Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.

Dank habe, du schöne Nachtigall - Ernst Bloch zum 25. Todestag

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Vor 25. Jahren, am 4. August 1977, ist der marxistische Philosoph Ernst Bloch, im Alter von 92 Jahren in Tübingen gestorben. Der Sohn einer emanzipierten jüdischen Familie wurde 1885 in Ludwigshafen geboren, wo er seine Liebe zu den Büchern von Karl May (er veröffentlichte selber eines mit dem Titel "Durch die Wüste") und Georg Wilhelm Friedrich Hegel entdeckte. Seit seinem ersten Buch "Geist der Utopie" (dessen Lektüre Thomas Mann zu seinem Romanzyklus "Joseph und seine Brüder" anregte) widmete sich Bloch, der neben Marx u.a. Aristoteles, Leibniz und Schelling zu seinen zentralen Einflüssen zählte, dem utopischen Denken nicht nur in Religion, Kunst und Philosophie, sondern als zentraler Lebensäußerung des Menschen überhaupt.

Von einem Kolloquium bei Simmel im Jahre 1908 datiert seine Freundschaft mit Georg Lukács (Vgl."Ein Überhegeln Hegels") (der kleinwüchsige Lukács saß noch als Fünfundsechzigjähriger gerne zu festlichen Anlässen wie beim Essen zum Goethejahr 1949 auf Blochs Schoß), zu seinem weiteren Freundes- und Bekanntenkreis gehörten so unterschiedliche Theoretiker und Künstler wie Bert Brecht, Kurt Weill, Otto Klemperer, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Hanns Eisler, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Hans Mayer. Der protestantische Heißsporn Rudi Dutschk durfte ihm im Urlaub in Dänemark immerhin die Pfeife halten.

Keine Lorbeeren für irgendeine Art Kapitalismus

Aus dem amerikanischen Exil folgte er 1949, in einem Alter, wo andere ans Emeritieren denken, dem Ruf der Universität Leipzig. Dort beendete er als Professor auch sein dreibändiges Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung". Nach 1957 hatte er, wie es sich für einen Philosophen geziemt, wegen "Verführung der Jugend" in der DDR Lehr- und Veröffentlichungsverbot. Seit 1961 übernahm Bloch eine Gastprofessur in Tübingen und veröffentlichte seine insgesamt 17 Bücher bei Suhrkamp. Auch in Westdeutschland blieb Bloch allerdings unbequem: "Hier gibt es keine Lorbeeren für irgendeine Art Kapitalismus," so wurde Bloch von seinen Studenten gerne zitiert.

Gleichwohl gestand er freimütig, anders als die voluntaristischen Anarcho-68er, die sich bei den Gitarren-Soli des Jimmy Hendrix oder den Beckenschwüngen von Mick Jagger, beim Konsum von Haschisch, beim Geschlechtsgenuß, im antiautoritären Kindergarten und während der Aufstellung des Abwaschplans in der WG schon im Kommunismus wähnten:

Der immer wieder tot gesagte Kapitalismus beginnt mich als philosophisches Problem zu interessieren.

Der Mensch und seine Kasper-Hauser-Natur

Ernst Bloch ist vielleicht der beste Schriftsteller und Redner unter den deutschsprachigen Philosophen und wer meint, dass Geist und Witz, Kurzweiligkeit und Erkenntnis, Dialektik und Offenheit des Systems, höchste begriffliche Anstrengung und eine poetische Ader, Wissenschaft und Metapysik, scharfzüngige Dialektik und hinreißende Fabulierkunst, Marx und Humanismus, Kommunismus und bürgerliches Erbe kantische Antinomien darstellen, wird beim Lesen seiner Bücher eines Besseren belehrt werden. Glücklicherweise gibt es neben seinen Publikationen eine Reihe sehr guter Bücher über ihn u.a. von Peter Zudeick, Sylvia Markun, Detlef Horster und vor allem Hans Heinz Holz. In Ludwigshafen existiert ein Bloch-Zentrum , seit 1986 gibt es die Ernst-Bloch-Gesellschaft, seit 1985 die Ernst-Bloch-Assoziation und in Tübingen existiert sogar ein Ernst-Bloch-Chor. Wie jede gelungene dialektische Konzeption ist Blochs "Philosophie der Hoffnung" ein deutlicher Hinweis darauf, dass die besten und angemessensten Antworten auf diese Welt notwendige und kluge Fragen sind, die nur wir mit unserem Wissen und Zutun und der Zeit selbst lösen können. Und wenn er nicht alle Fragen nach "dem Menschen und seiner Kaspar-Hauser-Natur" gelöst hat -zumindest hat er deren viele gestellt und zur Beantwortung Hinweise geliefert.

Ein guter Einstieg in die Philosophie Blochs ist seine kleine Schrift "Avicenna und die aristotelische Linke" in dem Buch "Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz." Ernst Bloch teilt hier mit Aristoteles und seinen arabischen philosophischen Erben Avicenna und Averröes die Ansicht, dass die Materie kein toter, mechanisch-determinierter Klotz ist, sondern entwicklungstauglich und zu Emergenzen fähig und das Synonym schlechthin für die Kategorie Möglichkeit darstellt. Für diese Denker ist die Materie erst einmal ein Nach-Möglichkeit-Sein, d.h. der Stoff bewegt und verändert sich "nach Maßgabe des Möglichen". Die Materie selbst also ist die Maßgabe der Verhältnisse, nach der sich etwas in Realisation setzen kann oder nicht.

Damit enthält die Materie, kraft der Maßgabe des Möglichen, die Bedingungen dessen, was im Veränderungsprozess zur Realisation ansteht. Das Sein nach Maßgabe des Möglichen ist nicht bloß einschränkend und determinierend, sondern es ist vielmehr die erste Bedingung und der Ausgangspunkt alles Möglichen überhaupt.

Wandelbare Materie

Demnach ist die Materie wandelbar und unabgeschlossen: Dabei ist der Stoff die Möglichkeit, die Form hingegen die Wirklichkeit; und beides bedingt und bewegt sich gegenseitig. Die Materie ist also selbst Potenz und nicht nur Wirklichkeit, die ja selbst auch nicht statisch ist, sondern sich selbst ständig verändert, was bedeutet, dass sie sich wesentlich nach den Maßgaben des Möglichen richtet, dergestalt, dass die Wirklichkeit selbst nur eine in Realität gesetzte Möglichkeit ist, die von einer unabsehbaren Menge anderer Möglichkeiten, die nicht umgesetzt wurden, umgeben ist, die, insofern sie den Seinsstatus des objektiv-realen Möglichen besitzen, "nur" eines willentlich gerichteten Aktes, einer zu den objektiven Bedingungen hinzutretenden Realisierung durch ein Subjekt bedürfen, um in Erscheinung zu treten und die alte Wirklichkeit in die unterirdische Welt des nur partiell bedingten Möglichen zu stoßen.

Wenn alle Bedingungen einer Sache erfüllt sind, so tritt sie in Existenz. Wenn also eine Möglichkeit noch nicht in Realität gesetzt wurde, kann dies entweder daran liegen, dass die Bedingungskette der Verwirklichung nur unzureichend bekannt ist, oder dass die Bedingungen der Realisation faktisch noch nicht vorhanden sind. Man kann im Sinne des Leibnizschen "omne possibile exegit existere" (Alles Mögliche treibt von sich aus zur Verwirklichung) davon sprechen, dass die Materie mit ihrem Bewegungs- und Prozesscharakter, noch nicht alle relevanten Daseinsmöglichkeiten aus sich herausgebracht hat.

Die Entwicklung der Materie kann dementsprechend als eine dialektisch diskontinuierliche Kontinuität qualitativ verschiedener Arten von Materie, von der anorganischen Welt zum belebten Organismus, vom Einzeller zum Tier, vom Tier zum Menschen aufsteigend, dargestellt werden, in der die Materie mit und in sich selbst qualitative Sprünge zu machen befähigt ist und eine Entwicklung von einfachen zu immer komplexeren Organisationsformen durchmacht.

Die Seinskategorie Zukunft

Der Weltzustand ist somit als ein Prozess zu verstehen, in dem sich Tendenzen ergänzen oder einander widerstreiten, in denen unterschwellig ein Sud von nicht durchgesetzten Möglichkeiten gärt. Mit einer anderen Metapher umschrieben ist das Vorhandene von einem Meer von objektiv-realen Möglichkeiten umgeben, die "nur" einer Verstärkung (aus sich heraus und oder von außen) bedürfen, um in die Realität zu treten.

Die Seinskategorie Zukunft, die Logik des Werdens, die Möglichkeit des Gedachten und des Wirklichen sind aber nicht nur Topoi der Philosophie Ernst Blochs, sondern gerade für den Menschen auf jeder Stufe seines Seins - von der banalsten, alltäglichen Verrichtungen bis zu den großen Kunstwerken der Menschheit - Kategorien von zentraler Bedeutung, weil sich der Mensch nicht nur bewusst, sondern auch unbewusst (oder vielmehr: noch nicht bewusst) in seinem Leben ständig auf noch nicht Gewordenes bezieht.

Schon die normalen physischen Mangelzustände (Hunger, Durst, Müdigkeit, Erschöpfung, Geschlechterdrang, Frieren, Schwitzen, Schmerzen) resultieren aus einem Zustand gegenwärtigen Nicht-Habens und richten sich auf seine zukünftige Abschaffung. Auch die menschlichen Affekte wie Neid, Habsucht, Verehrung, Angst, Furcht, Hoffnung, Glaube usw. haben ihr Strukturprinzip in der Intentionalität auf etwas, was momentan (noch) nicht ist. Auch das Denken hat nach Bloch wesentlich neben der abbildenden eine vorwegnehmende Funktion. Bloch begründet hiermit innerhalb der dialektischen Philosophie eine neue Richtung. War für z.B. Platon und Hegel alles Wissen wesentlich Wiedererinnerung, so ist es für Bloch konträr Antizipation.

Jede Nacht ins Wirtshaus

Doch nicht nur Noch-Nicht-Sein, sondern Neues schlechthin muss das Hoffen als Inhalt haben. Um sich als echte Hoffnung die Ehre zu geben, muss sie sich auf echte Zukunft beziehen. Unechte Zukunft ist eine, die ohne die Kategorie Novum auskommt, eine Zukunft, wie sie die Erfüllung der alltäglichen Bedürfnisse verlangt, die also in der Vergangenheit schon genauso war und auch künftig sich nicht ändern wird, weil ihr kein Entwicklungsrahmen gestattet ist, und sie alleine im einzelnen Subjekt aufgeht, z.B. wenn man wie an allen Tagen und Nächten zu Bett oder ins Wirtshaus geht.

Der Impuls der Hoffnung aber, die sich auf Nicht-Gewordenes bezieht, ist zu einem guten Teil auch ein Noch-Nicht-Bewusstes. Im Gegensatz zu Sigmund Freud, der in der Analyse der Nachtträume sich auf Vergangenes bezieht, dergestalt, dass in ihnen Unbewusstes oder Unterbewusstes wieder im Traum in Erscheinung tritt und somit rückwärtsorientiert ist weil sie zum Ziel hat, Verdrängtes und Vergangenes wieder in das Jetzt des Bewusstseins zu rufen, vertritt Ernst Bloch mit seiner Theorie der Tagträume den gegensätzlichen Ansatz.

Im Tagtraum, im Traum von einem besseren Leben, ist das Motiv einer umgestalteten Wirklichkeit erst im Ansatz vorhanden, die, weil sie noch nicht vorhanden ist, auch noch nicht richtig bewusst sein kann. Die Schwierigkeit liegt also nicht nur im Erkennen selbst, z.B. indem man etwas verdrängt, sondern auch in dem, was erkannt werden soll, weil es noch gar nicht richtig Gestalt angenommen hat. Gleichzeitig kann es passieren, dass man zwar den Willen hat, etwas zu verändern, jedoch die Kraft dazu fehlt, weil die Bedingungen noch nicht reif sind.

Korrespondiert aber das subjektiv Noch-Nicht-Bewusste strukturell mit einem objektiven Noch-Nicht-Gewordenen der Geschichteund wird dies erkannt, so kann sich aus dem anfänglichen, einfachen Affekt "Hoffnung" eine Anweisung zu einem utopischen Wissen ergeben, das sich mit den in der Welt obwaltenden Tendenzen in Einklang bringen lässt, das also geschichtlich wird und somit die Möglichkeit einer Karriere zu einem allgemeinen kognitiven Akt in sich bergen kann. Diese Hoffnung ist die docta spes, die belehrte Hoffnung, die sich mit der Wissenschaft zusammenschließt und tendenzkundig versucht, subjektives Vermögen zu mobilisieren und mit objektiven Tendenzen zu vermitteln, um objektiv-reale Möglichkeiten in die Wirklichkeit übertreten zu lassen.

Die belehrte Hoffnung

Diese Hoffnung ist auf die echte Zukunft gerichtet, die etwas einschließt, das noch gar nicht richtig da, allenfalls im Keim vorhanden ist, nämlich die gelungene Vermittlung des Subjekts Mensch, mit seinem Objekt, nämlich der Materie erster (als Umwelt und Natur) und zweiter Ordnung (als Gesellschaft).

Das einfache Nicht-Sein in der materiellen Entwicklungsbewegung kann so als unterste Stufe verstanden werden, die sich mit der Zunahme der Komplexität menschlichen Nicht-Seins, die mit allen Stufen menschlichen Seins verbunden ist, immer mehr hinaufschraubt, bis auf das Noch-Nicht-Sein gesellschaftlicher und geschichtlicher Prozesse. Aus seiner Theorie der Ungleichzeitigkeit (d.h. die Ausprägung und Ausweitung kapitalistischer und sozialistischer Verhältnisse verläuft nicht gleichmäßig in Sein und Bewusstsein und setzt sich in unterschiedlichen Ländern und Regionen unterschiedlicher Traditionen und geschichtlichen Anbindungen auch auf unterschiedlicher Basis durch) von gesellschaftlichen Verhältnissen ergeben sich für Bloch eine unterschiedliche Seinsintensität und verschiedene Seinsgrade in der Welt. Die Dichte der materiellen Realitätsverteilung ist nach Bloch abhängig von dem Verhältnis des Möglichen und Wirklichen im Seienden.

Ist der historisch gesellschaftliche Prozess einmal bei der klassenlosen Gesellschaft angelangt und die menschlichen Verhältnisse frei von Entfremdung (d.h. wenn die wirtschaftlichen Abläufe auf die Versorgung der Individuen mit Gütern und nicht auf die Akkumulation von Profiten abzielen, die Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebensprozesses nicht mehr wie unbekannte Naturgesetze Macht über die Menschen besitzen und wie Wirbelstürme oder Erdrutsche über sie kommen, sondern sich den Leuten in durchsichtigen und vernünftigen Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen), so kann die Menschheit als höchstentwickelter und bewusster Teil der Materie im Werdegang sowohl der einfachen Materie zum Menschen als auch vom Menschen zu einer menschlichen Gesellschaft, die Genesis der Materie zu sich auffassen, wie sich sozusagen die Materie in ihrem bewussten Teil, im Menschen selbst anblicken kann.

In diesem Sinne kann von einer Aufhebung der Subjekt-Objekt-Teilung von Mensch und Natur gesprochen werden. Die Geschichte hört aber bei Bloch entgegen der Überinterpretation seiner Philosophie als Eschatologie mit der wesentlichen Vollendung des Daseins in der Verwirklichung seiner Möglichkeiten nicht auf, denn ein vollendeter Zustand schließt das Gegenteil von sich selbst mit ein und hätte somit auch das Bedürfnis sich zu bewegen.

Das Noch-Nicht-Bewusste manifestiert sich nach Bloch außerdem und vor allem in der Kunst.

Das Kunstwerk ist, wenigstens der Idee nach, das Bild eines vollkommenen, in sich geschlossenen Systems.( Hans Heinz Holz)

Das vollendete Kunstwerk, und nicht das seit Schlegel, Adorno und Grunge-Rock beliebte Fragment wird so gedacht zur Kritik an der Welt: Der noch unfertigen, unvollkommenen Welt wird ein gelungenes Kunstwerk gegenüber gestellt und zugleich ein Auftrag mitgegeben, da, solange es Menschen gibt, die Schönes und Ansehnliches zustande bringen, es auch Menschen geben wird, die sich dabei erinnert fühlen, dass es prinzipiell und aller Schwierigkeiten ungeachtet möglich ist, eine Gesellschaft herzustellen (die ja auch von Menschen gemacht und dementsprechend vom Menschen veränderbar ist), die dieser Schönheit würdig ist. Die Kunst zeigt der Welt, was die Welt kann, wenn sie nur wollte, was sie tatsächlich könnte, wenn sie wüsste.

Dank habe, du schöne Nachtigall

Last but not least: Mit Genugtuung nehmen wir zur Kenntnis, dass Martin Walser, der seinerzeit das strohdumme Klischee vom "Propheten mit Marx- und Engelszungen" geprägt hatte, Bloch heutzutage der "Feuilletonsseite des Marxismus" zurechnet. Dieser Mensch ist damit nur sich selbst treu geblieben - letzteres Statement ist so geistbefreit wie das erste - und hat uns wieder einmal wertvolle Hinweise auf seinen in aller Bescheidenheit großartigen Geisteshorizont gegeben. Und so verbleibt uns nur - für einen Artikel über den Autoren eines berühmten Thomas Müntzer-Buches eher unüblich - auf die Empfehlung Martin Luthers für einen anderen "Hans Worst", nämlich dem Herzog Heinrich von Wolfenbüttel, aufmerksam zu machen:

Du solltest nicht ehe ein Buch schreiben, du hättest denn den Furz von einer alten Sau gehöret, da solltest du dein Maul gegen aufsperren und sagen: Dank habe, du schöne Nachtigall, da höre ich einen Text, der ist für mich.

und mit der Bitte an den Herrn dort oben zu schließen, er möge bei der nächsten Wiedergeburt Walsers auch gleich etwas Hirn vom Himmel regnen lassen.