Im Dienst des Volkes

Der letzte Diktator Europas wird 50. Sein Land hat er fest im Griff.

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Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko könnte nach zwei Amtszeiten allmählich an seinen Abgang denken. Doch er feilt bereits an einer dritten. Auch biologisch wird sich die Sache so schnell nicht lösen, denn er wird erst 50. Was ist das für ein Land, über das die meisten von uns wenig wissen, weil es in den Medien so selten vorkommt, das uns aber nähergerückt ist, seit durch die Osterweiterung die EU-Ostgrenze zur weißrussischen Westgrenze geworden ist?

Sozialistisches Freilichtmuseum

Weißrussland gilt als die letzte Diktatur Europas, die taz hat das Land einmal als "letztes sozialistisches Freilichtmuseum Europas" bezeichnet. Alexander Lukaschenko gehört zu den Staatschefs, über die man kaum ein gutes Wort findet. Doch den einstigen Kolchosen-Direktor ficht das nicht an. Er macht und taktiert, wie er will. Und weil im Oktober die Wahlen zur Repräsentantenkammer der Nationalversammlung stattfinden werden, zieht Lukaschenko die Zügel wieder fester an. Mehrere unabhängige Zeitungen und Nichtregierungsorganisationen (NGO) sind in den letzten Monaten geschlossen worden, Anfang August musste die Belarussische Arbeiterpartei dran glauben. Wenig später schlug die Schließung der Europäisch Humanistischen Universität Minsk hohe Wellen.

Widerstand wird niedergemacht

Systemkritik (Länderbericht 2004 von Amnesty International) ist unerwünscht. Wer sich in der Opposition organisiert, wird früher oder später verhaftet. Das bedeutet in der Regel ein paar Tage so genannte Verwaltungshaft, wobei Misshandlungen durch Polizei und Gefängnispersonal an der Tagesordnung sind. Von den Bedingungen in den überbelegten, teilweise sehr alten Gefängnissen ganz zu schweigen.

Wie die Koordinationsgruppe Weißrussland von Amnesty International berichtet, werden teils bis zu 40 Menschen in eine Zelle gepfercht. Die hygienischen Bedingungen sind miserabel, obendrein kann man sich mit Tbc und Aids anstecken. Genaue Zahlen über Gefangene und ihre Haftgründe unterliegen der Geheimhaltung, ebenso wie die meisten Strafprozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Als einziges Land Europas vollstreckt Weißrussland die Todesstrafe. 2003 wurden laut AI mindestens acht Personen durch Erschießen hingerichtet.

Unterdrückung findet auf vielen Ebenen statt. NGOs werden kurzfristig verboten, unabhängige Zeitungen finden keine Druckerei oder erhalten Besuch, der die Computer beschlagnahmt. Wer im Beruf aus der Reihe tanzt, kommt seit Neuestem an den Pranger: Dazu hängen in vielen Betrieben Kästen, in denen man seine Kollegen schriftlich und anonym denunzieren kann.

Polizeiuniformen und Büstenhalter

Mit seiner Politik hat Lukaschenko das Land politisch isoliert, wirtschaftlich ist es allerdings durchaus angebunden: z. B. an Deutschland, das mit einem Anteil von ca. 6 Prozent am Außenhandelsumsatz wichtigster westlicher Handelspartner ist sowie zweitgrößter ausländischer Investor, derzeit fließen ca. 72,4 Mio. Dollar nach Weißrussland.

Wie die Financial Times erst kürzlich berichtete, hat sich das Land zu einer der wichtigsten Nähstuben Europas entwickelt. Triumph lässt BHs der Marke "Amourette" produzieren und die Polizei fast aller Bundesländer ordert dort die Hemden für ihre Beamten.

Erwachsen werden in der letzten Diktatur Europas

Wie wächst man auf in diesem Land? Sebastian Heinzel, 25, Filmemacher aus Berlin, hat sich genauer umgesehen. Er wollte wissen, wie Weißrussen in seinem Alter leben und wie sie sich dabei fühlen. Insgesamt fünfmal ist er mit seinem Kameramann Richtung Minsk gereist, um das Leben von sechs jungen Weißrussen zu verfolgen: Da ist Slava, der 25-jährige Sohn eines politischen Flüchtlings, Pavel, ein ehemaliger Kleinkrimineller, der heute als Fassadenstreicher arbeitet, Alexander, 21, der sich in der Widerstandsbewegung "Subr" (dt. Bison) engagiert, Ludmilla, 21, eine angehende Journalistin, Igor, 24, der gerade seinen Wehrdienst leistet und Olga, 23, tagsüber Tanzlehrerin, nachts Tänzerin in einem exklusiven Nachtklub.

Heinzel hat Personen begleitet, die sehr gegensätzlich sind. Alexander, der politisch Engagierte, ist von der Universität geflogen. Er wurde mindestens 30 bis 40 mal auf Demonstrationen verhaftet und ist jetzt davon überzeugt, dass man ihm nichts mehr antun kann, weil er alles verloren hat. Doch aufgeben will er nicht. Er kämpft für Weißrussland, weil er nicht will, dass es im Lukaschenko-Mief erstickt.

Igor ist beim Militär, die Politik interessiert ihn nicht. Er kann auch nicht finden, dass seine Heimat eine Diktatur ist. Seine Zukunft sieht er auf einer Datscha und er findet es toll, in einem Land zu leben, in dem man uneingeschränkt zur Jagd gehen kann.

Freiheit ist relativ

Ludmilla, die Journalistin, deren Zeitung geschlossen wurde, hält vom Widerstand wenig. Die Widerstandsbewegung Subr bezeichnet sie als Kindergarten. Freiheit existiert für sie im Inneren: "Wenn du es schaffst, nicht zu merken, wie viel Scheiße um dich passiert, dann bist du frei."

Olga sucht ihre Freiheit im Tanz. Sie ist stolz darauf, dass sie nicht den geraden Weg an ein Theater gegangen ist, sondern versucht, sich mit Tanzprojekten weiterzuentwickeln. Sie fühlt sich als Künstlerin und hofft, eines Tages damit auch Geld zu verdienen.

Pavel, der Fassadenanstreicher hat nach seinen düsteren Knasterfahrungen nur noch den Traum von Familie und einer Wohnung.

Wer sich politisch heraushält, findet seinen Platz

Die jungen Leute, die Heinzel begleitet hat, suchen sich ihren Weg. Vielleicht sind ihre Träume und Wünsche weniger hochfliegend als hier bei uns, eben an den Rahmen des Möglichen angepasst. Sie haben in ihrem Leben mal mehr, mal weniger Erfolg – das ist bei uns nicht anders. Der Staat macht sich sich im Regelfall dann bemerkbar, wenn man sich öffentlich äußert. Wer sich politisch heraushält, findet einen behüteten Platz: Einkommen und Renten sind niedrig, aber stabil, Miete und Strom sind subventioniert. Man lebt in den Tag hinein, aber das beunruhigt niemanden, denn das war ja schon zu Sowjetzeiten so.

"Für viele Weißrussen ist unklar, wo sie ihr Geld herkriegen", berichtet Heinzel. "Viele Leute arbeiten einfach hier und dort, z. B. auf den vielen Märkten. Das gilt sogar für Polizisten. Man weiß nie, was morgen ist. Aber die Leute scheint das nicht zu belasten, zumindest zeigen sie das nicht nach außen. Und sie wirken auch nicht resigniert. Die jungen Leute suchen sich ihre Nischen und ziehen ihre Pläne dann durch. Alle, die ich so getroffen haben, strahlen viel Energie aus."

Zwischenmenschliche Beziehungen regeln den Alltag

Was ihn selbst überraschte, war, wie frei er sich in Weißrussland bewegen konnte. "Wir hatten normale Touristenvisa. Um unsere Protagonisten zu schützen, haben wir Formulare mit Angaben über unsere Interviewpartner vermieden. Bis auf ein paar harmlose Kontrollen, hatten wir nie Probleme. Über Zufälle und persönliche Kontakte konnten wir sogar an Orten drehen, für die man in Deutschland eine Drehgenehmigung gebraucht hätte. Wie in einer Kaserne oder einem Gericht. Wenn wir über die Behörden gegangen wären, hätte das nie geklappt. Hier helfen zwischenmenschliche Beziehungen überall im Alltag. Das war positiv für uns, aber völlig unberechenbar."

Subotnik und Siegesmarsch

So richtig wohlgefühlt hat Heinzel sich nicht – vor allem in Minsk. Dort wirkte auf ihn alles sehr aufgeräumt, sehr sowjetisch. Wegen der hohen Polizeipräsenz fühlte er sich oft beobachtet. Manchmal fand er Weißrussland auch ziemlich bizarr. Etwa beim kollektiven Putztag, dem "Subotnik", den Lukaschenko zu Lenins Ehren wieder eingeführt hat. Oder bei der Ankunft in Minsk. Denn wenn der "Zug 1", der einmal am Tag der Zug nach Moskau dort abfährt, ertönt durch die Lautsprecher ganz laut ein sowjetischer Siegesmarsch.

Filmemacher Heinzel hat wenige getroffen, die so richtig die Nase voll hatten von Weißrussland. Das Problem ist Lukaschenko, der Heimat halten alle treu die Stange. Auffällig war aber doch, dass die Menschen wenig über Politik reden, vielleicht, weil das zu den ungeschriebenen Gesetzen des Landes gehört. Und weil sie so allgegenwärtig ist wie die Porträts von Lukaschenko, die viele öffentlichen Orte zieren. Seine Untertanen nennen ihn ironisch "Papa". Bevor man sich über ihn aufregt, macht man sich lieber über ihn lustig. Vor allem für seine Sprache erntet er Hohn und Spott, er spricht nämlich einen dörflichen Dialekt, so eine Art weißrussisches Platt.

Papa wird 50

Mit einem neuen Staatschef ist auf lange Sicht nicht zu rechnen. Laut Verfassung müsste Lukaschenko zwar nach zwei Amtszeiten aufhören. Demnach wäre für ihn 2006 Schluss. Doch er lässt keine Gelegenheit aus, schon jetzt anzukündigen, dass er über diese Frage sein Volk in einem Referendum entscheiden lassen will. Gegenüber der Presse erklärte er bereits:

Um ehrlich zu sein – wenn ich mir die Frage stelle, ob die Menschen es mir, jemandem, der sein ganzes Leben dem Dienst am Volke geopfert hat, verbieten werden, bei diesen Präsidentschaftswahlen zu kandidieren, dann glaube ich nicht, dass sie dies tun werden.

So schnell werden die Weißrussen ihr Staatsoberhaupt also nicht los und biologisch wird sich das Problem auch so schnell nicht erledigen, denn heute wird "Papa" erst mal 50.