Humanitär töten

Seite 2: Am Ende leidet die Zivilbevölkerung

Die Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft hat vor allem Konsequenzen für die Zivilbevölkerung. Gegen die klassischen Proportionalitätserwägungen des Kriegsvölkerrechts (die den Tod und die Verletzung Unbeteiligter einkalkulieren) wurden nun Menschenrechte zur Legitimation einer militärischen Intervention aufgewogen. Anders als zuvor standen nicht nationale Eigeninteressen im Vordergrund – die wohlmeinend-optimistisch formulierten Ziele der R2P-Norm waren humanitärer Art.

Auf dem UN-Weltgipfel 2005 verkündete der damalige Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, dass die Welt "eine kollektive Verantwortung übernommen habe und bereit sei, Gewalt anzuwenden, um Bevölkerungen vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu schützen.

Die internationale Staatengemeinschaft habe zwar nicht rechtlich, jedoch moralisch eine subsidiäre Verantwortung, massenhafte und massive Menschenrechtsverletzungen, notfalls auch mit militärischer Gewalt zu stoppen.

Im Kern von R2P liegt eine Neuinterpretation des Souveränitätsbegriffs – Souveränität wurde nonchalant nicht mehr als Kontrolle über Territorium verstanden, sondern als Verantwortlichkeit. Die menschenrechtlichen Grundnormen, die das Verständnis legitimer staatlicher Gewalt – und damit das Verständnis von Souveränität – veränderten, sind das Recht auf Leben, das Verbot von Folter und Sklaverei und das Verbot der Diskriminierung.

Sie gehören völkerrechtlich zum zwingenden Recht, das keine Abweichungen erlaubt (ius cogens) und das überdies der gesamten Staatengemeinschaft und anderen Völkerrechtssubjekten geschuldet wird (erga omnes). Daraus ergibt sich ein Eingriffsrecht bei Verletzung fundamentaler Menschenrechte.

Zum ius cogens gehört allerdings auch das Gewaltverbot, von dem einzig die individuelle und kollektive Verteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta ausgenommen ist. Aufgrund des Gewaltverbots ist eine militärische Intervention nur dann erlaubt, wenn der UN-Sicherheitsrat einhellig Zwangsmaßnahmen nach Kapitel sieben autorisiert.

Und jetzt? Ist die viel gepriesene "Schutzverantwortung" der UN nichts als ein leeres Versprechen? Nun sind die Kriterien für eine legitime Intervention hoch angesetzt: ein gerechtfertigter Grund, rechte Absicht, Ultima Ratio, Proportionalität und vernünftige Erfolgsaussichten müssen erfüllt sein. Die Kriterien haben ihren Ursprung in der Bellum-Iustum-Auffassung, an die während der 1990er-Jahre in der Debatte um "humanitäre Interventionen" angeknüpft wurde.

Die R2P-Norm verhinderte seit ihrer Verabschiedung 2005 noch nie Gräueltaten und sie versagt auch jetzt beim Schutz von Zivilisten in der Ukraine. Schlimmer noch: Die Anrufung von R2P, die die Regierungsvorsitzenden der Ukraine und Russland gleichermaßen betreiben, trägt zur Konflikteskalation und Festigung von Feindbildern bei. Die Kombination aus beidem erhöht bekanntlich die Tötungsbereitschaft.

"Responsibility to Protect" hat auch Friedensgesellschaften verändert

Etwas hat die Norm auch in den westlich-demokratischen Friedensgesellschaften verändert: "Responsibility to Protect" sei eine neue internationale Verhaltensnorm, "für deren Verletzung sich die meisten Staaten schämen, oder sich zumindest schämen, sie zu ignorieren" (Gareth Evans, Global Centre for the Responsibility to Protect, 2020).

Gewollt war ein Bewusstseinswandel, hin zu "einer reflexhaften internationalen Reaktion, dass massenhafte Verbrechen, die stattfinden oder bevorstehen, alle und nicht niemanden etwas angehen" (The New York Times vom 11.3.2012). Die humanitär motivierte Schutzverantwortung der Vereinten Nationen bleibt vor allem ein politisch-moralisches Konzept.

Dass dato in der Bundesrepublik aus dieser moralischen Pflicht zur Betroffenheit und emotionalen Involviertheit sogar die Pflicht zur Parteinahme geworden ist, aus der niemand vom Unterstufenschüler bis zur Opernsängerin entlassen wird, könnte eine verstörende Begleiterscheinung sein.

Das Postulat der Verpflichtung zu menschenrechtlich begründeten militärischen Interventionen ist eine Argumentationsfigur des "liberalen" Paradigmas internationaler Politik.

Responsibility to Protect ist einer liberalen kosmopolitischen Moral verpflichtet, die staatliche Grenzen gering achtet und transnationale Verpflichtungen zwischen Individuen in den Mittelpunkt stellt. Denn R2P postuliert faktisch eine allgemeine Verpflichtung, überall auf der Welt, notfalls mit militärischen Mitteln, schwere Gewalttaten zu unterbinden und im Dienst der Humanität Krieg zu führen, wenn sich dadurch schlimme Übel beenden lassen.

Dagegen besteht aus Sicht der "realistischen Denkschule" Verantwortung zuallererst in der Durchsetzung nationaler Interessen. Eigene Staatsbürger zur Rettung anderer in den Krieg zu schicken, ohne dass grundlegende nationale Interessen auf dem Spiel stehen, ist aus dieser Sicht moralisch verantwortungslos. Eine globale militärische Hilfspflicht steht im Widerspruch zu dem "Vertrag", den Soldaten mit ihrer Gesellschaft schließen: dass sie notfalls ihr Leben für deren Interessen opfern.

Ein weiteres Dilemma ist, dass humanitäre Militärinterventionen mit dem Ziel, Menschenleben zu retten, oft als kurzzeitige Operationen zu geringen eigenen Kosten dargestellt werden. In der Praxis können sie jedoch kaum erfolgreich sein, weil Menschenrechtsverletzungen in einem Kontext geschehen, der eine dauerhafte Befriedung erfordert (unter anderem mit einer Gesetzgebung zum Schutz von Minderheiten in der Ukraine, einer Friedensordnung, und Wiederaufbau). Insbesondere nach einem Regimewechsel ist mit langfristiger gewalthaltiger Instabilität zu rechnen.

Die Moralisierung des Völkerrechts durch R2P hat nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf die internationale Debatte zur Kriegsbeteiligung in der Ukraine. Im Sinne einer Bewertung mit dem Prinzip R2P sind Kriegsbeihilfen wie Waffenlieferungen auch in dieser für alle Ukrainer furchtbaren Situation menschenrechtlich nicht zu rechtfertigen.

Die notwendigen Kriterien – Proportionalität und Erfolgsaussichten – werden nicht erfüllt. Die menschlichen Kosten einer solchen Unterstützung sind im Vergleich zum Nutzen unverhältnismäßig groß und es ist unwahrscheinlich, dass die angestrebten humanitären Ziele erreicht werden. Nicht nur Selenskij blendet Probleme der Umsetzung, ungünstige Erfolgsaussichten und vor allem die Folgenverantwortung aus.

Die Situation ist zum Verzweifeln zynisch: Ist die Zivilbevölkerung akut gefährdet, bemisst sich die Zulässigkeit von Kriegshandlungen allein nach dem Humanitätsgebot. Das bedeutet im Regelfall, dass Kriegshandlungen unterlassen werden müssen.

Dem Westen bleibt derzeit nur das pragmatische Kalkül, dass die Sanktionen funktionieren werden und die Regierung in Moskau bröckelt – das wird dauern und es werden mehr Menschen sterben. Um den Aggressor in die Knie zu zwingen, muss der Krieg weitergehen – ergo werden Waffen geliefert.

Es wäre integrer und ehrlicher, den verzweifelten Ukrainern keine falsche Hoffnung mehr zu machen. Daran sollte sich als Erstes auch Selenskij beteiligen, indem er die von ihm verhängte Ausreisesperre für Männer zwischen 18 und 60 aufhebt.