Im Griff des Sicherheitsstaats?
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Kommentar. Nicht nur die Leipziger Buchmesse, auch Warnstreiks werden im Zeichen des Corona-Virus abgesagt. Kritische Stimmen mehren sich
Beruhigend klang keineswegs, was Gesundheitsminister Jens Spahn heute in einer Regierungserklärung zur Coronavirus-Ausbreitung erklärte. Es sei eine neue Lage entstanden, die Krankheit hätte Deutschland erreicht und das Schlimmste sei nicht überstanden. Wenn der Minister der Bevölkerung dann versicherte, es gäbe keinen Grund zur Beunruhigung, wirkt es dann eher als pflichtschuldiger Hinweis.
Kein Wort sagte Spahn zu den beunruhigenden Eingriffen in das Leben der Bevölkerung, die bereits seit mehreren Tagen auch in Deutschland zu verzeichnen sind. So wurde der 3. Warnstreik der ausgelagerten Beschäftigten bei der Berliner Charité, der lange vorbereitet war, von der Dienstleistungsgewerkschaft verdi abgesagt.
Doch die Streikabsage erfolgte nicht etwa, weil die Beschäftigten Erfolge in ihrem Kampf für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen erreicht hatten. Vielmehr wurden wegen des Coronavirus vorerst alle Arbeitskämpfe abgesagt. Die Entscheidung stieß bei vielen der Beschäftigten auf wenig Verständnis.
Manche sprachen sogar von einem Abwürgen des Streiks. Doch es scheint eher die allgemeine Dramatisierung der Ausbreitung von Covid-19 zu sein, der auch beim Gewerkschaftsvorstand die Entscheidungen diktiert. Die Absage der Leipziger Buchmesse wenige Tage vor ihrer Eröffnung ist wohl das deutlichste Ausdruck eines - meiner Auffassung nach - "Irrationalismus", der sich am Coronavirus nur beispielhaft festmacht.
"Mit Zahlen wird Politik gemacht und Panik", kommentiert Felix Lee in der taz sehr richtig. Lee, der lange China-Korrespondent der Taz war, wirft einen zweiten Blick auf die Zahlen. Da entsteht eben nicht das Bild einer Welt, die von einer unaufhaltsamen Pandemie bedroht ist:
In einigen Ländern, allen voran im Ursprungsland China selbst, sind viele Infizierte schon wieder genesen - und damit nicht mehr ansteckend. Die besonders heftig betroffene chinesische Krisenprovinz Hubei verzeichnet seit Beginn des Ausbruchs fast 68.000 Infizierte. Ansteckend sind aktuell aber nur noch 29.000, Tendenz weiter fallend.
In den Metropolen Schanghai, Guangzhou oder Tianjin ist die jeweilige Zahl der aktuell Infizierten sogar auf unter 50 gefallen. Trotzdem traut sich auch weiter kaum jemand in diese Städte. Singapur, wo es anfangs mit 100 Infizierten den außerhalb Chinas heftigsten Ausbruch gab, zählt aktuell 25 Erkrankte. Der südostasiatische Stadtstaat wird in der Rangliste immer noch weit vorne aufgeführt. Das anfangs ebenfalls als Sorgenland aufgeführte Vietnam gilt inzwischen als coronavirenfrei. Touristen bleiben aber auch diesem Land fern.
Felix Lee, Taz
Wo bleibt der mündige Bürger, der selber entscheiden kann, ob er sich einer Gefahr aussetzt?
Warum hat Minister Spahn nicht genau diese Beispiele in seiner Erklärung genannt und damit einen Beitrag gegen die Beunruhigung geleistet? Warum hat er nicht bekräftigt, die Menschen sollen sich in ihren Alltagsleben nicht einschränken lassen, wie es bei Anschlägen von Islamisten und anderen Faschisten von den Politikern regelmäßig zu hören ist?
Es wäre eine ganz andere Botschaft, wenn wir über die ständigen Meldungen von abgesagten Großveranstaltungen, Streiks, geschlossenen Schulen und Behörden hinaus erfahren würden, wie die Krankheit real verläuft, wie viele Menschen überhaupt Krankheitssymptome haben und wenn wir auch erfahren würden, dass in vielen Gegenden die Zahl der Betroffene rückläufig ist.
Dann könnten sich die Menschen selbst entscheiden, ob sie das Risiko in Kauf nehmen, beispielsweise an einer Streikveranstaltung teilzunehmen oder die Leipziger Buchmesse zu besuchen. Das wäre ganz im Sinne des mündigen Bürgers, der selber entscheiden kann, sich einer Gefahr auszusetzen. Das ist schließlich das Ideal, dass die bürgerliche Gesellschaft vor sich herträgt.
Es gibt für manche Länder Reisewarnungen auch wegen bestimmter Krankheiten. Aber es gibt wohl kaum ein Verbot, in die Länder zu reisen. Der Bürger entscheidet also selbst, ob er sich dem Risiko aussetzt und dann krank wird. Im Fall der Leipziger Buchmesse haben die Behörden unter dem Motto der Sicherheit festgelegt, dass die Bürger eben nicht mündig genug sind, selbst zu entscheiden, sich dem Risiko einer Krankheit auszusetzen.
"Die Gesundheit unserer Bürger und der Stadt steht für uns an erster Stelle", wird Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung zitiert. Dabei wurden in den letzten Jahren durch Gerichtsurteile auch in der Gesundheitspolitik die Rechte des Einzelnen gestärkt, auch bei der Frage, welchen gesundheitlichen Risiken sich ein Mensch aussetzen kann. Der Staat ist eben nicht die Instanz, die uns vor allen Krankheiten schützen kann und soll.