiziert werden können, zu verstehen. Sie soll auch verständlich machen, dass es sehr gut möglich ist, mit Covid-19 infiziert zu werden, ohne messbare IgG-Antikörper zu entwickeln.

Ich hoffe, dass das erklären kann, warum jemand eine funktionierende Immunität haben kann, obwohl die Antikörper nach einigen Monaten aus der Blutbahn verschwunden sind.

Anmerkung des Übersetzers

Bis Mitte September stimmten Rushworths Ausführungen gut mit den Informationen des schwedischen Gesundheitsamtes überein, die Kurve der Positivenrate der Tests passte zu Intensiv- und Sterbefällen. In einer Diskussion per Email über den "neuen Coronakurs in Schweden", hier in Telepolis von Andrea Seliger beschrieben, meinte Rushworth, dass es sich nunmehr in Schweden "offensichtlich um eine Falldemie (casedemic)" handelt, "die mit steigenden Testzahlen zu tun hat".

Der Anstieg der positiven Testzahlen stimmt nicht mehr mit einer entsprechenden Situation in Notaufnahmen oder Sterbefällen überein. Eine positiver Test weist Virenfragmente nach, die es auch nach erfolgreicher Immunabwehr geben kann, die bei Normalgesunden die Regel ist. In seinem Krankenhaus sei Covid bei den Gesprächen unter dem medizinischen Personal kein Thema mehr, "die Leute finden das Thema langweilig". Allerdings seien in den letzten Tagen (Anfang Oktober) weniger Menschen in die Notaufnahme gekommen, als zu erwarten gewesen wäre: "Möglicherweise hat das Gesundheitsamt den Menschen Angst gemacht."

Eine Entkoppelung von Testpositivzahlen und der medizinischen Realität ist übrigens schon 2009 bei der Schweinegrippe zu beobachten gewesen, wie Ivan Cummins in einem YouTube-Video vom 12. August erläutert. Nachdem die medizinische Situation im Sommer vorbei war, endete die Falldemie erst Anfang 2010, indem man das Testen eingestellt hat.

Zur Frage nach einem möglichen "post-akuten Covid", einer Erkrankung, die nach einer Infektion auftreten soll, meint Rushworth: "Was soll das sein, wie will man das diagnostizieren? Postvirale Syndrome sind eine mögliche Komplikation bei vielen Atemwegsvireninfektionen. Die weit überwiegende Mehrheit erholt sich davon binnen Wochen oder Monaten vollständig."

Zur Frage, ob das Immunsystem überreagieren kann: "Ja. Überreaktionen kommen häufig vor. Die Hauptursache für Todesfälle bei Covid ist akutes Lungenversagen, das von einer Überreaktion des Immunsystems verursacht wird. Das postvirale Syndrom kommt wahrscheinlich durch eine nachlaufende Überreaktion des Immunsystems zustande, nachdem die Infektion vorbei ist."

Einige Leser interessieren sich möglicherweise für meine Artikel darüber, warum ich glaube, dass Schweden Herdenimmunität erreicht hat, oder ob man bei einer Krankheit fiebersenkende Mittel einehmen soll. Wer es noch nicht gemacht hat, sollte sich unbedingt meinen Leitfaden zur wissenschaftlichen Methode in Medizin und Gesundheitsforschung anschauen.

Ich bin praktizierender Arzt in Stockholm. Jeden Tag stellen mir Patienten Fragen zu Gesundheit, Diäten, Bewegung, Ergänzungsstoffen, Medikation. Es gibt sehr viel Fehlinformation im Internet, es ist leicht, den falschen Rat zu erhalten, und schwer zu sagen, was richtig und was falsch ist, wenn man nicht vertiefte wissenschaftliche Kenntnisse hat. Die Aufgabe meines Blogs Wissenschaftlich fundierte Informationen zu Gesundheit und Medizin (Health and medical information grounded in science) ist es, mitzuteilen, was die Wissenschaft wirklich sagt.

Deutsche Übersetzung von Herd immunity without antibodies? vom 28. 9. (Ulf Martin, 3. Okt. 2020).