Hoch und Tiefs kommen nicht mehr voran

Hochwasserschäden in der Rathausstraße Hagen, Juli 2021. Bild: Klaus Bärwinkel/CC BY-SA 4.0

Physik, der Jetstream und der sich erwärmende Nordpol sind Grund für die Starkregenereignisse in dieser Woche Westdeutschland. Sie werden zunehmen und Normalität werden. Kanzlerkandidat Armin Laschet braucht offensichtlich Nachhilfe

Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) ist nicht wie geplant zur CSU-Klausur nach Bayern gereist, sondern in die Hochwassergebiete Südwestfalens. Und zwar nach Hagen: Die Stadt wurde komplett überflutet, ein Seniorenheim musste evakuiert werden, die Einsatzkräfte berichteten von eingestürzten Wänden und Gebäudeteilen, Geröllmassen versperrten die Straßen.

"Als noch die Sonne schien, und niemand erahnen konnte, dass etwas passiert, hat man hier in Hagen die Vorbereitungen für den der Krisenstab bereits gefällt", lobte Laschet. Deshalb sei noch Schlimmeres verhindert worden.

Allerdings hätte er es besser wissen können. Die Wissenschaft erklärt zwar immer wieder, dass ein einzelnes Wetterphänomen nicht belegen kann, dass der Klimawandel längst da ist. Allerdings erklärt sie uns auch, dass die Mechanismen einer veränderten Erdatmosphäre dafür sorgen, dass sich Wetter bei uns verändert. Einmal mehr haben dies die Starkregen in dieser Woche gezeigt. Die Elbeflut 2002 brachte 45 Menschen um, an diesem Freitagabend wurden 106 Tote gezählt - obwohl 2002 doppelt so viel Regen niederprasselte, wie jetzt in Westdeutschland.

Die Logik hinter Starkregenereignissen

Physikalisch betrachtet sind die zunehmenden Starkregenereignisse logisch: Wärmere Luft kann mehr Wasser speichern, pro Grad zusätzlich saugen sich die Luftmassen mit 7 Prozent mehr Feuchtigkeit voll. Deutschland hat sich nach Angaben des Deutschen Wetterdienstes seit 1881 bereits um 1,6 Grad erhitzt. Die Zahl der Tage, an denen die Temperatur über 30 Grad Celsius steigt, hat sich im gleichen Zeitraum fast verdreifacht, seit dem Jahr 2001 haben die Starkregenereignisse deutlich zugenommen.

Seit dem Jahr 2001 misst der Deutsche Wetterdienst Starkregenereignisse mittels Radar. Dank der Funkortung identifiziert der DWD nun auch kleinste Gewitterzellen. Zwar ist die Radar-Datenreihe noch zu kurz, um daraus mit wissenschaftlicher Gewissheit Schlüsse abzuleiten. In der Klimaforschung werden mindestens 30-Jahres-Zeiträume betrachtet, die Radars aber arbeiten erst seit 20 Jahren.

Doch Tendenzen lassen sich bereits erkennen - sogar wenn man 2006, 2014 und 2018 ausklammert, in denen es ganz besonders viele Starkregen gab und die deshalb das Gesamtbild verzerren könnten. "Selbst wenn wir extreme Jahre herausrechnen, sehen wir, dass die Zahl der Starkregenereignisse seit Beginn der Radarmessungen zugenommen hat", sagt Andreas Becker, Niederschlagsexperte beim Deutschen Wetterdienst.

Während der Wetterdienst Anfang der 2000er-Jahre 500 bis 700 Starkregen jährlich registrierte, stieg die Zahl zuletzt auf mehr als eintausend pro Jahr - besonders viele davon in den Sommermonaten. "Damit bestätigen die Messergebnisse in der Tendenz, was unsere Klimamodelle vorhersagen", sagt DWD-Andreas Becker. "Wir haben seit Einführung des Radars 22 000-mal die Schwellenwerte für eine Unwetterwarnung überschritten." Das sind im Durchschnitt täglich gut drei Fälle.

Weil aber die allermeisten Starkregen in den vier Monaten Mai bis August auftreten, sind es in dieser Zeit mehr als zehn Warnmeldungen pro Tag.

Andreas Becker

Mehr in der Luft gespeichertes Wasser, bedeutet auch mehr Energie, bedeutet mehr Zerstörungskraft: 2016 traf es Braunsbach, die "Perle im Kochertal" wurde im Mai von einer Sturzflut verwüstet. In Simbach am Inn in Niederbayern sorgte ein Extremregen Anfang Juni 2016 für ein sogenanntes tausendjährliches Hochwasser, im Fachjargon "HQ 1000".

Mehrere Jahrhundertfluten

Autos wurden gegen Wände geschleudert, Straßen und Brücken weggerissen, ganze Haushalte verschüttet - derartige Wetterereignisse waren statistisch bislang nur einmal in eintausend Jahren möglich. Aber durch den Klimawandel sind solche Statistiken durcheinandergeraten: Nach dem Jahrhundert-Hochwasser 2002 folgte im Elbtal 2013 schon die nächste Jahrhundertflut mit Pegelständen von bis zu zehn Metern - obwohl das doch statistisch erst in einem Jahr ab 2100 hereinbrechen durfte.

2017 traf es Goslar im Harz, 2018 erwischte es zuerst das Vogtland, dann Orte in der Eifel, Dudeldorf zum Beispiel, Kyllburg oder Hetzerode. 2019 war Kaufungen nahe Kassel dran oder Leißling nördlich von Naumburg an der Saale, 2020 dann das fränkische Herzogenaurach oder Mühlhausen in Thüringen. Die Liste ließe sich beliebig erweitern.

Der Jetstream

Neben der Physik ist auch der Nordpol an unseren neuen Wetterextremen "Schuld". Beziehungsweise der Jetstream - zu Deutsch "Strahlstrom" - ein Höhenwind, der mit bis zu 540 Kilometer pro Stunde zwölf Kilometer über unsere Köpfe hinweg pfeift. Zum Vergleich: Hurrikan "Patricia" brachte es 2015 in erdnahen Schichten "nur" auf 345 Kilometer pro Stunde, die bis dato stärkste je gemessene Windgeschwindigkeit über dem Atlantik.

Aber nicht seine Geschwindigkeit ist für uns maßgeblich, sondern die Wellenbewegung des Windes: Wie eine endlose Sinuskurve mäandert er von West nach Ost über die Nordhalbkugel und bestimmt so unser Wetter. Seine Wellenbewegung treibt die Hoch- und Tiefdruckgebiete weiter.

Angetrieben wird dieser Höhenwind wie jeder anderer von einer Temperaturdifferenz - in diesem Falle von der Tropen zur Arktis. Allerdings erhitzt sich der Nordpolarraum viel stärker als die meisten anderen Weltgegenden, das arktische Meereis schrumpft dramatisch.

Inzwischen treibt sich die Entwicklung selbst an: Helles Eis reflektiert viel Sonnenlicht zurück ins All - ist das Eis jedoch erstmal verschwunden, absorbiert der darunter zum Vorschein kommende dunkle Ozean noch mehr Strahlungsenergie, die Arktis wird noch wärmer, noch mehr Eis schmilzt, die Temperaturdifferenz sinkt immer weiter. Ein Teufelskreis. Der uns extremeres Wetter beschert.

"Dieses Starkwindband gilt eigentlich als Motor für die Hoch- und Tiefdruckgebiete", sagt die Meteorologin Verena Leyendecker. Weil der Antrieb aber geringer wird, "kommen die Hoch und Tiefs nicht mehr voran", so die Expertin vom Wetterdienst Wetteronline. "Deshalb lag das Tief 'Bernd' so lange bei uns, und hat uns so lange diesen Niederschlag gebracht."

Aus den Fugen

Das gemäßigte Klima in Deutschland gerät also aus den Fugen, und weil sich das Schmelzen der Arktis immer weiter beschleunigt sind die Bilder dieser Tage nur eine Vorahnung, auf das was kommt. Denn der durcheinander geratene Jetstream sorgt nicht nur für mehr Regen, sondern auch für mehr Hitze und Dürre.

2018 war der Höhenwind für den ausbleibenden Regen in Deutschland genauso verantwortlich, wie für die Extremtemperaturen 2019. Der lahmende Jetstream "hat auch in der vergangenen Woche dafür gesorgt, dass es in der USA so extrem heiß war", sagt Meteorologin Leyendecker. Im Südwesten wurden mehr als 50 Grad gemessen.

"Wir nehmen diese Starkwetterereignisse, Hitzeereignisse wahr, sie sind verbunden mit Klimawandel", sagte Kanzlerkandidat Armin Laschet. "Wir brauchen mehr Tempo bei den Maßnahmen zum Klimaschutz." Ausgerechnet sagt das der Ministerpräsident, der als eine seiner ersten Amtshandlungen das Klimaministerium in Nordrhein-Westfalen abgeschafft hat.