ICD-11 erschienen: Computerspielen kann als psychische Störung diagnostiziert werden
Seite 3: Beispiel: Einflussreiche ADHS-Studie
- ICD-11 erschienen: Computerspielen kann als psychische Störung diagnostiziert werden
- Erforschung der Computerspielstörung
- Beispiel: Einflussreiche ADHS-Studie
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Ein Kunststück war in dieser Hinsicht die 2017 erschienen Studie eines internationalen Forscherteams mit deutscher Beteiligung um Martine Hoogman von der Universität Nijmegen: Die Schlussfolgerung war, dass Menschen mit ADHS-Diagnose andere Gehirne hätten als Menschen ohne Diagnose: "Wir bestätigen …, dass Patienten mit ADHS veränderte Gehirne haben; deshalb ist ADHS eine Gehirnstörung."
Tatsächlich unterschieden sich die Gehirne der allermeisten Personen in den beiden Gruppen aber gerade nicht voneinander. Die statistischen Verfahren wählten schlicht kleine Unterschiede einer Teilgruppe der ADHS-Personen aus, die dann von den Forschern verabsolutiert wurden. Allen Ernstes zu behaupten, ADHS sei eine Gehirnstörung, wenn sich die Gehirne von Menschen mit oder ohne ADHS in den allermeisten Fällen nicht unterscheiden, hat schon etwas von einer Persönlichkeitsspaltung.
Kritiker merkten zudem an, dass sich die Gruppen in ihrem Intelligenzquotienten unterschieden. Die gefundenen, minimalen Unterschiede im Gehirn könnten also schlicht darauf zurückzuführen sein. Dennoch steht der Befund nach wie vor in einer der wichtigsten psychiatrischen Fachzeitschriften, Lancet Psychiatry, und wird von den meisten Kollegen und Medien kritiklos aufgegriffen.
Neue Störungen
Die Entität ADHS kam mit dem DSM-III-R von 1987 auf die Welt (30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS). Im Jahre 2018 gibt es nun auch eine Computerspielstörung, nämlich im ICD-11.
Zweifellos werden jetzt noch mehr Experten und Forscher diese Kategorie erforschen, diagnostizieren und therapieren. Dabei wird der Name, Nietzsche lässt grüßen, einmal wichtiger werden als die Probleme, die er eigentlich bezeichnete. Im Interview mit dem Experten für Drogenpolitik Jan Fährmann wurde gerade erst angesprochen, dass vereinzelt schon über staatliche Regulierung von Computerspielen diskutiert wird (Mit Drogenpolitik wird Sozial- und Migrationspolitik gemacht).
Was nützt die Diagnose?
Sicher gibt es Menschen mit problematischem Computerspielverhalten, ebenso wie mit problematischem Arbeits-, Glücksspiel-, Kauf-, Trainings- oder Sexverhalten. Die Entscheidung darüber, was als Störung anzusehen ist und was nicht, ist aber eine von Menschen - konkreter: einer kleinen Zahl von Experten - gemachte. Vergessen wir dabei nicht, dass es trotz über 170-jähriger Suche für keine der, je nach zählweise, 150 bis 600 psychischen Störungen des DSM-5 zuverlässige biologische Tests gibt (ADHS und die Suche nach dem Heiligen Gral).
Ob den Menschen, die einmal die Diagnose 6C51 - Computerspielstörung bekommen, damit geholfen ist, ist eine offene Frage. Die Anzahl der psychologischen und psychiatrischen Diagnosen steigt sowieso seit Jahren immer weiter (Diagnosen psychischer Störungen steigen stark an).
Das führte jedenfalls bisher nicht dazu, dass diese Probleme in der Gesellschaft abnehmen, wie man es bei effizienten Behandlungen erwarten würde. Im Gegenteil. Dabei steht mit der "Smartphonesucht", mit der sich etwa der amerikanische Informatikprofessor David Levy beschäftigt, schon der nächste Kandidat in der Wartereihe.
Individualisierung, Biologisierung, Stigmatisierung
Ein großes Problem dieses Vorgehens ist die Individualisierung der Probleme von Menschen: Exzessives Computerspielen ist dann nicht mehr Ausdruck anderer Probleme im Leben oder von Lebenskrisen, die vielleicht mit Armut, Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit oder Schicksalsschlägen zu tun haben. Nein, die Menschen haben dann eben CSS, um einmal eine griffige Abkürzung vorzuschlagen.
Und gemäß dem herrschenden Paradigma in der psychiatrischen Forschung haben sie damit eine Gehirnstörung, die dann am besten auch dort behandelt wird: mit Psychopharmaka oder elektrischer Gehirnstimulation. Diese Verschiebung der Sichtweise auf den Menschen von einem sozialen Wesen hin zu einem defekten neurobiologischen Schaltkreis, in den man wie in eine Maschine eingreift (Wenn Psychologie politisch wird: Milliarden zur Erforschung des Gehirns), lässt sich inzwischen an vielen Beispielen nachvollziehen.
Gesellschaftspolitische Dimension der Diagnose
Dazu kommt die entscheidende Bedeutung der sozialen Ressourcen der Betroffenen: Wie bei allen psychischen Störungen ist auch bei der Glücksspiel- oder Computerspielstörung das soziale, berufliche oder schulische Funktionieren für die Diagnose mitentscheidend. Wer über viele Ressourcen verfügt, der kann eigene Ausfälle aber leichter kompensieren oder kommt nicht so schnell in Zahlungsschwierigkeiten.
Damit besteht das Risiko, dass die Diagnose Menschen häufiger trifft, die bereits benachteiligt und ausgegrenzt sind. Würde man den Betroffenen dabei helfen, ihr Leben selbst in den Griff zu kriegen, dann bestünde darin eine echte Chance.
Stigmatisierung mit einem Störungsetikett sowie individualisierende und biologisierende Medikalisierung laufen aber meistens aufs Gegenteil hinaus: Menschen werden zu Patienten und Opfern ihrer Umstände gemacht, die abhängig von medizinischen Dienstleistungen und Substanzen sind. Für die medizinischen Dienstleister ist das natürlich eine Goldgrube.
Alternative Ansätze
Immerhin gibt es neben dem medizinischen Mainstream noch ein paar alternative Ansätze. So versucht man beispielsweise in Island, junge Menschen durch staatlich subventionierte Sport- und Freizeitmöglichkeiten von der Sucht fernzuhalten. Über Großbritannien wird allerdings berichtet, dass dort die zunehmende Online-Zeit gerade für einen sinkenden Alkoholkonsum mitverantwortlich sein könnte.
Aus Südkorea, wohl eines der Länder mit der größten Computerspielproblematik, berichten Forscher erste Erfolge durch Reittherapie. Diese Forschergruppe untersuchte die Auswirkungen ebenfalls im Gehirn. Die Ergebnisse ähneln denen der oben erwähnten Studie mit dem Medikament Bupropion.
Wie stark sich Menschen in Computerspielen verlieren, hängt allem Anschein nach auch davon ab, wie interessant und abwechslungsreich ihre Lebenswelt gestaltet ist.
Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.
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