"Historischer Durchbruch" zum Recht auf Staats-Umschuldung

Auf der UN-Generalversammlung im September sollen klare Grundsätze zur "Bewältigung von Staatsschuldenkrisen" verabschiedet werden

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Es ist angesichts der Schuldenkrise in Griechenland mehr als erstaunlich, dass im deutschsprachigen Raum die Tatsache praktisch unbeachtet blieb, dass ein Komitee der Vereinten Nationen (UN) kürzlich auf Anstoß von Argentinien einstimmig Grundsätze zum Umgang mit Staatsinsolvenzen beschlossen hat. Die UN-Generalversammlung wird aller Voraussicht nach am 15. September die "neun Grundsätze" beschließen, damit ein "neuer Rechtsrahmen" und "Regulierungsmechanismen" für den Umgang mit Staatsschuldenkrisen entstehen. Nun geht es darum, die "Gläubigervereinigung" IWF aus der Kontrolle herauszuhalten.

Es war erstaunlich, dass bestenfalls versteckt in langen Texten mit wenigen Worten auf einen Vorgang eingegangen wurde, der in den Vereinten Nationen (UN) und von vielen Beobachtern als "historischer Durchbruch im internationalen Rechtssystem" bezeichnet wird. "Auch in Bezug auf das Schuldenmanagement soll stark verschuldeten Ländern mit stärkerer Unterstützung auf institutioneller Ebene geholfen werden", schrieb zum Beispiel die Neue Zürcher Zeitung. Und das war eine der wenigen Medien, die das Thema überhaupt aufgegriffen hat.

Dabei ist nun die Vorentscheidung gefallen, wie in Zukunft mit Staatsinsolvenzen umgegangen werden soll. Denn die im vergangenen Herbst von der Generalversammlung einberufene Sonderkommission hat mit Unterstützung der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (Unctad) Ende Juli "klare Grundsätze zum Umgang mit Staatsschulden" vereinbart. Und über diese Grundsätze soll in Form einer Resolution auf der nächsten UN-Generalversammlung abgestimmt werden, erklärte der Vorsitzende des Komitees Sacha Llorenti. Der Bolivianer ist Vorsitzender der Sonderkommission und er erwartet, dass auch diese Resolution eine breite Zustimmung erhält.

UN-Generalversammlung. Bild: Patrick Gruber/CC-BY-SA-2.0

So blieb diese richtungsweisende Vorentscheidung praktisch genauso unbeachtet, wie schon Entscheidungen im Vorfeld, die erst zur Einsetzung der Sonderkommission führten. Dabei ist das Thema Staatspleite so virulent wie nie zuvor. Schon im vergangenen September hatte die Generalversammlung eine Resolution verabschiedet, die im Dezember ratifiziert wurde. Und die sah vor, einen internationalen Rechtsrahmen für Staaten-Umschuldungsverfahren zu erarbeiten. Auf diesem Weg ist man nun einen deutlichen Schritt vorangekommen.

Mit großer Mehrheit hatten sich in der ersten Abstimmung schon 124 Länder dafür ausgesprochen. Ratifiziert haben den Beschluss sogar 128 Länder. Nur noch 34 Länder enthielten sich und nur 16 stimmten gegen den Antrag. In Europa waren es Deutschland, Großbritannien, Irland, Österreich, Finnland, Ungarn und die Tschechische Republik. Dazu gesellten sich unter anderem auch die USA, Kanada, Japan und Israel.

Die Initiative ging von Argentinien aus, das Land von der Gruppe der 77, China und Russland, aber auch von der Türkei und Neuseeland unterstützt wurde. Der Erfolg wurde natürlich im vergangenen Jahr von Argentinien schon als kleiner Sieg gefeiert, das von sogenannten "Geierfonds" in eine technische Staatspleite getrieben wurde. "Wir beginnen damit, einen ethischen und juristischen Weg gegen die zügellose Spekulation zu ebnen", sagte der argentinische Außenminister Héctor Timerman. Es gehe um Vorbeugung, damit "nicht noch mehr Völker mit Hunger und Misere für die Spekulation unheilvoller opulenter Herren bezahlen müssen".

Argentiniens Kampf gegen die "Geierfonds"

Damit meinte er neben Hedgefonds auch den US-Richter Thomas Griesa, der im Sinne von deren spekulativen Absichten geurteilt hatte. Er brachte eine geglückte Umschuldung nach der argentinischen Staatspleite 2001 wieder auf die Kippe. Die Fonds, die Argentinien nie Geld geliehen hatten, hatten in der Pleitephase billigst Staatsanleihen aufgekauft und verweigerten sich danach der Umschuldung, die das Land mit der übergroßen Mehrheit der Gläubiger ausgehandelt hat. Die "Geierfonds", wie sie in Argentinien heißen, wollten einen Gewinn von 1600% einstreichen. Sie wetteten darauf, auf dem Klageweg die Auszahlung der vollen Summe von rund 1,3 Milliarden Dollar erreichen zu können (Staatspleite für (vielleicht) Weltmeister Argentinien?).

Hätten sie das Angebot von Argentinien angenommen, hätte ihr Gewinn "nur" 400% ausgemacht. Sie hätten das erhalten, worauf man sich mit 93% der Gläubiger geeinigt hat. "Die Situation in meinem Land zeigt die Notwendigkeit für einen Rahmen, um uns davor zu schützen", sagte Timerman im vergangenen Herbst. Der Konflikt dauert an. Richter Griesa hat zuletzt im Juni Argentinien dazu verurteilt, insgesamt 5,4 Milliarden Dollar an bevorrechtigte Gläubiger zu bezahlen. Erst dann dürften die übrigen Schuldner auch wieder mit Zinszahlungen bedient werden, mit denen es eine Einigung gab. Griesa weitete damit seine Rechtsprechung auf die 7% der Gläubiger aus, mit denen es keine Einigung gab, auch wenn die nicht wie die Hedgefonds geklagt hatten.

In eine echte Staatspleite, darauf hatten die Fonds einst spekuliert, kann das Land nun aber nicht mehr getrieben werden. Denn derweil ist die Rufo-Klausel ausgelaufen ("Staatspleite" Argentiniens demnächst beendet?). Nach dieser hätten bis zum vergangenen Jahresende auch die 93% der Gläubiger höher entschädigt werden müssen, wenn es die Fonds geschafft hätten, mehr Geld aus Argentinien herauszupressen. Die Gleichbehandlung hätte zu Nachforderungen von bis zu unbezahlbaren 140 Milliarden Dollar geführt. Die 5,4 Milliarden könnte Argentinien zwar bezahlen, tut das aber aus Prinzip nicht. Es hofft, dass sich seine Lage über den neuen Rahmen im internationalen Recht verbessert.

Recht auf Umstrukturierung der Staatsschulden

Sieht sich Argentinien nach dem Beschluss der Sonderkommission im Kampf gegen die "Geierfonds" schon gestärkt, können auch Griechenland, die Ukraine, wo der Krieg den wirtschaftlichen Absturz und die Pleite beschleunigt hat (Frische 1,8 Milliarden aus der EU für die Pleite-Ukraine), und Puerto Rico (Das Griechenland der USA) auf eine Umschuldung hoffen, meinte auch der Vorsitzende der Sonderkommission Llorenti. Wenn die Grundsätze wie erwartet abgesegnet werden, hat ein "Staat das Recht" auf eine "Umstrukturierung seiner Staatsschulden". Die darf nicht durch missbräuchliche Maßnahmen vereitelt oder erschwert werden. Die sollte der "letzte Ausweg" unter "Wahrung der Gläubigerrechte" möglich sein, steht im ersten der neun Grundsätze:

A Sovereign State has the right, in the exercise of its discretion, to design its macroeconomic policy, including restructuring its sovereign debt, which should not be frustrated or impeded by any abusive measures. Restructuring should be done as the last resort and preserving at the outset creditors' rights.

Das hört sich noch so an, als könnten die Gläubiger damit auf weitgehende Forderungen beharren. Aber im 2. Grundsatz wird von beiden Seiten eine konstruktive Umschuldung eingefordert, die zum Ziel hat, zu einer "schnellen und einer dauerhaften Tragfähigkeit der Schulden und des Schuldendienstes" zu kommen.

Good faith by both the sovereign debtor and all its creditors would entail their engagement in constructive sovereign debt restructuring workout negotiations and other stages of the process with the aim of a prompt and durable reestablishment of debt sustainability and debt servicing, as well as achieving the support of a critical mass of creditors through a constructive dialogue regarding the restructuring terms.

Wenden wir das auf den Fall Griechenland an, dann ist klar, dass der bisherige Schuldenschnitt und Schuldenrückkauf 2012 eben genau diese Ziele verfehlt haben. Bei der Bankenrettung, wie inzwischen sogar der IWF einräumt, war ohnehin nur geplant, die Schulden Griechenlands 2020 auf 120% des Bruttosozialprodukts (BIP) zu senken. Dass sogar dies nicht einmal mit diesem Schuldenschnitt, der viel zu spät kam und zu knapp ausfiel, erreicht werden würde, hatte Telepolis immer wieder verdeutlicht. Dabei wäre man, wie beim Monopoly, ohnehin nur wieder am Ausgangspunkt und dem Wert angelangt, an dem die Schulden für Griechenland unbezahlbar wurden.

Ein Schuldenschnitt müsste also nach den neuen UN-Grundsätzen deutlich höher ausfallen. Und Argentinien könnte dafür als Vorbild dienen, denn in zwei Schuldenschnitten verzichteten die Gläubiger insgesamt auf zwei Drittel des Nennwerts der Anleihen. Es kann aber auch eine langfristige Umschuldung vereinbart werden, wie sie der Ökonom Hickel vorschlägt, damit das Ziel der Tragfähigkeit der Schulden und Schuldendienst erreicht wird und die Schulden langsam weginflationiert werden.

Ziele sind eine "stabile Lage im Schuldnerstaat" und ein "nachhaltiges Wachstum"

Argentinien steht auch Pate für den dritten Grundsatz. Demnach soll "mit einer kritischen Masse aller Gläubiger im konstruktiven Dialog ein Abkommen über die Bedingungen der Umstrukturierungen erreicht werden". Und das gilt auch für den vierten Grundsatz der "Gleichbehandlung", dass es keine "willkürliche Diskriminierung" von Gläubigern geben dürfe, wie es Hedgefonds mit ihrer Klage vorschwebt. Die "Staatenimmunität" soll ein Recht bei Umschuldungen vor nationalen und ausländischen Gerichten sein, wobei "Ausnahmen eng ausgelegt" werden sollen.

Die Schuldentragfähigkeit wird im siebten Grundsatz noch einmal näher ausgeführt, womit klar wird, dass sie das zentrale Ziel ist. Betont wird noch einmal, dass eine "stabile Lage im Schuldnerstaat" und ein "nachhaltiges Wachstum" geschaffen werden soll. Die "sozialen und wirtschaftlichen Kosten" sollen dabei minimiert werden, wobei die Menschenrechte und die Finanzstabilität gewahrt werden sollen.

Sustainability implies that sovereign debt restructuring workouts are completed in a timely and efficient manner and lead to a stable debt situation in the debtor State, preserving at the outset creditors' rights while promoting sustained and inclusive economic growth and sustainable development, minimizing economic and social costs, warranting the stability of the international financial system and respecting human rights.

Und auch der letzte Grundsatz unterstreicht noch einmal, dass aus den Forderungen der "Geierfonds" in Argentinien gelernt werden soll. Denn es soll verhindert werden, dass eine kleine Minderheit der Gläubiger ein Abkommen blockieren oder verhindern kann. Gefordert wird eine "qualifizierte Mehrheit der Gläubiger" für ein Abkommen, das nicht von anderen Staaten oder einer nicht repräsentativen Minderheit der Gläubiger gefährdet oder verhindert werden dürfe. Die Minderheit soll die getroffenen Mehrheitsentscheidungen respektieren.

Majority restructuring implies that sovereign debt restructuring agreements that are approved by a qualified majority of the creditors of a State are not to be affected, jeopardized or otherwise impeded by other States or a non-representative minority of creditors, who must respect the decisions adopted by the majority of the creditors. States should be encouraged to include collective action clauses in their sovereign debt to be issued.

Solche "Collective Action Clauses" sind auch schon in allen Staatsanleihen enthalten, die seit 2013 in der Euro-Zone ausgegeben werden. Dabei reicht es, wenn drei Viertel der Gläubiger einer Umschuldung zustimmen, also deutlich weniger als in Argentinien erreicht wurde.

Der IWF soll draußen bleiben

Wichtig ist nun für die, die für diese Grundsätze eintreten, den IWF aus dem Spiel zu halten. Einer der zentralen Berater der Sonderkommission machte das auch vor der Kommission mehr als deutlich. Es handelt sich um den Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz. Der hatte mit seinem Kollegen Paul Krugman auch schon frühzeitig herausgearbeitet, dass die harten Kürzungs- und Sparprogramme, die vom IWF gestaltet und Griechenland von der Troika aufgezwungen wurden, "verrückt" seien und die "katastrophalen Folgen" zeitigen würden, die wir nun mehr als deutlich sehen.

Stiglitz ist entschiedener Verfechter eines Verfahrens zur Regelung von Staateninsolvenzen. Er erklärte der Sonderkommission, dass sich der IWF im Interessenskonflikt befinde und deshalb die Umschuldungsverhandlungen nicht unter seiner Kontrolle stattfinden dürften. "Der IWF ist eine Institution der Gläubiger und man kann auch nicht von der Citibank fordern, ein Gesetz über die Insolvenz der USA zu entwerfen." Denn dann käme nichts Vernünftiges heraus. "Wir brauchen ein Gesetz über eine gerechte und effiziente Staatsinsolvenz." Gesetze aber, die von Gläubigern bestimmt werden, "sind weder gerecht noch effizient", fügte er an.

Deshalb müsse es die UNO und nicht der IWF sein, die die Regeln definiert und unter deren Schirmherrschaft über Umschuldungen verhandelt wird. In seiner Abschlusserklärung vor der Kommission sagte er: "Der einzige adäquate Ort, an dem diese Debatte stattfinden kann, ist nicht beim IWF." Denn dort könne es keine ausgewogene Lösung geben. "Der angezeigte Ort ist die UNO, denn es ist der einzige Ort, wo sich Schuldner und Gläubiger an einen Tisch setzen können."

Man darf davon ausgehen, dass Stiglitz das auch in Bezug auf die Stimmverhältnisse im IWF anführt. Hätten die Abstimmung über die Resolution und die Ratifizierung, die letztlich zu den angeführten neuen Grundsätzen geführt hat, im IWF staatgefunden, wäre das Ergebnis ganz anders ausgefallen und es hätte diese Grundsätze nie gegeben. Statt einer klaren Mehrheit für die Ausarbeitung der Richtlinien einer Staatsinsolvenz wäre es vermutlich zu einer Ablehnung gekommen. Denn die Ablehnungsfront der entwickelten Staaten stellen 46% der Stimmberechtigung im IWF. In der UN-Generalversammlung führten deren Gegenstimmen aber nur zur Ablehnung einer kleinen Minderheit von gut 8%, während sich 76% für die Staateninsolvenz aussprachen. Dieses Abstimmungsergebnis lässt auch die Sonderkommission vermuten, dass die Resolution mit ihren Grundsätzen angenommen werden wird.

Dass es eine geordnete Staateninsolvenz geben soll, darüber wird auch in Deutschland debattiert. So hat das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln) einen Vorschlag für eine Staatsinsolvenzordnung erarbeitet. "Durch die Schaffung eines geordneten Insolvenzverfahrens für Euro-Staaten wird der Grundsatz der Währungsunion gestärkt, dass kein Land für die Schulden eines anderen Landes haften muss und so der Gefahr vorgebeugt, dass die Euro-Zone zu einer Transferunion verkommt", sagte einer der beiden Studienautoren.

Nach dem IW-Plan sei ein mehrstufiger Verhandlungsprozess vorgesehen. Ausgelöst werden könne das Verfahren sowohl durch das verschuldete Land oder durch den europäischen Rettungsschirm ESM, der einen Euro-Mitgliedsstaat mit einer Mehrheit in ein Insolvenzverfahren zwingen können soll. Wenn es mit den Gläubigern keine Einigung gäbe, soll eine neu zu schaffende Kammer am Europäischen Gerichtshof die Verhandlungen beratend begleiten. Wird auch dann keine Einigung erzielt, soll sie gegen die Vorstellungen von Schuldner und Gläubiger eine Entscheidung über die Umschuldung treffen.