"Ich bin des Marktes überdrüssig. Ich bin des Staates überdrüssig"
Deutschland ist seit Ausbruch der Seuche unter die Aufsicht von Tiermedizinern gestellt, in Norwegen streitet man über das Hüttenverbot. Anders Müller und Mustak Özgen berichten aus Norwegen
In Deutschland ist eine erbitterte Debatte über das Ende der Grundrechte ausgebrochen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass im Zusammenhang mit der Überwachung wichtiger Infektionserreger vor geraumer Zeit (seit 1995) eine Neustrukturierung der Infektionsepidemiologie in Deutschland stattgefunden hat, deren Ergebnis wir erst jetzt zu spüren bekommen. Unser Land ist nun seit Ausbruch der Seuche unter die Aufsicht von Tiermedizinern gestellt.
Ich spreche vom Präsidenten des Robert Koch Institutes, sowie vom Leiter des Nationalen Referenzzentrums für Influenzaviren am RKI Berlin, Fachgebiet 17 - Influenzaviren und weitere Viren des Respirationstraktes.
Der Veterinär an der Spitze des RKI, Professor Dr. Lothar H. Wieler, ist Sohn einer Landwirtin, promovierter Fachtierarzt für Mikrobiologie und Professor für Tierseuchenlehre. Professor Wieler ist nun jeden zweiten Tag mit seinem an hohe Militärs erinnernden, streng besorgten Gesichtsausdruck im Fernsehen zu sehen und mit dem Satz zu hören, dass es noch schlimmer kommen wird.
Der andere, Dr. Ralf Dürrwald, stammt aus der Impfstoffbranche. Bevor ihm laut Aussage eines "nicht barrierefreien PDF" auf der Homepage des RKI die Leitung des Nationalen Referenzzentrums übertragen wurde, war er bei einer Firma in Dessau tätig, die sich unter dem Motto "Dedicated to Contract Development and Manufacturing of Viral Vaccines, Viral Vectors and Biologics", um die Gesundheit unseres lieben Viehs kümmert. Seither gilt Dürrwald laut "pigpool" als ausgewiesener Experte für Influenza in deutschen Schweinebeständen. Kenntnisse in Tiermedizin befähigen ganz offenkundig dazu, über die deutschen Bevölkerungsbestände und deren Schutz zu gebieten.
Während die Deutschen also ganz schön zu schwitzen haben, um nicht dauerhaft in ihren Ställen kaserniert oder gleich als ganze Herde, gesund oder nicht, gekeult zu werden, streiten sich die Norweger mit dem Staat über die Nutzung ihrer Datschen. Luxus, Irrsinn oder schlicht Ausdruck der Ratlosigkeit, wie die Welt weiter gehen wird?
Ich habe Anders Riel Müller gefragt. Anders beschäftigt sich mit "sozioökonomischer Planung" im Forschungsnetzwerk "smart cities" der Universität Stavanger an der Westküste Norwegens.
Anders Riel Müller:
"Grenzüberschreitende Mobilität war schon immer ein zentraler Aspekt meines Lebens. Seitdem ich als Dreijähriger unfreiwillig von Südkorea zu meiner neuen Familie nach Dänemark gezogen bin, ist das Überqueren von Grenzen zu Zwecken wie Flucht oder Erkundung ein wesentlicher Teil meiner Identität. Die mühelose Überquerung von Staatsgrenzen ist ein unglaubliches Privileg, das ich meinem dänischen Pass verdanke. Es ist auch der Grund, die dänische Staatsbürgerschaft zu behalten. Dieses Privileg ist jetzt verloren. Ich sitze mehr oder weniger in Norwegen fest, einem Land, in das ich erst vor ein paar Monaten gekommen bin.
Es gibt vier Fluchtwege aus Stavanger. Die meisten Flüge vom örtlichen Flughafen sind gestrichen. Die Zugverbindung nach Oslo ist auf wenige Abfahrten am Tag eingedampft, und selbst diese Verbindung bringt mich innerhalb von stolzen acht Stunden auch nur bis Oslo. Die Fähre zwischen Stavanger und Hirtshals in Dänemark ist eingestellt. Die einzige gangbare Route aus Norwegen heraus ist mit dem Auto durch Schweden.
Ich lebe auf einer kleinen Halbinsel im Boknafjord. Die Insel zu Fuß zu umrunden, dauert etwa eine Stunde und 30 Minuten. Es sind etwa acht Kilometer oder 12.500 Schritte, wie mir meine "intelligente Uhr" mitteilt. Zur Abwechslung kann ich meinen täglichen Spaziergang im Uhrzeigersinn und gegen den Uhrzeigersinn unternehmen. Zirkuläre Mobilität ...
Stavanger fühlt sich wie eine Deluxe-Version der Selbstisolierung an. Von der Wohnung aus habe ich einen Blick auf den schönen Boknafjord mit schneebedeckten Bergen am Horizont. Der Frühling kommt und Stavanger hat die sauberste Luft von allen Städten, in denen ich je gelebt habe. Es gibt viel Platz und ich habe freien Zugang zu den "Stadtfahrrädern". Ich kann in den umliegenden Bergen wandern oder vielleicht sogar eine Bootsfahrt zu einer der vielen kleinen Inseln des Archipels unternehmen. Gestern habe ich von meinem Balkon aus zwei Schweinswale in Ufernähe schwimmen sehen, und mein asiatischer Lieblingsladen ist immer noch geöffnet. Das Leben ist nicht schlecht.
Stavanger ist die 'Öl-Hauptstadt Europas', wie sie sich selbst gern nennt. Die Angst vor einer Post-Korona-post-Öl-Zukunft ist greifbar. Wie wird diese Stadt, deren Wirtschaft so tief verwurzelt ist in den fossilen Brennstoffen, überleben? Dies ist der zweite ökonomische Schock, den die Stadt erlebt. Doch niemand hier ist bereit, über eine Zukunft ohne Wachstum nachzudenken. Alle Überlebensstrategien hängen nach wie vor an einer Wachstums-orientierten Ideologie.
Meiner Familie in Südkorea geht es gut. Meiner Familie in Dänemark geht es gut. Norwegen hat bisher die Ausbreitung des Corona-Virus gestoppt. Es scheint, dass ich und meine beiden Familien in Ländern mit einer wirksamen öffentlichen Gesundheitsversorgung leben. Wir sind so privilegiert.
Es scheint, dass jeder Norweger, der über die finanziellen Mittel verfügt, eine Hütte in den Bergen oder an der Küste (oder an beiden Orten) besitzt. Als die Abriegelung begann, strömten die Menschen in Scharen in ihre Hütten auf dem Land. Die lokalen Behörden waren besorgt über die mögliche Belastung der regionalen Gesundheitseinrichtungen.
Die Regierung erließ ein "Hüttenverbot". Die Eigentümer einer Hütte dürfen sich nur dann in ihr aufhalten, wenn sich die Hütte innerhalb der Gemeindegrenzen ihres Hauptwohnsitzes befindet. Die Norweger versuchten, das Verbot zu umgehen, indem sie ihren Wohnsitz in die Gemeinde verlegten, in der sich ihre Hütte befindet. Das Recht, sich in seine Hütte zu begeben, war seit Ausbruch der Pandemie eine der am häufigsten diskutierten Geschichten in den norwegischen Medien.
Staaten wurden gegründet, um Grenzen zu errichten und durchzusetzen. Die Corona-Krise ermöglicht es den Staaten, ein Comeback zu erleben und das zu tun, was sie am besten können. Die Grenzkontrollen zwischen den Nationalstaaten wurden wieder eingeführt und verstärkt. Der Staat hat Grenzen dafür festgelegt, wie viele Menschen zusammen stehen dürfen, wohin wir gehen können, wie weit die physische Distanz zwischen uns zu sein hat, wer getestet werden muss und wer nicht. Die Märkte haben wieder einmal ihre Unfähigkeit unter Beweis gestellt, als zuverlässiger sozialer Mechanismus für den Fall einer Krise zu funktionieren. Ich bin des Marktes überdrüssig. Ich bin des Staates überdrüssig."
Mustak Zafer Özgen
In Stavanger lebt auch der Opern-Experte Mustak Zafer Özgen. Er lehrt ebenfalls an der Universität und beschäftigt sich mit dem größten Zukunfts-Thema des norwegischen Staates: mit Nachhaltigkeit.
"Es ist ein echter "shutdown" hier in Norwegen. Einzig Geschäfte, die für die "Aufrechterhaltung der Normalität" im Land entscheidend sind, dürfen offen haben, während alle Schulen geschlossen sind, auch die Kindergärten. Oslo ist am härtesten betroffen. Aber es fällt der Regierung schwer, die Menschen dazu zu bewegen, zu Hause zu bleiben. In den verkehrsreichsten Straßen ist zur Bestürzung der Behörden noch immer viel los.
Viele Menschen haben Arbeitslosengeld beantragt: 400.000 Menschen, das sind 15% der Arbeitskräfte in Norwegen, eine Katastrophe ... Die staatliche Rhetorik ändert sich daher jetzt von "Die Seuche unter Kontrolle zu bekommen" zu "Sicherzustellen, dass die Wirtschaft nach dem Ende der Pandemie funktioniert".
Eines ist sicher: Sogar das reiche Norwegen ist auf eine Pandemie nicht vorbereitet. Es herrscht ein Mangel an Beatmungsgeräten, Masken, Kitteln usw. Die Behörden empfehlen den Menschen nicht, täglich Masken zu tragen, und der einzige Grund dafür ist Knappheit. Es geht nicht um den Mangel an speziellen, zum Schutz vor der Krankheit erforderlichen Masken. Es fehlt an jedweden Masken.
Ein Vorfall - für mich beängstigend, wenn auch nicht für viele "naive" Norweger - war ein Antrag der Regierung, das Gesetz zu ändern, um den Behörden unbegrenzte Befugnisse zur Einführung von Gesetzen zu geben, ohne dass sie das Parlament passieren müssen. Das Beängstigende daran ist, dass der Vorschlag in aller Geheimhaltung vorbereitet und plötzlich eines Abends veröffentlicht wurde, wobei vorgeschlagen wurde, dass schon morgens am nächsten Tag darüber abgestimmt werden sollte, so dass alle weniger als einen Tag Zeit hatten, um die Folgen dieser irrwitzigen, dummen Änderung zu bedenken.
Wir wissen natürlich, dass die Behörden ohnehin im Ausnahmezustand über solche Befugnisse verfügen. Aber der fragliche Gesetzes-Vorschlag hätte ihnen unbegrenzte Befugnisse auf unbegrenzte Zeit gegeben. Dank der Reaktion von linken Politikern und einigen wenigen Wissenschaftlern erkannten die Menschen die (möglicherweise) schrecklichen Folgen.
In der großen norwegischen Zeitung "Aftenposten" war es entmutigend zu lesen, dass die Überwachung in der Bevölkerung immer mehr akzeptiert wird: "Früher überwachten sie im Geheimen. In der Korona-Ära rühmen sich die Behörden damit, wie viel sie über Dich wissen." Und: "Überwachungsbegeisterte haben während der Korona-Krise einen neuen Frühling erlebt, glauben Experten. Das Handy verrät, mit wem Sie zusammen sind und ob Sie während des Treffens husten."
Zum Schluss noch ein Tipp: In dieser schwierigen Weltlage empfehle ich, gewissermaßen als seelischen Trost, Dietrich Fischer-Dieskaus fantastische Interpretation von Mahlers "Ich bin der Welt abhanden gekommen"."
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