Idlib: Über 800.000 Flüchtlinge seit Dezember
OCHA: "Unterkünfte sind die dringlichste Notwendigkeit." Warten auf eine Vereinbarung zur Waffenruhe zwischen Russland und der Türkei
Am dringendsten werden Unterkünfte für die Flüchtlingen aus Idlib gebraucht und die sofortige Einstellung der Kriegshandlungen, fordert die UN-Flüchtlingsorganisation OCHA. Seit Anfang Dezember seien mehr als 800.000 Menschen vor der Kriegsgewalt in Idlib und Umgebung geflüchtet. Der Großteil, 81 Prozent, seien Frauen und Kinder.
Kinder allein würden 60 Prozent ausmachen, ist im aktuellen Lagebericht der OCHA nachzulesen. Allein in den vergangenen Tagen, zwischen dem 9. und dem 12. Februar, seien schätzungsweise 142.000 Menschen geflohen: "Unterkünfte sind die dringlichste Notwendigkeit."
Die Temperaturen im Norden Syriens sind unter dem Gefrierpunkt, die Versorgung mit dem Notwendigsten ist schwierig; es gebe bereits Kältetote, auch unter Kindern, Mangelernährung und dass viele der Flüchtenden schon mehrfach hätten aufbrechen müssen, habe die Widerstandskraft sehr geschwächt.
Die meisten würden Richtung Norden flüchten, nachdem nun auch Orte wie Sarmin, Atareb, Teftnaz, wie auch Idlib-Stadt selbst, sowie weitere Ortschaften vom Kriegsgeschehen betroffen sind, wohin viele zuvor geflohen seien. Viele würden Schutz in der Nähe der türkischen Grenze suchen: im Nordwesten des Gouvernements Idlib und im Norden des Gouvernements Aleppo. 250.000 seien es, die dort Zuflucht suchen würden, berichtet das OCHA.
Rohbauten, offenes Gelände und ein aufgegebener Bus
550.000 Binnenflüchtlinge würden innerhalb des Areals von Idlib nach einer sicheren Unterkunft suchen, in Dana, Mareet Tamsrin und Vororten von Idlib, wo wegen früherer Ankünfte von großen Zahlen an Flüchtlingen die Unterbringungsmöglichkeiten knapp geworden sind.
36 Prozent der neuen Binnenflüchtlinge würden in Mietwohnungen oder bei Gastfamilien Unterschlupf finden, 17 Prozent würden ihr Glück versuchen, in Lagern unterzukommen, 12 Prozent würden auf eigene Zelte zurückgreifen, 15 Prozent würden in Rohbauten hausen und 82.000 Menschen würden sich im offenen Gelände, "unter Bäumen", aufhalten, so das katastrophale Bild der UN-Organisation.
"Bei mir wohnten 16 Personen. Hat man schon zuvor geglaubt, dass die humanitäre Situation schlecht sei, so ist sie jetzt noch viel übler, weil Menschen draußen in der Kälte sterben und es schneit und man Personen sieht, die in einem aufgegebenen Bus leben", schildert Bilal Abdul Kareem die Lage.
Der US-Amerikaner, der zum Islam konvertiert ist, ist eine politisch einseitige Quelle. Bilal Abdul Kareem steht aufseiten der "bewaffneten Opposition zum syrischen Regime". Er ist der federführende Mann bei On the Ground News, das direkt aus Gebieten berichtet, die von den dschihadistischen Milizen kontrolliert werden. Vor ein paar Jahren waren es Gebiete in Aleppo, jetzt ist es Idlib.
Unsicherheit in der Scharia-Zone
Seine Unterstützung für den Dschihad, wie der Aufstand gegen die syrische Regierung in Kreisen der bewaffneten Opposition deutlich benannt wird, während weniger deutlich nach außen die Bezeichnung "Revolution" verwendet wird, ist unverkennbar. Aber seine Bilder aus dem Inneren der Scharia-Zone zeigen auch das Ausmaß der Zerstörung, die der Krieg anrichtet, der nun seit unfassbaren 9 Jahren das Land kaputtmacht.
Da es wegen der Kriegsgewalt und den autoritär-diktatorischen Verhältnissen unter der Milizenherrschaft, die mit Pressefreiheit auf Kriegsfuß steht, keine Reporter vor Ort gibt, die eine kritische Distanz zu den Islamisten, Salafisten, Dschihadisten einnehmen, ist Bilal Abdul Kareem zwar eine propagandistische Informationsquelle, aber er gibt auch ein paar Einblicke.
So zeigt sein Interview mit Aymenn Jawad Al-Tamimi, einem Spezialisten für extremistische Milizen in Syrien, wie groß die Unsicherheit in den Zonen der "rebellischen Streitkräfte" ist, wie sie von Bilal Abdul Kareem bezeichnet werden. Sie betrifft zum einen die Ungewissheit dem Verhalten der türkischen Armee gegenüber, zum anderen die Frage, wie es innerhalb der bewaffneten Opposition weitergehen soll.
Der Eindruck, den der Betreiber von "On the Ground News" vermittelt, ist der einer Situation, in der es überhaupt keine Gewissheiten gibt, sondern vor allem Misstrauen. Mit einer Ausnahme: Der Türkei wird nicht zugetraut, dass sie eine Konfrontation mit Russland suchen wird. Das gilt neben der Beobachtung, dass die neuen US-Sanktionen durch das "Caesar Law", hauptsächlich die Bevölkerung trifft, als weitgehend sicherer Orientierungspunkt.
Arrangements auf Kosten der Kurden?
Nach aktuellen Informationen, wie sie die gut vernetzte al-Monitor-Journalistin Amberin Zaman vermittelt, zeichnet sich ab, dass sich die Türkei und Russland auf ein Arrangement verständigen werden. Welche Konturen Abmachungen zu einer neuen Waffenruhe haben werden, darüber wird noch spekuliert. Als wahrscheinlich erachtet werden Deals, in denen Idlib eine Verhandlungsmasse für türkische Forderungen in anderen syrischen Gebieten an der Grenze zur Türkei abgeben wird: Gebiete der kurdischen Selbstverwaltung.
Als ziemlich sicher gilt, dass die Türkei ihre militärische Präsenz in Syrien, die sie nun verstärkt hat, nicht aufgeben wird. Und dass die Erklärungen des US-Sonderbeauftragten für Syrien, Jim Jeffrey, der kürzlich in Ankara war und die Türkei bei ihrem militärischen Unterfangen ermutigt hat ("go all in" on Idlib), keine Deckung aus Washington haben, auf die Erdogan zählen könnte, um aggressiver vorzugehen.
Es gebe keine derartigen Erklärung einer konkreten Unterstützung der USA und der Nato für türkische Vorstöße in Idlib, soll laut Amberin Zaman aus dem Pentagon zu den kursierenden Gerüchten gemeldet worden sein. Dazu kommt, dass für die türkische Regierung eine konstruktive Beziehung zu Russlands Führung aus vielen Gründen essentiell ist.
Indessen soll der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar um beschwichtigende Äußerungen bemüht sein, die eine Waffenruhe als Ziel vorgeben - als Kontrapunkt zu den martialischen Ansagen Erdogans (Erdogan erklärt Syrien de facto den Krieg).