"Hochriskantes Embargo von russischem Erdgas"

Studie: Soziale Folgen wahrscheinlich gravierender als Corona-Krise oder Finanzkrise 2009. Befürchtet werden erhebliche Produktionseinbußen, Insolvenzen, Preisschocks und gesteigerte Arbeitslosigkeit

Ein abruptes Ende der russischen Erdgaslieferungen binnen eines Jahres wäre für die deutsche Volkswirtschaft hochriskant. Weitaus leichter sei dagegen ein Stopp bis 2025. Binnen drei Jahren sei die Anpassung wesentlich besser zu bewältigen, so der Horizont, den eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Tom Krebs aufzieht. Sie befasst sich mit den Auswirkungen eines Erdgasembargos auf die gesamtwirtschaftliche Produktion in Deutschland.

Das Drängen auf ein möglichst schnelles Erdgasembargo hätte demnach mit erheblichen Produktionseinbußen zu rechnen: Es drohe ein Verlust des Bruttoinlandsprodukts von rund 3 bis 8 Prozent, so die Modellrechnungen. Das ist aber nicht alles. Darüber hinaus sei als Folgeerscheinung auch mit großem sozialem Stress zu rechnen. Beides gelte auch für eine von Russland verfügte rasche Einstellung der Gas-Lieferungen. So lautet grobgefasst das Ergebnis der Studie, die die Hans-Böckler-Stiftung des DGB heute vorstellt.

Das Fazit in den Worten des Professors für Makroökonomik und Wirtschaftspolitik fällt drastisch aus:

Es wäre mit einem Einbruch der Wirtschaftsleistung zu rechnen, der mit Corona 2020 oder Finanzkrise 2009 vergleichbar ist. Im schlimmsten Fall könnte es zu einer Wirtschaftskrise kommen, wie sie (West)Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat.

Tom Krebs

Die sozialen Folgen, so der Wirtschaftswissenschaftler, der schon öfter als Sachverständiger im Bundestag aufgetreten ist, wären "sehr wahrscheinlich wesentlich gravierender und dauerhafter" als in den Krisenjahren 2009 und 2020. Gründe: "Industrie wird direkt getroffen, 2 Jahre Corona-Krise, hohe Inflation."

Überwiegend betroffen wären die unteren und mittleren Einkommen, "so dass soziale Spannungen verschärft werden".

Die Wirtschaft hätte angesichts aufgrund von Preisschocks bei Energie und Nahrungsmitteln mit einer sinkenden Nachfrage zu rechnen, in Verbindung mit den ohnehin bestehenden Schwierigkeiten bei den Lieferketten und der Umstellung der Wirtschaft auf eine klimafreundlichere Produktion mit "vermehrten Insolvenzen" und letztlich mit einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Gegensteuerungsmaßnahmen würden schwierig, da die Möglichkeiten der Wirtschafts- und Geldpolitik angesichts schon stark erhöhter Ausgaben zur Abfederung der Corona-Krise und angesichts der hohen Inflation bereits "sehr eingeschränkt" seien.

Wie man an dieser Aussicht erkennen kann, nehmen "Kaskaden-" oder "Zweitrundeneffekte" eines Gasembargos, drastisch gefasst als "Erdgasschock" durch kurzfristige Lieferstopps, eine zentrale Stellung in der Untersuchung über mögliche Auswirkungen des schnellen Stopps der Erdgaslieferungen aus Russland ein.

Für die Auswirkungen auf die Industrie selbst, die, wie bereits berichtet, Konzernleitungen vor gravierenden Effekten auf Wertschöpfungsketten warnen ließ, hat die Studie mehrere Szenarien durchgespielt.

Basisszenario und optimistischeres Alternativszenario

Als Rahmenannahme geht die Studie von einem vollständigen Import- bzw. Lieferstopp von Erdgas zwischen der EU und Russland zwischen Anfang Mai 2022 und Ende April 2023 aus.

Dabei wird sowohl ein Basisszenario als auch ein optimistischeres Alternativszenario zugrunde gelegt. Bei letzterem kann "kurzfristig deutlich mehr russisches Erdgas durch Lieferungen aus anderen Ländern ersetzt" werden, als es aktuelle Krisenpläne von Bundesregierung und der EU erwarten.

Die Zahlen für diese Modellrechnungen lassen sich in aller Kürze auf Tabellen hier entnehmen oder etwas ausführlicher in der Pressemitteilung der Böckler-Stiftung.

Bemerkenswert ist die Auflistung der erdgasintensiven Industrien: Chemie, insbesondere Grundstoffchemie, Metallerzeugung und -bearbeitung sowie Gießerei, Glas und Keramik, Steine und Erden, Ernährung, das Papiergewerbe und der Maschinen- und Fahrzeugbau. Für diese Industriezweige sei Erdgas ein "essentieller und schwer ersetzbarer Inputfaktor im Produktionsprozess".