Ihr macht aus mir einen Freak
Kino, Sex und Politik - Bertoluccis Dreamers: Ein Schlag ins Gesicht aller Anti-68er
Was bleibt von 1968? Die Frage ist nicht neu, im Gegenteil: Gerade in den letzten fünf Jahren, seit in Berlin in Form der rot-grünen Koalition genau jene Generation an die Macht gekommen ist, die einst zwischen APO und dem "Marsch durch die Institutionen" changierend die westdeutsche Republik verändern wollte - und mit ihr eine ganze Welt. Seitdem wird immer wieder mal gern bei "Christiansen" oder einem Glas Rotwein in der Berliner-Edel-Kneipe Borchardts oder an anderen Stammtischen der Republik darüber diskutiert, ob Gerhard Schröder nun deshalb ein amoralischer Geselle ist, weil er einst als Juso-Chef die "Verstaatlichung der Produktionsmittel" forderte, und Außenminister Fischer ein Terrorist, weil er sich von Frankfurter Polizisten nicht einfach verprügeln ließ, oder ob beide das gerade doch nicht sind, weil sie heute eben Kanzler und Minister sind und überdies gern italienische Anzüge tragen - ein weiteres jener quälenden, typisch bundesrepublikanischen Debattenthemen eben. Der Filmemacher Bernardo Bertolucci hat jetzt gezeigt, dass es anders geht, dass "1968" wenig mit moralischer Schuldzuweisung oder gar Bewertung zu tun hat, dass es um so mehr um Sinnlichkeit ging und um "satisfaction" - auch wenn die Rolling Stones das Gegenteil behaupteten. Nur dadurch erklärt sich die nachhaltige Wirkung der Revolte, die noch im Hass der Nachgeboren spürbar ist - "Man kann nicht etwas hassen, das völlig tot ist", zitierte die FAZ Gilbert Adair, den britischen Schriftsteller der "Träumer" geschrieben hat, die Romanvorlage (Edition Epoca, 19.95 Euro) zu Bertoluccis THE DREAMERS, der jetzt ins Kino kommt.
"Sie waren Kinder ihrer Zeit. Sie fühlten sich wohl in ihrer Haut. Sie waren alles andere als dumm. Vor allem aber gab es das Kino." - in Georges Perecs Roman "Die Dinge" wird beispielhaft beschrieben, wie eng das Kino, genauer die französische Nouvelle Vague mit der Revolte von 1968 verflochten war. In der Pariser Cinémathèque Francaise des Henri Langlois beginnt THE DREAMERS, der neue, überaus bewegende Film von Bernardo Bertolucci. "Non, je ne regrette rien." - "Ich bedaure nichts" singt Edith Piaf, und man darf sicher sein, dass dieses Bekenntnis auch für Bertolucci gilt. In THE DREAMERS (deutsch "Die Träumer") erklingt das berühmte Chanson ganz am Ende eines höchst charmanten Films, der zuvor voller Rock und Pop ist, die Wildheit des Pariser Mai '68 rekapituliert, aber auf eine Weise, wie man es noch nie gesehen hat.
Denn Bertolucci, der oft genug erklärte, dass wir wieder ein anderes Verhältnis zu dieser Epoche des Aufbruchs finden müssten, dass es nicht mit der üblichen billigen Verdammung oder ihrer verabschiedenden Historisierung getan sei, erliegt selber nicht der Versuchung, die eigene Jugend umgekehrt einfach zu beschwören. THE DREAMERS, Gilbert Adairs Adaptation seines eigenen Romans, ist vielmehr eine ziemlich unbequeme Selbstbefragung.
Ein Amerikaner in Paris. Matthew ist eigentlich hierher gekommen, um zu studieren, doch es dauert nicht lang, da verbringt er die meiste Zeit im Kinosaal der Cinémathèque française des Henri Langlois, und nur wenig später ist er schon mitten drin, im Mai des Jahres 1968. Die damalige Revolte begann, so heißt es, mit dem Versuch, Langlois seines Amtes zu entheben - und mit dem letztlich erfolgreichen Protest von Studenten und Filmemachern steigt Bertolucci ein: Man begegnet Matthew, der auch der Off-Erzähler des Films ist, zunächst als staunendem Beobachter des Geschehens. In einer schönen kleinen Szene sieht man Schwarz-Weiß-Dokumentaraufnahmen von Francois Trauffaut bei einer kurzen Rede zu Gunsten Langlois', dann in Farbe Jean-Pierre Léaud, der die Worte seines Ersatzvaters zu Ende führt. An diesem Tag trifft Matthew die schöne Isabelle und ihren Bruder Theo, beide Filmstudenten, beide Kinder aus linksliberalem Pariser Intellektuellenmilieu, der Vater ist Bertoluccis Dichter. Kino, Politik und Lebensgefühl verschmelzen schon in diesen ersten Szenen wie in den Gesprächen der Twens; schnell freunden sich die drei miteinander an, und als die Eltern der Geschwister für längere Zeit aufs Land fahren, wird Matthew eingeladen, sein kleines Hotelzimmer zu verlassen und mit in die Wohnung einzuziehen.
Die Erotik des Kinos
Die merkwürdige "menage á trois", die nun beginnt, bildet den Rahmen des Folgenden. Viel Action gibt es nicht, und doch passiert eine Menge. Vor allem schaut der Film seinen Figuren beim Leben zu: Beim Aufstehen, baden, essen, lieben, reden, Filme gucken. Man sieht viel nackte Haut; ganz unverklemmt schildert THE DREAMERS das Leben in der Wohnung vor allem zu Beginn als paradiesischen Zustand der Seligkeit. Dabei ist dies kein bisschen Altherrenphantasie, vielmehr jugendlich cool und gelassen, weit entfernt von der hysterischen Sexualität die 30 Jahre zuvor DER LETZTE TANGO VON PARIS prägte und den Film zu einem der wichtigsten Dokumente der Epoche machte.
THE DREAMERS ist nun die Reflexion über sie. Die erwähnte "menage á trois" ist dabei eine geistige, die Kinoerfahrung deren Vermittlungsinstanz. Während es zum Sex zwischen Isabelle und Matthew kommt, bleibt die inszestuöse Komponente der Geschwisterbeziehung ebenso wie die homosexuelle zwischen Theo und Matthew zum Ärger mancher Tugendwächter der sexuellen Korrektheit nur latent - was den Film freilich noch lange nicht zum reaktionären Dokument macht. Dafür inszeniert Bertolucci die Erotik des Kinos umso schwelgerischer, pathetischer, im guten Sinne nostalgisch - nämlich als Erinnerung an ein Kino, das nicht primär Unterhaltung und Eskapismus im Sinn hat, sondern Befreiung und Aufbruch.
Die Filmerfahrung vor allem des Kinos der "Nouvelle Vague", Werke wie AUßER ATEM von Godard, Bressons MOUCHETTE, aber auch SHOCK CORRIDOR von Fuller werden zur Initiation grundlegender Veränderung - ein Traum, den die Filmemacher von heute scheinbar längst begraben haben. Dabei ist Bertoluccis Umgang mit dem Kino ebenso klug wie leidenschaftlich. Die drei spielen ein Filmratespiel miteinander, zu dem der Regisseur immer wieder kurze Originalszenen hineinschneidet, manche von den jungen Darstellern nachspielen oder parodieren lässt, doch deren Hauptfunktion ist es, Gedanken sichtbar zu machen. Um geschmäcklerische Freuden für Insider geht es dabei nicht, denn die Zitate werden als solche benannt und kenntlich gemacht, sondern vielmehr darum einen - zugegeben pathetischen - anderen Umgang mit Kino vorzuführen. Die drei denken Kino, leben Kino, sind Kino.
Bei aller offenkundigen Verehrung holt die Regie dabei die Filmidole vom Sockel herunter, versucht vorsichtige Umdefinitionen. Etwa eine Szene von Greta Garbo, die sich in KÖNIGIN CHRISTINA lasziv um eine Säule/Phallus räkelt, kommentiert das Filmgeschehen, wie dieses umgekehrt den Auftritt der Diva. Für manche mag es einem Sakrileg gleichkommen, quasi "heilige" Szenen des Kinos wie das Rennen durch den Louvre aus Godards BANDE À PART einfach nachzustellen, oder mitunter, schlimmer noch, ihrer Bedeutung zu entkleiden. Aber gerade da zeigt sich die eigentliche subtile Stärke von Bertoluccis Film. Wenn er - während eines Tischgesprächs wird verbranntes Ratatouille serviert - unaufdringlich Pasolinis SALO ODER DIE 120 TAGE VON SODOM zitiert, in dem die Personen unter anderem gezwungen werden, Exkremente zu essen, dann erklärt der einstige Assistent Pasolinis mit dieser ironisierenden Volte auch dessen puritanisches Pathos und dessen Provokations-Posen für überholt.
Der bürgerliche Salon als Ausgangspunkt der Revolte
Weitaus wichtiger für Bertolucci: Dass Kino etwas mit Verführung, mit Sex zu tun hat. Dazu gehört auch, dass Theo einmal vor einem Marlene-Dietrich-Foto onaniert. Dass er dies gezwungenermaßen vor den anderen tut, weil er beim Kinoszenenraten verloren hat, dass Lust und Zwang nahe zusammenliegen, ist Bertoluccis Kommentar zu 1968. Der Regisseur erzählt den "Mythos 1968" nicht als Geschichte der Politisierung und öffentlicher Demonstrationen, der Barrikadenkämpfe und Polizeischlägereien, sondern als die einer eher privaten, oberflächlich betrachtet unpolitischen Entdeckungsreise.
Elegant werden innere und äußere Vorgänge, Psychologie und Bourgoisie-Kritik miteinander verschränkt. Fast den ganzen Film über verharrt er kammerspielartig im mit allen repräsentativen Insignien und Zitaten ausgestatteten bürgerlichen Salon, als dem eigentlichen Ausgangspunkt der Revolte, aber auch deren Rückzugsort, beschreibt einen psychoanalytischen Kontext und scheut auch vor einer umgedrehten Urszene - quasi unschuldige Eltern überraschen die Kinder im Wohnzimmer beim Sex - nicht zurück.
So sympathisch die drei in ihrer Neugier und Entdeckungslust, auch in ihrer Dekadenz sind, so präzis zeigt Bertolucci trotzdem Wahn und Tristesse dieser - manchmal - schrecklichen Kinder: Doppelbödig sind manche Scherze, wie der vor Abreise der Eltern: Eltern sollten interniert werden, sagt Isabelle, "ihre Verbrechen gestehen, und zur Umerziehung aufs Land geschickt werden." - zur gleichen Zeit erlebte China die Kulturrevolution. Wichtiger aber: Untergründige Trauer und Sehnsucht liegt in allen Blicken. Und konsequenterweise endet es mit dem letzten bürgerlichen Ausweg: dem Selbstmord - der auch nur ein Filmzitat ist, aus MOUCHETTE. Aber da fliegt gerade noch rechtzeitig ein Pflasterstein durchs Fenster, ein Luftzug weht den giftigen Dunst aus dem Salon, und lässt den Lärm der Straße hinein. Die drei ziehen hinaus, und verlieren sich in der Menge. Auch hier noch vermeidet THE DREAMERS das Abgegriffene und Bekannte, mit dem man diese Zeit in immer wieder den gleichen Bildern schildert; nur beiläufig beschwört der Film die Ikonen jener Epoche, auch musikalisch, indem er zwar die "Doors" und Hendrix spielt, aber im Zweifel die unbekannteren Songs. Es ist beglückend, zu verfolgen, wie Bertolucci das Lebensgefühl jener Jahre feiert, sich manchmal geradezu in ihm verliert, unter der Hand alte Ideale beschwört.
Auszug aus dem Paradies
Ein wenig fragwürdig bleibt allenfalls die Hauptfigur. Denn während die Geschwister einem Film von Cocteau oder des frühen Bertolucci entsprungen sein könnten, ist Matthew sowohl in seinem skeptischen Realitätssinn, als auch in seiner politischen Naivität und seinem Moralismus unser Zeitgenosse. Der Moralismus zeigt sich am besten darin, dass Matthew jedes sexuelle Tabu zu brechen bereit ist, sich aber entsetzt in einen all-american-boy zurückverwandelt, als man ihm die Schamhaare rasieren möchte: "Ihr macht aus mir einen Freak." Und Matthews unreflektierte, rein instinktive Ablehnung jeder Gewalt, selbst gegen Sachen, ist so sympathisch wie unhistorisch, und in ihrer Niedlichkeit allzu zeitgemäß.
Ansonsten verzichtet THE DREAMERS darauf, den Aufbruch als Spinnerei Irregeleiteter abzutun, oder ihn wieder einmal in Extremismus und Terror enden zu lassen. Ganz anders als Louis Malle, dem der Pariser Mai in EIN SONNTAG IM MAI zur absurden Komödie gerann, nimmt Bertolucci das Pathos von einst wohltuend ernst, ohne umgekehrt in depressive Geschichtslektionen à la Jean Eustache (LA MAMAN ET LA PUTAIN) zu verfallen; vielmehr bleibt der ganze Film bis zum Ende unvorhersehbar, findet immer wieder neue Wendungen für seine Geschichte - ein mutiger Schlag ins Gesicht aller auch im Berlusconi-Italien weitverbreiteten Anti-68er.
Am Ende steht der Auszug aus dem Paradies, der auch einer ist aus der Verwechslung von Kino und Leben, die Befreiung von einer Bürgerlichkeit, nach der sich heute viele zurücksehnen. Bertolucci hält ihnen den Spiegel vor, unserer sehr heutigen Weltflucht in die Salons und Kinosäle. So wird der Film zu einem stärkeren Debattenbeitrag zur Frage "Was bleibt von 68?", als nahezu alles, was in den letzten Jahren zu lesen und zu sehen war. Wer nicht aus der Geschichte lernt, ist dazu verdammt, sie wiederholen. Dabei will Bertolucci etwas zeigen, nichts beweisen. Dabei ist er als Filmemacher so stark, wie seit NOVECENTO (1976) nicht mehr. Und noch wenn er den Film charmant mit Piafs "Non, je ne regrette rien" enden lässt, setzt er sich wieder ganz aufs Spiel. Was will man von einem Filmemacher mehr verlangen?
DREAMERS basiert auf dem Roman "The Holy Innocents", der in einer vom Autor Gilbert Adair parallel zur Verfilmung neu überarbeiteten Fassung nun auch auf deutsch erschienen ist ("Träumer", Edition Epoca, zum Preis von 19.95 Euro Der Soundtrack mit Originalsongs und -filmmusiken erschien soeben bei UNIVERSAL (Best. Nr. 9812084).