Hitler und die Dialekte
Seite 5: Hitler und die "Norddeutschen"
Für die Wettervorhersage im Reich schlägt der "Führer" am 14./15.10.1941 vor, per Telefonleitung systematisch "Menschen mit einem sechsten Sinn" einzubinden. Es spiele keine Rolle, ob sie Hochdeutsch sprechen oder nicht:
Der Mann braucht keine schriftlichen Meldungen zu machen, er mag auch ruhig seinen Dialekt sprechen; vielleicht ist er zeitlebens aus seiner Gegend nicht herausgekommen. Aber er weiß zu lesen aus dem Flug der Schwalben und der Mücken [...].
Ein Monolog vom 2./3. Januar 1942 verweist auf weitere "Perspektiven" jenseits überkommener Kulturtechniken:
Die Vogelsprache ist ja sicher viel weiter entwickelt, als wir glauben.
Hitler hat den Norddeutschen ein bedeutsames Stück seiner "Heimatkultur" zum Opfer gebracht und träumt am 17.2.1942 - womöglich etwas rachlüstig - davon, dass plattdeutsche Hamburger Jungs die kurze Lederhose anziehen:
Ich habe mich früher [...] über Hagenbeck wahnsinnig geärgert. Da waren immer zwei Dörfer da, das Ashantidorf und daneben das Juhu-Bayerndorf! Für Deutschland ist das eine Gemeinheit. In Wahrheit sind das nun gar keine Bayern, ein wirklicher Schuhplattler ist der männlichste Tanz, den es gibt [...]. Die Amerikaner haben das Steppen bühnenfähig gemacht - mit Afrika hat es nichts zu tun, es ist etwas Schottisches. Bei uns hat man das Schuhplatteln verblödelt und Idioten dafür genommen. Leider hatte Norddeutschland dafür kein Verständnis. Ein Norddeutscher in der kurzen Wichs, das geht einfach nicht, es bedeutet eine Verminderung des Ansehens! [...] Einer der schmerzlichsten Momente war es mir, wie ich die kurze Wichs habe ablegen müssen, aber: Wenn ich mit einem Mann von Coburg nördlich redete, bildete der sich ein, er brauche mich nicht ernst zu nehmen. [...] Ich bin von Jugend auf drin aufgewachsen [...]. Ich habe Himmler schon gesagt, zwei oder drei Standarten müssen in kurzer Wichs gehen. Warum nicht, wenn das sauber gewachsene Burschen sind, eine Truppe, die bei original Hamburger Aussprache mit braunen Knien daherkommt!
Ähnlich heißt es auch noch einmal am 12.8.1942:
Es gibt keinen Zweifel, daß die gesündeste Kleidung, die es gibt, kurze Wichs ist mit Halbschuh und Wadelstrümpfen! [...] Das Freiheitsgefühl, das man dabei hat, ist etwas Wunderbares! Eines der schwersten Opfer ist es gewesen, daß ich das aufgeben mußte. Nur wegen der Norddeutschen habe ich das getan! [...] Eine SS-Standarte Hochland wird in Zukunft kurze Wichs tragen!
Für Belgien hält Hitler laut Protokoll vom 27.2.1942 führendes Besatzungspersonal aus norddeutschen Landschaften - trotz der schon im ersten Weltkrieg genutzten sprachlichen Brücken - offenbar für weniger geeignet:
Nach Belgien muß ich jetzt einen Mann hinkriegen: Es ist ausschließlich die Personenfrage! Einen strammen norddeutschen Herrn kann ich da nicht hinsetzen. Es muß ein Mann sein, der kolossal gewandt ist, glatt wie ein Aal, liebenswürdig, zäh und hart. [...] Ich muß wirklich sagen, für diese Arbeit käme in erster Linie wieder ein Landsmann von mir aus der Ostmark in Frage.
Unsere Sprache wird in hundert Jahren die europäische Sprache sein
Wie schon in "Mein Kampf" erweist sich der "Führer" 1942 noch immer als ausgesprochener Gegner eines zu eifrig betriebenen Fremdsprachenunterrichts an deutschen Schulen:
Es hat doch gar keinen Sinn, jedem Kind in einer Mittelschule zwei Sprachen beizubringen! Fünfundneunzig Prozent brauchen das doch gar nicht! (3.3.1942) Wir lernen jeder zwei, drei Sprachen, die sind vollkommen zwecklos. Außerdem kann einer nie reden, wenn er wo hinkommt. (29.8.1942) "Ein Beweis für Intelligenz ist es nicht, wenn einer mehrere Sprachen spricht. (4.9.1942)
Das eigene Talent auf diesem Feld ist laut Selbstbekenntnis begrenzt:
Ich habe kein Sprachentalent gehabt, aber vielleicht hätte ich es auch gehabt, wenn der Professor nicht so ein Idiot gewesen wäre. (7.9.1942)
Indessen heißt es jedoch an anderer Stelle:
Diese Balkaniden sind eigenartig. Die haben ein Sprachentalent sondergleichen!
16.8.1942
Ein Monolog-Protokoll für den 2./3.11.1941 enthält die offenbar in Anwesenheit Himmlers getätigte Weissagung, Deutsch werde gesamteuropäische Sprache:
Unsere Sprache wird in hundert Jahren die europäische Sprache sein. Die Länder des Ostens, des Nordens wie des Westens werden, um sich mit uns verständigen zu können, unsere Sprache lernen. Die Voraussetzung dafür: An die Stelle der gotisch genannten [Buchdruck-]Schrift tritt die Schrift, welche wir bisher die lateinische Schrift nannten und jetzt Normalschrift heißen. Wir sehen jetzt, wie gut es war, daß wir uns im Herbst vorigen Jahres zu diesem Schritt entschlossen haben.
Am 3.11.1941 folgt jedoch die Ergänzung, dass Hitler im Rahmen seines "Rassenkrieges" in besetzten "Ostgebieten" nur "glückliche" Analphabeten anzutreffen wünscht:
Am besten ist, man lehrt sie nur eine Zeichensprache verstehen. Durch einen Rundfunk wird der Gemeinde vorgesetzt, was ihr zuträglich ist, Musik unbegrenzt. Nur geistige Arbeit sollen sie nicht lernen, wir dürfen ja nichts drucken lassen!
Die These einer amtlich betriebenen "Mundart-Ausmerzung" ist noch nicht belegt!
Die in einer Untersuchung Rechtschreibreform und Nationalsozialismus von Hanno Birken-Bertsch und Reinhard Markner beispielhaft herangezogenen Quellen lassen - trotz der Bevorzugung von zentralistischen bzw. mundartfeindlichen Voten in der Auswahl - erkennen, dass es keineswegs ein einheitliches sprachpolitisches NS-Programm gegeben hat und bis in die 1940er Jahre hinein höchst unterschiedliche Positionen bei Institutionen und regimetreuen Wissenschaftlern anzutreffen sind. 8
In unserem Zusammenhang ist besonders ein langer Abschnitt über die "Herstellung der hochsprachlichen Reichseinheit" bedeutsam. Die Überschrift ist ein Zitat und verweist auf Maximilian Weller, der 1939 "die mundartfreie Rechtlautung des deutschen Volkes" gefordert hat. In der offen expansionistischen Phase des NS-Staates geht es offenbar nicht mehr allen Beteiligten am Sprachdiskurs nur um eine "überstammliche Reichssprache" (Herbert Ahmels). 1937 heißt es in einer Quelle aus der Reichsrundfunkkammer: "Sprachgeltung ist Volksgeltung und Volksgeltung ist Weltgeltung." Zur Weltherrschaft gehört nach Ansicht einiger Sprachideologen eine Weltsprache, und die könne - wie 1942 Fritz Fikenscher meint - "nur ein einheitlich gesprochenes Deutsch" ohne mundartliche Färbung sein.
Eine Verfügung des Reichspressechefs vom 31. März 1941 wurde in Westfalen als Order zur Ausmerzung der Mundarten aufgefasst. Auch eine parteiinterne Anweisung in den "Vertraulichen Informationen" (Nr. 32/312 vom 26.7.1941) sowie zwei protokollierte "Führer-Voten" vom 2.5.1942 und 21.8.1942 weisen auf eine Unerwünschtheit regionaler Dialekte im öffentlichen Kulturgeschehen des "Dritten Reichs" hin. Ist damit nicht erwiesen, dass die sogenannten "Stämme" - zumal angesichts des offenbar seit 1942 waltenden Erwartungshorizontes einer "deutschen Weltsprache" - über kurz oder lang dem Reich ihre Mundarten zum Opfer würden darbringen müssen?
Zur Erhärtung der These einer amtlich betriebenen "Mundart-Ausmerzung" - wider allen politischen Pragmatismus - bieten die von mir bislang gesichteten Indizien noch keine überzeugende Grundlage. Was in dieser Sache wirklich vonstattenging, lässt sich nur durch solide und materialreiche Regionalstudien erhellen. Für meinen eigenen südwestfälischen Forschungsbereich deutet alles hin auf eine mundartfreundliche Kulturpolitik. Unten wurden die Nazis vielfach geradezu als Retter und Bewahrer "stammeseigener Kulturgüter" betrachtet. Die Juden hingegen, so schrieb ein Heimatmatador 1942, seien Schuld am Niedergang des Plattdeutschen und an einer Verachtung des ländlichen Menschen.
Vor wenigen Wochen hat mir der Historiker Dr. Karl Ditt einen äußerst interessanten neuen Archivfund mitgeteilt, der ein Schreiben des Reichspropagandaministers betrifft. Joseph Goebbels habe auf eine Anfrage des westfälischen Landeshauptmanns Kolbow am 2. Mai 1942 (!) geantwortet, dass man trotz kriegsbedingter Maßnahmen im Bereich der Papierwirtschaft "nachwievor an höchster Stelle die wichtige Aufgabe der Pflege der deutschen Mundarten" nicht vernachlässige.
Die von mir zusammengestellten Voten Adolf Hitlers zeigen, dass dieser den Dialekten nicht zugetan war. Sie ergeben jedoch noch kein "Ausmerzungsprogramm". Selbst wenn die Befunde anders ausfielen, bliebe die Frage, welche Kompetenzen dem "Führer" des NS-Staates in dieser Frage wirklich zukamen. Ein nennenswerter Einfluss Hitlers auf Programmatik und Praxis nationalsozialistischer Kulturpolitik gilt in der Forschung keineswegs als erwiesen.