Im Land der Brunnenvergifter

Wer Fremdenhass schürt, kann Wahlen gewinnen. Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 25

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Deutschland verschwendet ein Potenzial menschlicher Fähigkeiten durch Beharren auf dem völkischen Mantra "Wir sind kein Einwanderungsland". Ein wachsender Teil der nach Deutschland zugewanderten Menschen lebt in problematischen Verhältnissen. Überdurchschnittlich viele von ihnen sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Das ist ein Versagen der Politik, die nicht rechtzeitig die richtigen Weichen gestellt hat, und nicht etwa der genetisch minderbemittelten, bildungsfernen Araber und Türken - wie Thilo Sarrazin das gern behauptet. Die Politiker aller Parteien haben die Dramatik der Situation nicht einmal verkannt. Sie haben sie ignoriert. Sie wollten nichts davon wissen. Helmut Kohl hat noch 1983 allen Ernstes die Forderung formuliert: "Die Zahl der Ausländer in Deutschland muss halbiert werden." Dabei brauchen die Konservativen, die Sozialdemokraten und die Liberalen einander - wie so oft - nichts vorzuwerfen. Sie sind alle auf derselben dümmlich-populistischen Welle geschwommen und schwimmen dort noch immer.

Erst 2004 kam es zur Verabschiedung eines Zuwanderungsgesetzes mit der offiziellen Bezeichnung "Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern". 2005 trat es in Kraft.

Das Gesetz erhebt zwar den Anspruch, die Einwanderung zu regeln, tatsächlich enthält es jedoch kaum neue Möglichkeiten dafür. Noch nicht einmal der Begriff "Einwanderung" kommt darin überhaupt vor. Es ist die übliche Mogelpackung, mit der sich die Politik seit den 1970er Jahren bisher aus jeder Verantwortung gestohlen hat.

Vor allem lässt das Zuwanderungsgesetz die Zuwanderung qualifizierter Arbeitnehmer nicht zu. Hier wirkt die "Zuwanderungspolitik" seit den 1970er Jahren nach, als nach dem Anwerbestopp statt qualifizierter Arbeitnehmer überwiegend geringer qualifizierte Zuwanderer aus humanitären Gründen in das Land gelassen wurden (Familienzusammenführung, Bürgerkriegsflüchtlinge, Asylbewerber).

Das hätte man sinnvoll mit Zuwanderung von Arbeitskräften ergänzen können. Hat man aber nicht. Das hätte auch die spätere Zuwanderungsdebatte entschärft, weil die positive Wirkung von Zuwanderung deutlicher geworden wäre. Auch diese Chance wurde verpasst.

Bis in die frühen 1990er Jahre hinein lag die jährliche Bruttozuwanderung zum Teil über einer Million, und die Nettozuwanderung übertraf 600.000 Menschen. Dennoch leierten die Politiker immer dieselbe Redensart herunter, dass Deutschland kein Einwanderungsland war und deshalb auch kein Einwanderungsgesetz brauchte.

Angesichts der realen Zahlen wäre das ein - wenn auch primitiver - Witz gewesen, wenn daran irgendetwas gewesen wäre, worüber man lachen könnte. Aber es fehlte eine Pointe. Denn es war nur ein besonders bestürzendes Zeichen einer gnadenlosen, ja geradezu barbarischen Verbohrtheit, die darauf zurückzuführen ist, dass der "Weitblick" demokratischer Politiker immer nur bis zum nächsten Wahltermin reicht.

Seit 2010 ziehen nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis) wieder deutlich mehr Menschen nach Deutschland zu. 2013 lag der Saldo von Zu- und Abwanderern nach einer Hochrechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sogar bei plus 400.000. Das entspricht einem Plus von mehr als zehn Prozent im Vergleich zu 2012 und ist der höchste Zuwanderungssaldo seit 1993.

Während Politiker und die breite Bevölkerung sich noch in dumpfer Fremdenfeindlichkeit die Köpfe über die Bedrohung der deutschen Integrität aus dem Ausland heiß reden, war die Zuwanderung nach Deutschland teilweise sogar rückläufig.

Anders als für die USA, die sich als Schmelztiegel begreifen, in dem jeder Einwanderer eine Chance bekommt, ist die Migrationsbilanz für Deutschland nicht sehr positiv. Während in den USA Zuwanderer mit einer besonderen Dynamik zur Wirtschaftskraft beitragen und die Wissensgesellschaft bereichern, profitiert Deutschland von einem großen Teil seiner Zuwanderer längst nicht so, wie es möglich wäre.

Das Land verschwendet ein Potenzial menschlicher Fähigkeiten. Ein wachsender Teil der nach Deutschland zugewanderten Menschen lebt in problematischen Verhältnissen. Überdurchschnittlich viele von ihnen sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Das ist ein Versagen der Politik, die nicht rechtzeitig die richtigen Weichen gestellt hat, und nicht etwa der genetisch minderbemittelten, bildungsfernen Araber und Türken - wie Thilo Sarrazin das gern behauptet.

Man hätte gehofft, dass die Politiker aller Parteien angesichts der allgemein zugänglichen Zahlen über den demografischen Wandel alarmiert wären, genauer: schon seit Jahrzehnten alarmiert gewesen wären. Doch weit gefehlt. Sie haben die Dramatik der Situation nicht einmal verkannt. Sie haben sie ignoriert. Sie wollten nichts davon wissen. Helmut Kohl hat noch 1983 allen Ernstes die Forderung formuliert:

Die Zahl der Ausländer in Deutschland muss halbiert werden.

Dabei brauchen die Konservativen, die Sozialdemokraten und die Liberalen einander - wie so oft - nichts vorzuwerfen. Sie sind alle auf derselben dümmlich-populistischen Welle geschwommen. So verständigte sich Ende 1981 die sozialliberale Bundesregierung unter Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher zu dem Grundsatz:

Es besteht Einigkeit, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist und auch nicht werden soll. Das Kabinett ist sich einig, dass für alle Ausländer außerhalb der EG ein weiterer Zuzug unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten verhindert werden soll.

Damals lebten gerade mal 4,6 Millionen Ausländer in der Bundesrepublik, von denen 2,1 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Heute sind es mehr als doppelt so viele.

Das vergiftete Klima der ausländerpolitischen Diskussion artikulierte sich auch im "Heidelberger Manifest" vom 17. Juni 1981. Zahlreiche Hochschulprofessoren wandten sich darin gegen die - wie es hieß - "Unterwanderung des deutschen Volkes" durch Ausländer, gegen die "Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums". Passagen des Wortlauts hätten bestens auf einen Reichsparteitag der NSDAP gepasst.

Ausländerfeindlichkeit schlug sich Anfang der 1980er Jahre in Bürgerinitiativen für einen "Ausländer-Stopp" nieder. Unter Androhung von Anschlägen und mit Parolen "Deutschland den Deutschen!" versuchte beispielsweise 1982 in Baden-Württemberg eine ausländerfeindliche Gruppe, Firmen zu erpressen. Sie verlangte die Entlassung ausländischer Arbeitnehmer.

"Ausländer ’raus" als Devise der offiziellen Politik

Nach dem Wechsel zur CDU/CSU/FDP-Koalition nahm die Ausländerpolitik in den Koalitionsvereinbarungen 1982 einen breiten Raum ein. In seiner Regierungserklärung am 13. Oktober 1982 nannte Bundeskanzler Helmut Kohl die Ausländerpolitik sogar einen der vier Schwerpunkte seines "Dringlichkeitprogramms", gleichberechtigt mit der Wirtschafts- und Außenpolitik.

Die Bundesregierung setzte eine Kommission "Ausländerpolitik" ein. Nach zahlreichen Ankündigungen beschloss die Bundesregierung am 22. Juni 1983 einen "Gesetzentwurf zur befristeten Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern".

Und so kommt eine tragische Verkettung von Politikerignoranz und dumpfer Fremdenfeindlichkeit von Teilen der Bevölkerung ins Spiel. Die Politiker verstanden instinktiv schon früh, dass die breite Bevölkerung alles Fremde und Fremdartige dumpf ablehnt und begriffen das als einmalige Chance. Es bildete sich eine unheilige Allianz zwischen breiten Schichten der Bevölkerung und Politikern, die vor allem in Demokratien als Herrschaftsinstrument taugt.

So mobilisierten sie in den 1970er, 1980er, 1990er und auch noch 2000er Jahren eine tumbe Ablehnung gegen Ausländer und insbesondere gegen Türken und gegen Moslems. Das wäre bloß primitiv, wenn dadurch nur niederträchtige Emotionen und latenter Rassismus mobilisiert worden wäre. Aber auf dem Spiel steht diese Zukunft dieses Landes, und die hat ohne eine stärkere und intelligent organisierte Zuwanderung als heute überhaupt keine Chance.

Regierungsamtliches Sprücheklopfen gegen Ausländer

Bundeskanzler Ludwig Erhard 1965 bei nur 1,2 Millionen Ausländern:

"Der deutsche Arbeitsmarkt ist erschöpft. Die Heranziehung von noch mehr ausländischen Arbeitskräften stößt auf Grenzen. Nicht zuletzt führt sie zu Kostensteigerungen und zusätzlichen Belastungen unserer Zahlungsbilanz."

Bundeskanzler Willi Brandt in seiner Regierungserklärung 1973:

"In unserer Mitte arbeiten fast 2,5 Millionen Menschen anderer Nationen. Es ist aber notwendig geworden, dass wir sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten. Wir dürfen das Problem nicht dem Gesetz des augenblicklichen Vorteils überlassen!"

Bundeskanzler Helmut Schmidt gegenüber Zeitungsverlegern:

"Mit weit über 4 Millionen Ausländern ist die Aufnahme der deutschen Gesellschaft erschöpft, wenn nicht ganz große Probleme entstehen sollen....Mehr als 4,5 Millionen Ausländer können wir mit Anstand nicht verdauen..."

Und 1975:

"Beim Zuzug von Gastarbeiter-Angehörigen ist die zulässige Grenze inzwischen erreicht und in manchen Fällen bereits überschritten. Ich warne vor einem Nationalitäten-Problem in der Bundesrepublik Deutschland!"

1980: "Die Bundesrepublik soll und will kein Einwanderungsland werden!"

Und: "Wir haben 4 Millionen Ausländer, wir wollen keine 6 Millionen!"

In der "Zeit" vom 5. Februar 1982: "Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze!"

In einer DGB-Veranstaltung seines Hamburger Wahlkreises vom November 1981:

"Wir können nicht mehr Ausländer verdauen, das gibt Mord und Totschlag!"

Auf dem SPD-Wahlparteitag in Hessen:

"Es ist ein Fehler gewesen, so viele Ausländer ins Land zu holen!"

SPD-Fraktionschef Herbert Wehner:

"Wir müssen aufpassen, dass wir nicht die Prügelknaben der Nation werden, im Hinblick darauf, dass die SPD für die zunehmenden Ausländerprobleme verantwortlich gemacht werden könnte."

CSU-Vorsitzender Franz-Josef Strauß in einem Brief an die Bundesbeauftragte für Ausländerfragen, Lieselotte Funke, im Sommer 1982:

"Die Bevölkerung eines Landes, das kein Einwanderungsland ist, muss erwarten dürfen, dass alle nach der Verfassung zulässigen Maßnahmen ergriffen werden, damit der Zuzug von Ausländern in engsten Grenzen gehalten wird."

Bundeskanzler Helmut Kohl in einem ZDF-Interview vom 3. Oktober 1982, dem ersten Tag seiner Kanzlerschaft:

"Aber es ist auch wahr, dass wir die jetzige vorhandene Zahl der Türken in der Bundesrepublik nicht halten können, dass das unser Sozialsystem, die allgemeine Arbeitsmarktlage, nicht hergibt. Wir müssen jetzt sehr rasch vernünftige, menschlich sozial gerechte Schritte einleiten, um hier eine Rückführung zu ermöglichen."

Und an anderer Stelle:

"Das Problem ist, dass wir offen aussprechen müssen, dass wir mit der Zahl der türkischen Gastarbeiter bei uns, wie wir sie jetzt haben, die Zukunft nicht erreichen können. Die Zahl kann so nicht bleiben. Sie muss verringert werden."

Indem sie dumpfe Stimmungen organisiert, unterstützt und selbst mobilisiert, trägt die Politik aktiv dazu bei, die Zukunft dieses Landes zu verspielen und dem ganzen Land zu schaden. Ohne eine stärkere Zuwanderung hat Deutschland überhaupt keine Chance. Das bedeutet allerdings auch: Mit stärkerer Zuwanderung ist die Zukunft noch längst nicht gesichert.

1990 und in den folgenden Jahren wiederholte sich die Diskussion um die Zuwanderung nach Deutschland, wenn auch mit veränderten Rollen. Die Debatte konzentrierte sich nun auf die Asylbewerber, deren Zahl 1992 mit rund 440.000 im Bundesgebiet ihren Höhepunkt erreichte.

Wiederum schien es der CDU/CSU und den unionsregierten Bundesländern zu gelingen, das "Ausländerthema" gegenüber der SPD zu dominieren. Schließlich stimmte auch die SPD - mit dem Rücken offensichtlich zur Wand - der Grundgesetzänderung im "Asylkompromiss" zu. Das "Superwahljahr 1994" und die Befürchtung, die Legitimationsbasis in der Bevölkerung zu verlieren, spielten eine entscheidende Rolle.

Im Landtagswahlkampf von 1996 in Baden-Württemberg wiederholte sich die Einwanderungsdebatte, die früher um Türken und Asylbewerber geführt wurde. Angesichts hoher Arbeitslosigkeit, so argumentierten diesmal die Sozialdemokraten, sei es unverantwortlich, über 200.000 Aussiedler ins Land hereinzulassen.

Im schlimmsten Extrem haben Politiker latente oder auch ganz manifeste Fremdenfeindlichkeit mobilisiert, weil sie - wohl zu Recht - meinten, dass sie damit Wahlen gewinnen können. Im hessischen Landtagswahlkampf 1999 funktionierte das auf jeden Fall. Die CDU führte wegen der Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts eine ausländerfeindliche Unterschriftenaktion gegen die damalige rot-grüne Bundesregierung durch und erklärte die Landtagswahl zur Volksabstimmung gegen die doppelte Staatsangehörigkeit. Bis zum Wahltag sammelte die Union nach eigenen Angaben in Hessen rund 300.000 Unterschriften unter den sechs Millionen Hessen und gewann die Wahl.

Ob Rot oder Schwarz - Alle profitieren von Fremdenhass

Der Erfolg gab ihr Recht. Mit der Unterschriftenaktion konnte Roland Koch die Stimmung im Wahlkampf polarisieren. Ihm gelang der Wahlsieg über die von Hans Eichel geführte SPD in Hessen. Koch wurde Ministerpräsident von Hessen. Im Landtagswahlkampf 1999 setzte Hessens CDU mit ihrer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft ein für den Sieg letztlich entscheidendes Zeichen.

Zu diesem Ergebnis kam seinerzeit auch das Wahlforschungs-Institut infratest dimap:

Durch das Ausländerthema wurde die positive Bilanz der damaligen rot-grünen Landesregierung in den Hintergrund gedrängt und der in den letzten Wochen gewachsene Unmut über die neue Bundesregierung kanalisiert.

Und weil das in dem Fall so hervorragend funktioniert hat, versucht man es immer mal wieder. Als die Bundesregierung den Versuch unternahm, mit Hilfe einer Green Card ausländische Computerexperten speziell aus Indien anzuwerben, verfiel der nordrhein-westfälische CDU-Spitzenkandidat für die NRW-Landtagswahl 2000 Jürgen Rüttgers auf die verwegene Idee, im Wahlkampf mit dem Slogan "Kinder statt Inder" zu werben. In Stammtischmanier empörte er sich:

Statt sich um die Integration der hier lebenden Ausländer zu kümmern, sollen jetzt noch Hindus hinzukommen.

Ausgerechnet aus seinen eigenen Versäumnissen - bis Ende 1998 war Rüttgers als Zukunftsminister für Bildung zuständig - entwickelte er einen ausländerfeindlichen Slogan. Ausländerfeindlich, denn allerdings impliziert "Kinder statt Inder" eindeutig, dass Inder den deutschen Kindern Chancen wegnehmen.

Nur über diese Behauptung, dass die "fremden" Menschen statt der "eigenen" bevorzugt werden, erreicht der Slogan seinen Zweck. Am Ende scheiterten beide, Rüttgers verlor die Wahl und die Green Card wurde 2004 abgesetzt, doch eins blieb ungelöst: die Problematik der unzureichenden Zuwanderung.

Die Landtagswahlkämpfe in Hessen 1999 und in Nordrhein-Westfalen 2000 waren keine einsamen Ausreißer. Wie fruchtbar der Boden noch immer ist, auf dem Ausländerfeindlichkeit gedeiht, zeigt sich nicht nur an den hitzigen Debatten über die größtenteils absurden Thesen des sozialdemokratischen Ex-Bundesbankers Thilo Sarrazin über türkische und arabische Einwanderer.

Die dumpfe Ablehnung weiterer Einwanderung erlebte ja in den Jahren 2008 und 2009 einen neuen Höhepunkt, und das ausgerechnet in zwei Jahren, in denen mehr Menschen aus Deutschland auswanderten als einwanderten. Ausgerechnet während Deutschland Auswanderungsland war, diskutierten breite Teile der Öffentlichkeit darüber, wie schädlich doch die Einwanderung von Ausländern aus fremden Kulturen sei.

Das ist schon eine ziemlich absurde Situation; denn die Auswanderung tatendurstiger junger Leute aus Deutschland verschärft noch alle schon bestehenden Probleme des demografischen Wandels: Die Deutschen schaffen sich allmählich ab und klagen über ein Phantom: den Zuzug von Leuten aus fremden Kulturen, die gar nicht mehr kommen.

Natürlich darf im Chor der Zuwanderungsgegner der gerade amtierende bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef nicht fehlen. In einem Interview mit der Zeitschrift "Focus" proklamierte Horst Seehofer, die Integrationsfähigkeit von Zuwanderern hänge auch von ihrer Herkunft ab:

Es ist doch klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun. Daraus ziehe ich auf jeden Fall den Schluss, dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen.

Damit löste Seehofer zwar einen Sturm der Entrüstung aus, selbst CDU- und CSU-Politiker waren empört. Aber genau das ist ja das Ziel solcher Stürme im Wasserglas. Es geht nicht darum, in der Öffentlichkeit einen Gedanken zu lancieren, der dann nach Pro und Contra erörtert werden kann. Es geht darum, eine im Land verbreitete ausländerfeindliche Stimmung am Kochen zu halten. Da kann man auch schon mal ordentlich draufhauen. Es ist billige Stimmungsmache und üble Hetze. Hauptsache der Biertisch wird bedient.

Selbst plumpe Hetze wäre ja nur unmoralisch. Aber bei den Fragen, die der demografische Wandel über die Notwendigkeit von Zuwanderung in einer dramatisch schrumpfenden Bevölkerung aufwirft, geht es um die Zukunft Deutschlands und um die Zukunftsfähigkeit dieses Landes.

Es ist höchst einfältig und zutiefst verantwortungslos, die epochalen Probleme mit Latrinenparolen abzubügeln. Nicht weil Multi-Kulti-Begeisterung und Gutherzigkeit gegenüber Ausländern so viel edler wären. Die sind genauso verbohrt wie der dumpfe Fremdenhass.

Wenn man der deutschen Bevölkerung politisch einzureden versucht, sie könne die nächsten Jahrzehnte ohne Einwanderung wirtschaftlich, sozial und politisch überstehen, dann schadet das niemandem mehr als den Deutschen selbst. Ihnen entsteht dadurch der größte Schaden. Sie müssen vor der Verantwortungslosigkeit der Politiker am meisten geschützt werden. Sonst schaffen sich die Deutschen am Ende noch wirklich ab…

Die List der Unvernunft: Wahlen gewinnen mit Ausländerhass

Doch in der Mechanik der politisch geschürten Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit liegt eine doppelte List. Indem die Politik aller Parteien eine sinnvolle Zuwanderung und Integration von Zuwanderern aktiv behindert, schafft sie die Voraussetzungen dafür, dass viele Zuwanderer schlecht oder gar nicht integriert sind. Darüber wiederum macht sich in der Bevölkerung Unmut und Unruhe breit - wenn auch eher in Gestalt von Unmut über die Ausländer. Und damit wiederum lassen sich Wahlen gewinnen.

Wenn je das Bild vom circulus vitiosus, vom tückischen Teufelskreis, berechtigt war, dann in genau dieser Situation. Teuflisch daran ist, dass die auf Mobilisierung dumpfen Fremdenhasses basierende Politik der primitiven Rückständigkeit und Fortschrittsfeindlichkeit in Demokratien auch mit Wahlsiegen belohnt wird. Welche List der Unvernunft! In demokratischen Systemen kann Politik, die sich gezielt jeder Vernunft entgegenstemmt und groben Unsinn erzeugt, auch noch erfolgreich sein. Was für eine bodenlose Schweinerei!

Vor dem Hintergrund dieser Stimmungslage sind bisher so gut wie alle vernünftigen Vorschläge für ein geregeltes System der Zuwanderung wie übrigens auch die meisten Vorschläge für eine geregelte Integration der bereits in Deutschland lebenden Ausländer gezielt und planmäßig vereitelt worden.

Klassische Einwanderungsländer wie Kanada und Australien haben ausgeklügelte Punktesysteme entwickelt, um qualifizierte Ausländer ins Land zu holen. Die Punkte werden nach Kriterien wie Alter, Familienstand, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung vergeben. Auch die Bereitschaft zu Investitionen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen wird bewertet.

Die USA haben für die Einwanderung ein Fünf-Klassen-System geschaffen. An der Spitze rangieren "Hochqualifizierte" aus Wissenschaft, Kunst, Bildung, Wirtschaft oder Sport. Professoren und Forscher müssen einen erstklassigen internationalen Ruf vorweisen. Facharbeiter, Geistliche und Ordensmitglieder haben in Klasse drei und vier noch eine Chance. Unternehmensgründer sind erwünscht, wenn sie bereit sind, zwischen einer halben und einer Million Dollar zu investieren, und damit mindestens zehn Arbeitsplätze für Einheimische schaffen.

Nach diesem Muster hatte die Zuwanderungskommission der Bundesregierung, die Süßmuth-Kommission, schon 2001 ein Punktesystem vorgeschlagen, wonach Einwanderer ins Land gelassen werden sollten, die zumindest 65 bis 70 Prozent einer Höchstpunktzahl erreichten, etwa für Berufsqualifikation, Alter - die Bewerber sollten nicht älter als 45 Jahre alt sein - und für die Sprachkenntnisse der Kandidaten.

Die 21 Experten der Süssmuth-Kommission forderten damals in einer rund 300 Seiten starken Studie die "langfristige Öffnung Deutschlands" mit Hinweis auf zwingende "demografische Gründe". Das Punktesystem sollte die jährliche Zuwanderung regeln. Seitdem ist die Politik keinen Schritt vom Fleck gekommen.

Obwohl die Kommission überaus zaghaft vorschlug, das Ganze in einer Testphase zu erproben und das Schlupfloch kontrollierter Einwanderung vorerst für 20.000 Ausländer zu öffnen, hatte der Vorschlag keine Chance: Ein Jahr vor der Bundestagswahl fürchtete der tapfere SPD-Innenminister Otto Schily schon die bloße Möglichkeit, dafür zur Zielscheibe im Wahlkampf zu werden. Wenn es in der demokratischen Politik einmal darauf ankäme, Führungsstärke und mannhafte Durchsetzungsfähigkeit auch vor Wahlen zu zeigen, dann ziehen noch alle Helden der Politik lieber tapfer den Schwanz ein.

Die Zukunft des Landes ist nur noch eine Nebensache

Man muss sich das vor Augen halten: Die Aussicht darauf, die Zukunftschancen Deutschlands durch Zuwanderung von gerade mal 20.000 Ausländern wenigstens symbolisch und auch nur versuchsweise zu sichern, ließ den Bundesminister des Inneren - sonst eher der Typ Großmaulheld - verzagt einknicken, weil ihm der Wahlkampf denn doch wichtiger war. Und auch das ist typisch für die Einfalt der demokratischen Politik im Spätstadium: Der Wahlkampf bestimmt die Politik. Die Zukunft des Landes ist Nebensache.

In den Diskussionen um die Anwerbung von ausländischen Fachkräften bleibt zumeist unberücksichtigt, dass bereits Migranten in Deutschland leben, die über Qualifikationen verfügen. Fehlende Anerkennung und berufliche Integrationsprogramme führen dazu, dass sie arbeitslos oder weit unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt sind. In der Konsequenz arbeiten begehrte Fachkräfte wie Ingenieure als Hausmeister oder Müllmänner.

Nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums arbeitet sogar jeder zweite beschäftigte Einwanderer mit ausländischem Abschluss unterhalb seiner Qualifikation. Die Anerkennung ausländischer Abschlüsse ist kompliziert und undurchsichtig.

Die Bürokraten in den Ämtern behindern jede pragmatische Lösung und reiten irgendwelche nichtsnutzigen Paragrafen. Die Regeln und die zuständigen Behörden sind in jedem Bundesland verschieden. Auch die Bürokratie rottet sich mit der Politik zusammen, um den Fortschritt des eigenen Landes zu behindern.

Die CSU pflegt die fremdenfeindliche Stimmung praktisch immer in der Öffentlichkeit. Strafen für Integrationsverweigerer, restriktiver Umgang mit Familiennachzug, Förderung hier lebender Migranten, Zuzug von Hochqualifizierten: So stellt sich die CSU eine neue Integrationspolitik vor. 2010 präsentierte sie einen Sieben-Punkte-Plan, mit dem sie schärfere Restriktionen für die Einwanderung nach Deutschland erreichen will.

Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem mehr Menschen aus Deutschland aus- als einwandern, kam der fabelhafte Plan akkurat zur rechten Zeit. Rund 800 Delegierte stimmten während des CSU-Parteitags in München dafür. "Deutschland ist kein klassisches Zuwanderungsland", heißt es in dem Papier. Wer die Integration seiner Familienangehörigen behindert, solle in Zukunft ebenso bestraft werden wie bei eigener Verweigerung. Beim Nachzug von Familienangehörigen soll das Alter, von dem an Kinder die deutsche Sprache beherrschen müssen, von 16 auf 12 Jahre sinken.

Auch der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) stellte sich gegen die Auffassung, Deutschland sei ein Einwanderungsland: "Wir waren nie ein Einwanderungsland und wir sind’s bis heute nicht", sagte Schäuble zur Eröffnung des Integrationskongresses 2006 des Deutschen Caritasverbands.

So auch der CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt im Oktober 2010:

Die USA ist ein Einwanderungsland, Deutschland ist kein Einwanderungsland. Wir haben eine gewachsene Kultur über Jahrhunderte.

Wirtschaftliche Probleme und Facharbeitermangel müsse man lösen, "ohne dass wir uns die Probleme der letzten Zuwanderungswellen wiederum reinholen, die wir heute noch nicht mal behoben haben".

Im November 2010 bestritt der neue CDU-Vize Volker Bouffier, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei. "Wir haben Einwanderung, aber Deutschland ist kein Einwanderungsland", sagte der hessische Ministerpräsident im Interview gegenüber dem "Hamburger Abendblatt".

Der demografische Wandel ist keine Naturkatastrophe, die ohne Vorwarnung über die entwickelten Länder hineingebrochen ist, Er gleicht nach den Worten des Rostocker Bevölkerungsforschers Professor James W. Vaupel vielmehr dem Gezeitenwechsel an der Nordsee:

Die Flut steigt zwar langsam, aber stetig und unaufhaltsam. Die zentrale Gefahr stellt dabei nicht der demografische Wandel an sich dar, sondern vielmehr die demografische Ignoranz.

Fast schon ein halbes Jahrhundert lang hat die Politik in Deutschland den demografischen Wandel verschlafen. Die Versäumnisse dieser Zeit sind nicht mehr aufzuholen. Mit dieser Politik wird sich Deutschland in einigen Jahrzehnten zur Wüste entwickelt haben.

Die Problematik des Systems "repräsentative Demokratie" stellt sich beim Thema "demografischer Wandel und Zuwanderung" wie bei jedem anderen politischen Thema auch auf stets die gleiche Weise. Vor den Entscheidungsträgern baut sich immer wieder die Alternative zwischen vernünftiger Problemlösung auf der einen Seite und Machterhalt beziehungsweise Machtgewinn auf der anderen Seite auf.

Das ist keine subjektive Entscheidung der Politiker. Die können sich die Entscheidung in die eine oder andere Richtung auch nicht aussuchen. Individuell ginge das vielleicht noch, aber die kollektiven Entscheidungsgremien haben nicht wirklich die Wahl. Ihr Zweck sind Machterhalt und Machtgewinn. Das politische System stellt sie vor diese Alternative - ob sie das nun wollen oder nicht.

Andere politische Systeme konfrontieren ihre Entscheider nie oder so gut wie nie, auf jeden Fall aber nicht bei jeder Einzelentscheidung mit dieser Alternative. Das ist eine Besonderheit, die demokratische Herrschaft charakterisiert und auch paralysiert.

Politiker in repräsentativen Demokratien haben ständig zwischen diesen Alternativen zu wählen. Und sie entscheiden sich in aller Regel und in so gut wie allen Einzelfällen für Machterhalt oder Machtgewinn und gegen vernünftige Problemlösungen. Heute stehen fast alle entwickelten demokratischen Systeme aus eben diesem Grund am Rande des Abgrunds.

So rieselt über Jahrzehnte hinweg stets von neuem und immer mehr Sand ins Getriebe der politischen Entscheidungsprozesse. Bei keiner einzigen politischen Entscheidung in repräsentativen Parteiendemokratien geht es einfach nur darum, eine Lösung für ein wie immer geartetes Problem zu finden. Es geht vielfach vorrangig darum zu erkennen, wie man über ein Thema Wähler beeinflussen, Wahlen gewinnen, und politische Macht erhalten oder erringen kann.

Jede politische Entscheidung hat diesen Doppelcharakter, und jede einzelne politische Entscheidung wird dadurch in ihrer Substanz verzerrt. Niemals entscheiden die Politiker und ihre Organisationen in repräsentativen Demokratien einfach nur über die Sache. Im Gegenteil, meist haben sachfremde Überlegungen einen höheren Stellenwert. Es geht stets auch um die Opportunität der Entscheidung für die Entscheidungsträger.

Die Entscheidungsprozesse in demokratischen Parteienstaaten basieren so auf Strukturen, die im Prinzip jede politische Entscheidung irrational verzerren: irrational sind sie im Sinne einer Problemlösung, rational bestenfalls im Sinne der politischen Herrschaft. Das ist der tiefere Grund, warum so viele Reformpläne nicht zu Stande kommen: Es bei ihnen nicht um die Sache. Es geht um ihre Opportunität.

Beim Thema "Einwanderungsland" hat das über Jahrzehnte hinweg dazu geführt, dass es für die politischen Parteien immer einfacher war, sich gegen pragmatische Lösungen und für Wahlgewinne zu entscheiden. Man kann das den einzelnen Politikern und selbst der politischen Kaste als Kollektiv gar nicht einmal zur Last legen. Sie haben diesen Zwang ja nicht erfunden. Er ist dem System des repräsentativen parlamentarischen Parteienstaats immanent.

Es gibt kein anderes politisches System, in dem die Zwänge zum Machterhalt in dieser destruktiven Weise auf Dauer perpetuiert sind. Und die Systemimmanenz der Zwänge zu Machterhalt oder Machtgewinn macht die repräsentativen Demokratien auf Dauer zum größten Obstakel ihrer selbst. Ist die Herrschaft der politischen Kaste erst einmal etabliert, ist der Zwang zu ihrer permanenten Verteidigung für die Herrschenden unüberwindlich. Es ist ein neues politisches Phänomen: Die permanente Stagnation bedroht die Zukunft der entwickelten Demokratien in aller Welt.