Hier ist das Berlin, das jeder haben will
Seite 2: Stadterneuerung
Die merkwürdig zusammengestückelte Bebauung hier ist eine Spätfolge des ersten Flächennutzungsplans für Westberlin aus dem Jahr 1965. Er überzog Berlin mit einem Netz aus Stadtautobahnen und autobahnähnlichen Straßen. Nach diesen Plänen wäre der Moritzplatz noch um einiges ungemütlicher, als er heute ist.
Von Schöneberg kommend sollte die "Südtangente" auf der Höhe des heutigen Jüdischen Museums die Friedrichstraße kreuzen, am Moritzplatz in die Oranienstraße einfädeln und über den alten Görlitzer Bahnhof aus Kreuzberg wieder herausführen. An der Ritterstraße war eine Auffahrt geplant, und am Oranienplatz, unweit der Mauer, sah man ein Autobahnkreuz vor. Vier Jahre nach dem Mauerbau plante der Westberliner Senat trotzig weiter für die gesamte Stadt.
Die Planungen für eine autogerechte Stadt nach dem Vorbild von Los Angelos kostete in anderen Westberliner Bezirken Tausende von Wohnungen. Allerdings bestand die Westberliner Stadterneuerung bis in die 1980er-Jahre hinein sowieso im Wesentlichen aus großflächigem Abriss und anschließendem Neubau.
In Westberlin galten die alten Wohnungen in den Mietskasernen der Gründerzeitviertel damals als menschenunwürdige Behausungen, die die Bezeichnung Wohnung nicht verdienten. Das war nicht völlig von der Hand zu weisen. Tatsächlich hatten unsanierte Altbauwohnungen häufig nur eine Toilette auf halber Treppe, selten ein Bad, bestenfalls eine improvisierte Dusche in der Küche, waren nur mit Kohle zu beheizen und oft feucht. In den Berliner Stadtbädern gab es deshalb noch bis nach der Jahrtausendwende gesonderte Abteilungen mit Wannen- und Duschbädern.
Stadterneuerung betrachtete man im sozialdemokratischen Westberlin als sozialstaatliche Aufgabe, in die ein großer Teil des Landeshaushalts investiert wurde und die man auch politisch zu dominieren gedachte. Einerseits gestand man allen eine anständige, helle Wohnung mit Bad und Zentralheizung zu, andererseits wollte man ausdrücklich auch die soziale Zusammensetzung der Sanierungsgebiete grundlegend ändern. Der offizielle Begriff dafür lautete "Flächensanierung".
Das erste Stadterneuerungsprogramm von 1963 legte bereits eine Reihe von Vierteln als Sanierungsgebiete fest. In Kreuzberg betraf dies das Sanierungsgebiet um das Kottbusser Tor. Zuerst nahm man die Gegend um die Prinzen- und Ritterstraße und den Wassertorplatz in Angriff.
Üblicherweise erhielt eine gemeinnützige, meistens eine städtische Wohnungsbaugesellschaft den Auftrag, ein Viertel komplett zu sanieren. Sie war dann im Prinzip für alles zuständig, was im Kontext der Sanierung zu erledigen war. Sie kaufte den vielen Privateigentümern die Grundstücke ab – oft zu überteuerten Preisen, zur Not konnten die Hausbesitzer aber auch enteignet werden –, sie untersuchte die Sozialstruktur und legte fest, welche Gebäude abzureißen waren.
Sie war sowohl zuständig für den Leerzug der Häuser, als auch für die Beratung der Mieter, denen sie meist riet, in eine der neu entstehenden Trabantenstädte am Stadtrand zu ziehen, was die meisten auch taten. Ab 1968 war die Gegend um die Prinzen- und Ritterstraße und den Wassertorplatz leergezogen und konnte abgerissen und neu bebaut werden. Von der alten Bebauung blieb nur wenig erhalten.
Obwohl der Senat für den Bau der Häuser viel Geld ausgab, waren die neu entstandenen Sozialwohnungen erheblich teurer als die Altbauwohnungen vorher. Es zogen nach der Sanierung deshalb nur sehr wenige der Alteingesessenen zurück in die Gegend. Die neuen Mieter waren zunächst hauptsächlich Facharbeiter und Angestellte. Durch eine etwas merkwürdige Kombination aus zu hohen Mieten und einkommensabhängiger Sozialbindung zogen in der Folgezeit hauptsächlich Menschen ein, deren Miete das Sozialamt bezahlte.
Die Sozialstruktur
Die Sozialstruktur ist hier deshalb heute wieder so ähnlich, wie vor der Sanierung. Das wollte man eigentlich verhindern. Deshalb treibt das Quartiersmanagement Wassertorplatz, das auch die Otto-Suhr-Siedlung betreut, hier seit über zehn Jahren sein Unwesen und versucht dem Armenviertel wenigstens einen besseren Anstrich zu geben.
Die einst modernen Neubauten sind inzwischen ein halbes Jahrhundert alt, und vielen sieht man das auch an. Die städtische GEWOBAG, der fast alle diese Wohnungen in der Gegend gehören, ließ einige längst modernisieren. Am 13-Geschosser in der Prinzenstraße 97 prangt nun, weit sichtbar, deren Logo. Die Wurzeln der ebenso alten Straßenbäume haben im Laufe der Zeit das Verbundpflaster der Radwege gesprengt.
Die sind inzwischen zwar notdürftig geflickt, der Weisheit letzter Schluss dürfte das aber nicht sein. Es drängt sich eher der Eindruck auf, dass die im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg für Verkehr und Stadtentwicklung zuständigen Grünen die Hochhausviertel etwas stiefmütterlich behandeln. Ihre Vorgängerpartei, die Alternative Liste, ist schließlich mit dem Kampf gegen sie groß geworden.
Das Ende der Kahlschlagsanierung wurde zwar wesentlich in Kreuzberg durchgesetzt, aber andernorts eingeläutet. Im Sanierungsgebiet Klausener Platz am Schloss Charlottenburg kämpfte seit Anfang der 1970er-Jahre eine Mieterinitiative gegen die Sanierung und forderte den Erhalt der Sozialstruktur, den Verzicht auf Mietsteigerungen von über 30 Prozent sowie eine Miete von höchstens drei Mark den Quadratmeter, Instandsetzung der Häuser und die Vergabe leerstehender Wohnungen an von der Sanierung Betroffene aus der Nachbarschaft – also etwa das Gegenteil der damaligen Praxis.
Ergebnis war zwar nur ein Modellprojekt im Rahmen des Europäischen Denkmaljahres 1975, in dem ein Häuserblock des Viertels samt Hinterhäusern und Seitenflügeln erhalten blieb und man die Höchstmietenforderung berücksichtige.
In Fachkreisen war dieses Modellvorhaben aber äußerst populär, und auch in Kreuzberg tauchten in der Folge ähnliche Forderungen auf. In der Bauverwaltung begann deshalb ein vorsichtiges Umdenken. Man veranstaltete einen Ideenwettbewerb mit viel Bürgerbeteiligung und der Einbindung unabhängiger Bürgerinitiativen für die Stadterneuerung im östlichen Kreuzberg und beschloss, 1984 eine "Internationale Bauausstellung" durchzuführen, die sich dem Umgang mit der vorhandenen Stadt widmen, neue Leitbilder für die Wohnungspolitik sowie neue Wege in den Beziehungen zu den von der Planung Betroffenen entwickeln sollte.
In allen Westberliner Sanierungsgebieten standen viele Häuser leer. Andernfalls lassen sie sich nicht abreißen. Das verknappte einerseits das Angebot an billigem Wohnraum, schuf andererseits aber auch ungeahnte Handlungsmöglichkeiten für die stadtpolitische Opposition. Die ersten Hausbesetzungen in diesem Zusammenhang organisierte eine bereits in den Ideenwettbewerb eingebundene Bürgerinitiative, die auch eine eigene Stadtteilzeitung namens Südost Express herausgab, 1979 in Kreuzberg.
Hausbesetzerbewegung
Schnell entwickelte sich eine große Hausbesetzerbewegung, die den ursprünglichen Anstiftern bald aus der Hand glitt, und nach der polizeilichen Verhinderung einer Besetzung am Fraenkelufer südlich des Wassertorplatzes im Dezember 1980 nahm sie bisweilen den Charakter eines allgemeinen Aufstandes gegen die westliche Gesellschaft insgesamt an. Auf dem Höhepunkt der Bewegung im Sommer 1981 waren in Westberlin 165 Häuser besetzt, der sozialdemokratisch geführte Senat stürzte, und die Halbstadt galt als unregierbar.
Die Hausbesetzer genossen in weiten Teilen der Bevölkerung große Sympathien, und bei den Abgeordnetenhauswahlen zog mit der Alternativen Liste eine Kraft ins Parlament ein, die sich als deren Sprachrohr in Szene setzte. Der gleichzeitig an die Macht gekommene CDU-geführte Senat machte sich jedoch sofort daran, dem aus dem Ruder gelaufenen Treiben ein Ende zu setzen, indem er einerseits bis 1984 insgesamt 60 der besetzten Häuser mit großem Aufwand räumen ließ und auch keine Neubesetzungen mehr duldete, während er andererseits 105 der Häuser legalisierte, in der Stadterneuerungspolitik neue Wege beschritt und den moderaten Flügel der Bewegung einband.
Die "behutsame Stadterneuerung", wie man das neue, auf den Ergebnissen des Ideenwettbewerbs fußende Konzept taufte, war für die Kreuzberger ein großer Erfolg. In den Sanierungsgebieten riss man die Häuser nicht mehr ab, die Mieter konnten im Viertel bleiben und sogar mitreden, welche Modernisierungen in ihren Wohnungen durchgeführt werden durften und welche nicht. Damit konnten sie auch über den Preis ihrer Wohnung nach der Sanierung mitentscheiden. Allerdings wurde dadurch auch die als gesamtgesellschaftliches Problem auf der Tagesordnung stehende Wohnungsfrage individualisiert und wieder zur Privatsache erklärt.
Um die neue Sanierungspraxis umzusetzen, entstand ein Geflecht verschiedener unabhängiger Institutionen, das die allmächtigen gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften ablöste. Federführend war nun die aus der Internationalen Bauausstellung hervorgegangene, privatisierte S.T.E.R.N. GmbH, die als generalzuständiger Sanierungsträger wirkte.
Die unabhängigen Mieterläden und Mieterinitiativen wie der Verein SO 36, die zuvor am Widerstand gegen die Kahlschlagsanierung wesentlich beteiligt waren, übernahmen die neuen eigentümerunabhängigen Mieterberatungen und wurden damit ein mächtiger Teil des Sanierungsapparates. Es bildete sich eine Betroffenenelite heraus, deren Wirken sich mehr und mehr verselbstständigte, und die später auch in den Ostberliner Sanierungsgebieten eine führende Rolle übernahm.