Ich kann drei Doshas

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Jeder redet entweder über Essen oder eine andere körperlich-geistige Befindlichkeit, die ihn gerade juckt. Alles bekommt eine Bedeutung, der fehlende Salzstreuer auf dem Tisch, das Kopfschütteln der Ärztin, das Verschieben des Massagetermins. So rätselt man ständig, warum welches Pulver, welches nach Knoblauch riechende Stempelkissen, welches Öl, welche Gesichtspaste und welcher Trunk zur welcher Zeit zur Anwendung kommt.

Das System ist in seinen groben Zügen nachvollziehbar, in seinen Feinheiten undurchdringlich. So stehe ich vor einer offenen Geheimwissenschaft. Das Ambiente gleicht einer Klinik unter Palmen, in einer hochästhetischen Mixtur aus Krankenhaus und Wellness fühlt man sich enorm aufgehoben. In den Büschen entlausen sich die Affen, das Konzert der Vögel ist fulminant, der Strand weiß, die Brandung kräftig, die Leute extrem offen, über allem scheint die Sonne, Muskeln und Sehnen sind schon ohne Behandlung dehnbar, die Haut geschmeidig. Jetlag und der abfallende Stress lassen mich in den Zustand des Geschehen lassen übergehen, nicht weit entfernt von Verblödung. Kopfschütteln, lerne ich später, zeigt in Sri Lanka allgemeine Aufmerksamkeit.

Das singhalesische Gesundheitsministerium zählte im vergangenen Jahr über 60 ayurvedische Krankenhäuser und Ambulanzen. Beeindruckende 20 Tausend ayurvedische Ärzte sind registriert. Dazu kommen über 200 Abgabestellen für traditionelle Medizin im Land. Für Einheimische ist der Service kostenlos.

Man vermutet, dass die hohe Lebenserwartung von 76 Jahren im Land zum Teil auf dem ayurvedischen Lebensstil beruht. Allerdings sind in den Buchhandlungen der Hauptstadt Colombo Lehr- oder Aufklärungsbücher über Ayurveda Mangelware. Nachfragen führt hier nicht weiter. Auch Unterhaltungen mit Einheimischen in der Hauptstadt zeugen nicht gerade davon, dass Ayurveda von jedermann mit der Muttermilch aufgesogen wurde. Vielen ist die Heilslehre unbekannt, andere kennen sie zwar, wenden sie aber nicht an.

5. und 6. Tag

Die Damen und Herren haben den Hauptwaschgang eingeschaltet. Die über den Tag einzunehmenden Pülverchen werden immer widerlicher, der Abendtrunk ungenießbar. Die zweite Konsultation hat mich zum Pitta-Knaben abgestempelt. Ich wäre lieber Kapha, also gemütlich.

Mittagessen, oder auch Stuhlgangvorbereitung. Currys, Fladen, Salate, unglaubliche Vielfalt am Buffet. Die Rohstoffe liegen zur Ansicht neben der Schüssel, zudem ein Schild mit der medizinischen Wirkung. Ich haue rein, die Ärztin schaut mich an, egal, ich kann drei Doshas. Die träge-schaurig-schöne Slowakin starrt in ihr Essen, "controlled diet" ist ihr Stichwort. Danach ein Glas warmes Wasser in der Lobby. Die fröhlichen Russinnen spielen Bridge, auf den Sofas Stirngussmenschen, erkennbar am weißen Turban, sie sitzen weise herum. Anmaßend, denke ich.

Noch nicht weit her mit meiner Entspannung. Samtene Luft, leise Verdauungsgespräche. Der freundlich-kluge Schweizer berichtet von seinem Asthma. Ansonsten wird wenig über Krankheiten und mehr über Gesundheit gesprochen. Auch das trägt. Kolonialzeit ohne Gin und Tabak, die Hälfte der Besatzer sind Deutsche, oft Wellness-Wiederholungstäter. Sie tragen die Erfolgsgeschichte in die Heimat.

Ayurveda ist mittlerweile als Wellness-Anwendung in Deutschland etabliert. Pionierarbeit hierfür leistete der indische Guru Maharishi Anfang der 1980er Jahre. 1984 entstand in den USA das erste ayurvedische Gesundheitszentrum in einem westlichen Land, 1988 folgten Zentren in Deutschland und Europa. Maharishi baute derweil rund um seine Denkschule ein multinational agierendes Unternehmen.

Ayurveda, seine Produkte und Dienstleistungen waren in Europa lange mit dem Namen Maharishis verbunden. Heute ist das Geschäftsfeld in Deutschland diversifiziert. Wie viele Ayurveda-Anbieter tätig sind ist unbekannt, Qualitätskriterien sind schwer zu erarbeiten. Der Verband Europäischer Ayurveda-Mediziner & Therapeuten (VEAT) hat ein Qualitätsleitbild für Ayurveda-Praktizierende erarbeitet, ob dieses weite Verbreitung gefunden hat ist unklar.

Heilpraktiker geben Ölmassagen, Wellness-Zentren bieten Ayurveda-Wochenenden an, Krankenhäuser wie die Immanuel-Klinik in Berlin führen Studien über den Nutzen verschiedener Anwendungen durch. Der Nutzen dieser Anwendungen ist nach wie vor umstritten. Die Studienlage gilt als dürftig, gesetzliche Krankenkassen erstatten keine Ayurveda-Leistungen. Die ehemals kritischen Wellness-Experten sind allerdings bereits konvertiert.

"Ayurveda-Kuren sind im deutschen und europäischen Raum zu einer überaus kostspieligen Modeerscheinung geworden", hieß es beim Deutschen Wellness-Verband noch 2003. Seit 2006 steht Ayurveda allerdings als "Medical Wellness" Anwendung auf der Agenda des Verbands. Man preist die Vorzüge der Behandlung, betont aber zugleich seine kritische Haltung gegenüber unregulierten medizinischen Angeboten. Da viele Anwendungen weit über die Grenzen des Wellness hinaus gehen, mahnt Iris Hüttner, Ayurveda-Expertin im Verband, zur vorsichtigen Auswahl. "Manche Kurende berichten davon, wie nach einem Erschöpfungssyndrom ihre Lebensgeister von Tag zu Tag zurückkehrten und sie sich am Ende wie neu geboren fühlten. Es kann aber auch sein, dass die stärkende Wirkung der Kur erst ein paar Wochen später zuhause spürbar wird."

7. Tag

Seit einer Woche Gotu Kola-Suppe am Morgen. Ich erkenne das Kraut wieder, die centenella asiatica steht im Verdacht, Hirnfunktionen zu fördern. Meine Testreihe vor einigen Jahre erbrachte keine Effekte. Rein damit, die grüne Pampe passt zu meinem Zwischenzustand zwischen Lagerkoller und Zauberberg.

Schade, dass alle hier so freundlich sind. Ein Lächeln öffnet ein Lächeln - und so lächeln halt alle. Wohlgemerkt sind die Einheimischen die Initiatoren dieses Spiels. Im Restaurant rücken wir einen Tisch nach vorne, näher zum Ausblick, zum Wald, zur Freiheit. Aufstieg in der Hierarchie, jawohl, wir lassen Neuankömmlinge und Uneingeweihte hinter uns. Ihr werdet auch noch begreifen, wie locker man sein kann!

Ein Chamäleon hockt im Pflanzenkasten, ich sinniere über eine Kontrollgruppe am Pool, mit einer Woche Bier und guter Musik. Erschreckend, wie substanzfixiert das im Grund alles ist. Selbst am Pool sieht man regelmäßig Menschen kleine Briefchen öffnen und den Inhalt, meist ein braunes Pulver, in ein Wasserglas schütten.

Flockige Unterhaltungen mit den Tischnachbarn, eine lustige Schicksalsgemeinschaft, man spricht nahezu mit jedem mal. Optimierungscharaktere im Alter 55 Plus. Eingestreut immer auch härtere Fälle, Neurodermitiker, Diabetiker, Rheumageplagte. Viele berichten Wunderbares.

Gudrun Ulrich-Merzenich von der Poliklinik Bonn ist eine der wenigen deutschen Medizinerinnen, die ayurvedische Methoden in einer klinischen Studien geprüft hat. In einem Experiment, das am Tarachand Ayurvedic Hospital in Pune durchgeführt wurde, behandelte man 44 Patienten mit rheumatoider Arthritis zehn Monate lang mit Kräutern und suchte über Abführungen und andere Reinigungsprozesse den Körper zum Ausstoß von Stoffwechselabbauprodukten zu bewegen. Über die Hälfte der Patienten zeigten Verbesserungen ihrer Gelenkentzündungen. 41 Patienten konnten ganz auf die typischen Antirheumatika verzichten, die übrigen die Dosis um die Hälfte reduzieren.