ICD-11 erschienen: Computerspielen kann als psychische Störung diagnostiziert werden
Seite 2: Erforschung der Computerspielstörung
- ICD-11 erschienen: Computerspielen kann als psychische Störung diagnostiziert werden
- Erforschung der Computerspielstörung
- Beispiel: Einflussreiche ADHS-Studie
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Mir wäre nicht bekannt, welchen wissenschaftlichen Durchbruch es seitdem für eine Computerspielstörung gegeben haben sollte. Im April erschien beispielsweise eine Studie südkoreanischer Forscher, die 16 "Patienten" mit "Internetspielstörung" (Internet Gaming Disorder, IGD) und 15 "Patienten" mit "Internet-Glückspielstörung" (internet-based Gambling Disorder, ibGD) untersuchten. Zur "Diagnose" waren verschiedene, von Wissenschaftlern vorgeschlagene Fragebögen verwendet worden.
Die Studie ergab, dass die "Patienten" von einer Behandlung mit dem Medikament Bupropion profitierten. Dieses Mittel wird mitunter zur Rauchentwöhnung verwendet, soll die Stimmung verbessern und Menschen beruhigen. Darum wird es manchmal auch bei Depressionen oder Aufmerksamkeitsstörungen verschrieben. Anders könnte man es so formulieren: Das stimmungsverbessernde Mittel verbessert die Stimmung auch von Menschen, die online viel zocken, seien es Computerspiele oder Glücksspiele.
Weil Ärzte die Substanz verschreiben und Apotheken wie Pharmaunternehmen damit Geld verdienen, sprechen wir vom Medikamenten-, nicht vom Drogenkonsum. Wir erinnern uns daran, dass Psychiater Substanzabhängigkeit eigentlich behandeln wollten und darum eine Reihe von Suchtstörungen in ihr Diagnosehandbuch aufnehmen. Sie sind gleichzeitig aber selbst diejenigen, die mitunter in beträchtlichen Mengen sehr ähnliche Substanzen unters Volk bringen.
Hirnbefunde
Die erwähnten südkoreanischen Forscher haben aber auch Hirnaktivierungen ihrer "Patientengruppen" verglichen, und zwar nach zwölf Wochen mit der Bupropion-Behandlung. In der Schlussfolgerung finden sich dann wunderbare Sätze, wie: "After 12 weeks of bupropion treatment, the FC within the DMN as well as between the DMN and CCN decreased in patients with IGD, whereas the FC within the CCN increased in patients with ibGD."
Keine dieser Abkürzungen hier bezeichnet ein konkretes Ding, sondern ausschließlich Konstrukte. Wofür IGD oder ibGD stehen, das haben wir bereits gesehen. Mit DMN ist eine Reihe von Gehirnregionen gemeint, die beim Nichtstun stärker aktiv sind; als CCN wird ein Gehirn-Netzwerk für kognitive Kontrolle bezeichnet. Also fand man bei den Computerspielern eine etwas geringere Korrelation, bei den Glücksspielern eine etwas höhere Korrelation von Gehirnaktivierungen miteinander. Das ist "funktionelle Konnektivität", kurz FC.
Kein Mensch weiß, was das für die Praxis bedeutet. Das Argument für die Aufnahme der Glückspielstörung in das DSM war, wie wir gesehen haben, dass die Hirnaktivierung beim Glücksspielen der beim Substanzkonsum ähnle.
Nun könnte man die neue Studie als Argument dafür verwenden, dass exzessives Online-Computerspielen gerade keine Störung ist, da sich die Gehirnaktivierung von der beim Online-Glücksspielen unterscheidet. Es liegt eben im Auge des Betrachters, wie man die Hinweise interpretiert, genauer: in den Augen der Bunch of Old Guys Sitting Around a Table.
Eigenleben wissenschaftlicher Konstrukte
Man sollte die Macht solcher Konstrukte aber nicht unterschätzen. Glauben die Wissenschaftler erst einmal an ihre IGDs, ibGDs, DMNs, CCNs und viele weitere Exemplare des Konstruktezoos, dann führen diese schnell ein Eigenleben. Immer neue statistische Korrelationen werden gesucht - und gefunden. Friedrich Nietzsche formulierte dies schon sehr schön in der Fröhlichen Wissenschaft von 1882/1887:
Dies hat mir die größte Mühe gemacht und macht mir noch immerfort die größte Mühe: einzusehen, daß unsäglich mehr daran liegt, wie die Dinge heißen, als was sie sind. Der Ruf, Name und Anschein, die Geltung, das übliche Maß und Gewicht eines Dinges - im Ursprunge zu allermeist ein Irrtum und eine Willkürlichkeit, den Dingen übergeworfen wie ein Kleid und seinem Wesen und selbst seiner Haut ganz fremd - ist durch den Glauben daran und sein Fortwachsen von Geschlecht zu Geschlecht dem Dinge allmählich gleichsam an- und eingewachsen und zu seinem Leibe selber geworden; der Schein von Anbeginn wird zuletzt fast immer zum Wesen und wirkt als Wesen!
Friedrich Nietzsche
Es sind also erst einmal nur Namen. Nach einer Weile scheint es aber so, als würden die Namen wichtiger als die Dinge, die sie bezeichnen. Schließlich wird der Name das Wesen des Dings, seine Essenz. Ganz analog dazu verhält es sich in der Medizin, wo Patienten irgendwann in erster Linie keine Menschen mehr sind, sondern nur noch Etiketten ihrer Erkrankungen oder psychischen Störungen - also die Namen für die Probleme, mit denen sie ursprünglich zum Arzt oder Psychologen gingen.
Internetspieler haben kleinere Hirne?
Eine erst am 8. Juni erschienene Studie chinesischer Forscher mit Beteiligung von Lingdan Wu an der Universität Konstanz verglich das Gehirnvolumen von 38 Personen mit "Internetspielstörung" und 66 normalen Computerspielern. In der "Problemgruppe" war die gemessene kortikale Dicke in zahlreichen Regionen geringer, etwa im linken Frontallappen oder im unteren Parietallappen.
Solche Studien sind aber mit Vorsicht zu genießen: Die statistisch signifikanten Ergebnisse gelten nur auf Gruppenniveau und betreffen oft nur sehr kleine Unterschiede. Zudem können die Gehirnunterschiede durch zahlreiche Faktoren bedingt sein.
Verschiedene Ursachen
So vermuten beispielsweise zahlreiche Psychologen, dass extremes Spielverhalten selbst eher ein Symptom einer anderen Problematik sein kann und nicht die Hauptursache. Denken wir etwa an das soziale Umfeld der Menschen, wie viele Probleme und Herausforderungen es darin gibt und wie sie damit umgehen.
Keinesfalls ist mit so einem Gehirn-Befund aber das Konstrukt einer "Internetspielstörung" oder, wie jetzt von der WHO klassifiziert, einer "Computerspielstörung" realer geworden. Man könnte auch die Gehirne von Telepolis-Lesern mit denen von Spiegel-Lesern vergleichen - und selbst wenn Letztere ein geringeres Hirnvolumen hätten, würde dies nicht für eine "Spiegel-Leser-Störung" sprechen.
Publikationskultur
Zudem spielt auch eine Rolle, dass Forscher solche signifikanten Unterschiede finden müssen, um ihre Ergebnisse zu publizieren (Warum die Wissenschaft nicht frei ist). Wer nicht publiziert, der scheidet aus dem Wettbewerb aus.
Ein gegenteiliger Fund, dass es keinen Unterschied zwischen zwei Gruppen gibt, wäre dabei praktisch zwar sehr aufschlussreich, würde von den meisten Fachzeitschriften aber abgelehnt. Statistische Signifikanz wird heute in der Wissenschaft wie ein Fetisch verehrt. Dabei wissen die meisten gar nicht mehr, wozu diese Tests ursprünglich entwickelt wurden.
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