Stopp für Erdgas aus Russland: Industrievertreter warnen vor massiven, irreparablen Schäden

Das Abstellen der Gaslieferungen von der russischen Seite sei "nicht zielführend"

Die Unsicherheit darüber, welche Nachrichten und Kommentare als seriös und sachlich einzustufen sind, setzt sich fort. Gab gestern Vormittag Kanzler Scholz die Beruhigungspille aus, dass Gaslieferungen aus Russland weiterhin vertragsgemäß in Euro bezahlt werden, so zeigte sich am späten Nachmittag, dass die russische Seite die Zahlungsmodalitäten und garantierte Lieferungen nicht ganz so einfach handhaben will.

Gemeldet wurde, dass Putin ein Dekret unterzeichnet habe, das von den Vertragspartnern verlange, dass sie Erdgas zwar in Euro bei der Gazprom-Bank bezahlen können. Zugleich müssen sie jedoch ein Konto anlegen, das mit einem Tausch in Rubel verbunden ist.

Experten, die sich eilig mit der Auslegung des Dekrets befassten, etwa gestern Nachmittag im Deutschlandfunk, wiesen darüber hinaus auf Bestimmungen hin, die es ermöglichen, die Erdgas-Lieferung an "unfreundliche" Geschäftspartnern zu stoppen.

Clearing-Stelle Gazprom-Bank

Von nüchternen Beobachtern des Energiemarktes, die sich anders als Politiker und Haltungs-Journalisten nicht um polit-psychologische Botschaften und Positionierungen bemühen müssen, wird der Schritt als geschäftliches Angebot der russischen Regierung gesehen, die Gazprom-Bank, die nicht von Sanktionen eingeschränkt ist, zu einer Clearing-Stelle zu machen.

Die Erdgas-Kunden können demnach weiter in Euro zahlen, die Gazprom-Bank wandelt die Euro in Rubel um, indem sie mit den Euro Rubel kauft. Damit würden den Kunden dieser Schritt abgenommen. Zugleich werde der Devisenhandel unter Kontrolle behalten.

Noch am Freitagmorgen war bei Interviewpartnern von Morgen-Nachrichten eine unüberhörbare Irritation darüber zu bemerken, welche präzisen Schlüsse aus dem Dekret zu ziehen sind. Man konzentrierte sich darauf, den erpresserischen Kern, die Macht Putins, darin herauszuschälen.

Kanzler Scholz zeigte sich "gelassen", wie es die Zeit aus Hamburg sieht: "Auf alle Fälle gilt für die Unternehmen, dass sie in Euro zahlen wollen, können und werden."

Bedauerliche Fehler

Mit einiger Sicherheit lässt sich gegenwärtig nur konstatieren, dass auf die Bevölkerung eine erhebliche Verteuerung zukommt. Die Gaspreise werden, unabhängig von der Auslegung des Dekrets, aufgrund der Marktkonstellation nicht billiger. Obendrein haben die hohen Gaspreise höhere Preise für andere Waren im Schlepptau. Auf der Webseite energy-europe.eu heißt es zum Thema hohe Gaspreise:

Bei der Analyse dieser Fakten drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die Politik der EU, zugunsten der Spotmärkte auf langfristige Lieferverträge zu verzichten, bedauerlicherweise eine der wichtigsten Ursachen für den Preisanstieg beim Erdgas ist.

energy-europe

Die Befürchtung, dass die Regierung in Moskau ihre Eskalationsdominanz bei der deutschen Gasversorgung - in Frankreich ist das bei einem 20 Prozent-Anteil von Gaseinimporten aus Russland kein derart großes Thema - mit der Drohung eines Stopps der Erdgaslieferungen ausspielen könnte, ist nicht vom Tisch.

Moralischen Appellen, dass der Einfuhrstopp als Zeichen einer entschiedenen Haltung Deutschlands gegenüber Putin jetzt fällig sei, wie auch Einschätzungen, wonach der Einfuhrstopp schon nicht so schlimm ausfallen würde, traten in den letzten Tagen Vertreter der Industrie mit ihren Einschätzungen entgegen.

"Kein internationaler Markt, in dem es genügend Gas gibt"

Sie machen auf Konsequenzen aufmerksam, bei denen sich das Beiwort "katastrophal" aufdrängt. So zum Beispiel der Eon-Vorstandschef Leonhard Birnbaum in den Tagesthemen am 28. März: "Wir haben keine Möglichkeiten, Gas, wenn wir russische Importe abstellen, komplett zu ersetzen aus anderen Quellen. Es gibt keinen internationalen Markt, in dem es genügend Gas gibt."

Das Gas von der russischen Seite abzustellen, so Birnbaum, sei "nicht zielführend". Das schade uns mehr als der anderen Seite.

Wir reden dann schon über sehr massive Schäden. (…) Das würde bedeuten, dass die Industrie nicht mehr genügend Gas kriegt, und das bedeutet, industrielle Produktion fällt weg, Wertschöpfungsketten fallen weg und dann kann es natürlich zu Folgeeffekten kommen. (…)

Es kann dann sein, dass einem Automobilwerk demnächst nicht mehr nur der Chip fehlt, sondern es fehlt die Lenkstange, weil der Stahlproduzent kein Gas bekommen hat, um die Lenkstangen zu behandeln. (…) Nochmal: Das ist ein Szenario, dass massive Schäden für die deutsche Volkswirtschaft zur Folge hätte. Dewqegen wollen wir das, wenn es irgendwie geht, vermeiden.

Leonhard Birnbaum, Tagesthemen

Auch BASF-Vorstandschef Martin Brudermüller warnt in einem Interview mit der FAZ vor irreversiblen Schäden. Nicht nur für die BASF, wo man die Produktion, "wenn die Versorgung deutlich und dauerhaft unter 50 Prozent unseres maximalen Erdgasbedarfs sinkt", etwa beim Standort in Ludwigshafen zurückfahren oder ganz herunterfahren müsse. Sondern im ganzen Land.

Mit Sparappellen komme man da nicht sehr weit.

Es reiche nicht, "dass wir jetzt alle mal die Heizung um 2 Grad runterdrehen". Wenn der 55 Prozent-Anteil des deutschen Gasverbrauches, das die russischen Lieferungen abdecken, über Nacht wegfielen, "dann würde hier vieles einbrechen":

Wir würden Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau bekommen, viele Unternehmen würden insolvent. (…) Um es klar zu sagen: Das könnte die deutsche Volkswirtschaft in ihre schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs bringen und unseren Wohlstand zerstören.

Martin Brudermüller, FAZ

Brudermüllers Einschätzung zufolge könne man, "wenn wir uns beeilen", in vier bis fünf Jahren vom russischen Gas wegkommen. Birnbaum schätzt den Ausstiegszeitraum auf drei Jahre.