Im Machtkampf gelähmt
Ägypten: Verpasste Reformen, eine zynische Justiz, Polizeibrutalität und schlechte wirtschaftliche Aussichten
Zwei Jahre nach der Revolution bleibt Ägypten in einer Spirale aus periodisch wiederkehrenden Gewaltausbrüchen gefangen. Der Machtkampf zwischen Muslimbrüdern und Opposition blockiert die notwendigen Reformen des Sicherheitsapparates, in dem nach wie vor alte Kader dieselben alten Praktiken ausüben. Unterdessen stagniert die Wirtschaft auf niedrigem Niveau - und die Frustration wächst wieder.
Die U-Bahnstation Sadat unter Kairos zentralem Tahrir-Platz kann man in diesen Tagen als symbolischen Spiegel für die Lage des Landes sehen. In dem langen Tunnel, der auf eine der größten Einkaufstraßen der Kairoer Innenstadt hinausgeht, ist das Licht ausgefallen. Üblicherweise ist der Tunnel bis in die Nacht hinein von Verkäufern gesäumt, die Spielzeug, billigen Schmuck und Taschentücher anbieten. In diesen Tagen hängt ein beißender Geruch, der Augen und Schleimhäute schnell reizt, im dunklen Tunnel. Es sind nur eine Handvoll Verkäufer da - meistens Kinder - die Atemmasken verkaufen, welche gegen das Tränengas schützen sollen, das wieder einmal durch die Straßen am Rande des Tahrir-Platzes weht.
Die Haupstadt Kairo blieb während der gewaltsamen Eskalationen der letzten zwei Wochen zwar nur ein Nebenschauplatz, doch die Unruhen waren der blutigste Ausbruch der Gewalt seit einem Jahr. In Suez starben am vorvergangenen Wochenende bei Demonstrationen gegen Morsi und die Muslimbrüder 10 Menschen bei dem Versuch ein Regierungsgebäude und Zentralen der Muslimbruderschaft zu stürmen.
In Port Said folgten Auschreitungen, nachdem 21 Menschen für ihre mutmaßliche Beteiligung am Stadion-Massaker vor einem Jahr zum Tode verurteilt wurden. Etliche der Verurteilten waren nicht älter als 20 Jahre. Entsetzte Angehörige der Verurteilten versuchten das Gefängnis zu stürmen, in dem die Verurteilen gefangen gehalten werden (Weiter im Ausnahmezustand). Die Sicherheitskräfte schossen scharf. Am folgenden Tag wurde eine Trauerkundgebung für die Todesopfer von Unbekannten beschossen, wobei weitere 7 Menschen ums Leben kamen. Insgesamt starben 40 Menschen in Port Said.
Den Ereignissen in den beiden Städten am Suez-Kanal ist vor allem gemein, dass die meisten Todesopfer auf den Gebrauch von scharfer Munition durch die Sicherheitskräfte zurückzuführen sind.
Keine Verbesserung bei Polizeibrutalität und Straflosigkeit
In Kairo folgte die Gewalt der letzten Wochen einem vertrauten Muster: Hunderte meist jugendliche Demonstranten lieferten sich, bewaffnet mit Steinen und Molotov-Cocktails, Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften, die Tränengas und Schrotkugeln einsetzten. Doch auch in Kairo forderten verirrte Kugeln Todesopfer. Die Wut auf die Sicherheitskräfte wächst, seitdem ein Video im Internet zirkuliert, welches während der jüngsten Zusammenstöße vor dem Präsidentenpalast gefilmt wurde. Darauf sind Polizisten zu sehen, die einen Demonstranten ausziehen, nackt über den Boden ziehen und mit Schlagstöcken traktieren. Nur kurz darauf schockierte die Nachricht des Todes eines Aktivisten in Polizeigewahrsam die Öffentlichkeit.
Mohamed el Gendy wurde während der Auseinandersetzungen, die auf den zweiten Jahrestag der Revolution folgten, verhaftet und tauchte drei Tage später in einem zentralen Krankenhaus in Kairo wieder auf. Drei Tage später erlag er seinen lebensgefährlichen Verletzungen. In den Folgetagen wurden Bilder seines zertrümmerten Gesichts auf sozialen Netzwerken verbreitet.
In der Blogossphäre wurde Mohamed al Gendy bereits "der neue Khaled Said" genannt - in Anlehung an den bekannten ägyptischen Blogger und Aktivisten, der im Sommer 2010 in Alexandria von Polizisten zu Tode geprügelt wurde, nachdem er Polizisten bei der Annahme von Bestechungsgeldern gefilmt hatte. Khaled Said wurde zu einer der Ikonen der revolutionären Jugendbewegungen.
Diese neuen Meldungen über Gewalt durch Sicherheitskräfte korrespondieren mit einem Bericht von Human Rights Watch, der für das Jahr 2012 keinerlei Verbesserung im Bereich der Polizeigewalt und der Straflosigkeit für an Gewalt beteiligte Mitglieder des Sicherheitsapparates konstatiert.
Wie viel Macht hat Mursi über den Sicherheitsapparat?
Inwieweit Präsident Morsi überhaupt ernstzunehmende Entscheidungsgewalt über den Sicherheitsapparat hat, ist Gegenstand von Spekulation unter politischen Analysten in Ägypten. Die Sicherheitskräfte agieren weitestgehend auf Anweisung des Innenministeriums, dessen Führungsriege zum Teil noch von Kadern des alten Regimes besetzt sind.
Das Innenministerium repräsentiert nach wie vor den „tiefen Staat mit der harten Hand“ der Mubarak-Jahre. An einer Eigenreform kann der Sicherheitsapparat nicht interessiert sein, würde diese Reform der alten Sicherheitselite doch Position und Privilegien kosten. Vor kurzem wurde der ehemalige Innenminister Habib al Adly zu drei Jahren Haft verurteilt. Er soll während seiner Amtszeit junge Rekruten der Sicherheitspolizei dazu eingesetzt haben, ihm Prunkvillen bauen und auf seinen Farmen arbeiten zu lassen.
Ob diese medienwirksame Verurteilung des ehemaligen Innenministers das Supremat der Justiz über den Sicherheitsapparat widerspiegelt, bleibt allerdings fraglich. Der Bericht von HRW-Watch kritisiert die Justiz auch dafür, Beschuldigungen gegen die Polizei wegen Folter oder Polizeigewalt auch im Jahr 2012 nur in den seltensten Fällen untersucht zu haben.
Der tiefe Staat schützt seine Vertreter
Auch die 21 Todesurteile in Port Said wegen der Beteiligung am Stadion-Massaker vor einem Jahr ("Ein Szenario, das die ägyptische Gesellschaft bis in ihren Kern erschüttert") spiegeln vor allem eines wider: Es ging der Justiz nicht um eine juristische Aufarbeitung der Tragödie.
Eine unabhängige Untersuchungskommission hat es nie gegeben und auch zu Ermittlungen in den Sicherheitsapparat, dem viele eine aktive Rolle in der Tragödie unterstellten, kam es nicht. Dabei ist mittlerweile hinreichend klar, dass die Ultras des Port Saider Clubs Al Masry das Massaker ohne Mitwisserschaft der Sicherheitskräfte im Stadion nicht im selben Maße hätten anrichten können. Sicherheitskontrollen am Eingang fanden nicht statt. Zudem waren die Notausgänge geschlossen und die Flutlichter ausgeschaltet, als die Gewalt ausbrach.
Viele unterstellen dem Sicherheitsapparat das Massaker an den Ultras des Kairoer Clubs Al Ahly im besten Falle hingenommen und im schlimmsten Falle als Racheaktion für deren aktive Rolle während der Straßenschlachten mit der Polizei bewusst geplant zu haben. Doch außer ein paar niedrigrangigen Polizisten, die zu Haftstrafen verurteilt wurden, wurden keine Mitglieder des Sicherheitsapparates belangt.
Die äyptische Tageszeitung Al Masry al Youm fand zudem bei Recherchen unter Angehörigen in Post Said heraus, dass etliche der zum Tode Verurteilten - von denen einige nicht älter als 18 Jahre sind - zum Zeitpunkt des Gewaltausbruchs noch nicht mal im Stadion waren.
Während das Urteil in Port Said Wut und Entsetzen auslöste, wurde es von den Ultras des Kairoer Vereins Al Ahly gefeiert. Diese hatten eine harte Linie der Justiz gefordert und im Falle eines in ihren Augen zu weichen Urteils Chaos in den Straßen von Kairo angedroht. Aufkleber mit der Drohung "Schuldspruch oder Chaos!“ waren im Vorfeld des Urteils allerorten in Kairo zu sehen. Am Abend vor der Urteilssprechung demonstrierten die Al-Ahly-Ultras ihre Bereitschaft auf Ankündigungen auch Taten folgen zu lassen.
Für einige Stunden legten sie die Kairoer U-Bahn lahm und blockierten den Verkehr über zwei der wichtigsten Nilbrücken. Damit brachten sie die Infrastruktur der 20-Millionen Stadt im Wesentlichen zum Erliegen. So wird vermutet, dass das harsche Urteil in Port Said auch der zynischen Kalkulation folgte, Chaos in Port Said sei besser zu kontrollieren als Chaos in Kairo.
Der Zynismus der Justiz - die nicht davor zurückschreckte unschuldige junge Menschen zum Tode zu verurteilen - und die Brutalität des Sicherheitsapparates spiegeln wider, dass Reformen der Institutionen bisher im Keim erstickt wurden. Auf Präsident Morsis bei Machtantritt verkündeter Absicht die Institutionen von Funktionären zu befreien, die für Gewalt gegen Demonstranten verantwortlich sind, sind bisher kaum greifbare Taten gefolgt. Die Vorsitzende des ägyptischen Arms von Human Rights Watch Heba Morayef drückt es so aus:
Das bedeutendste Charakeristikum für das Jahr 2012 sind die verpassten Möglichkeiten, Reformen zu realisieren.
Der Machtkampf zwischen Muslimbrüdern und Opposition blockiert eine konstruktive Entwicklung
Vor dem Hintergrund der Reformblockade in den Institutionen und der jüngsten Gewaltwelle scheinen derzeit weder Morsis Regierung noch die Opposition greifbare Konzepte zu haben. Präsident Morsi reagierte auf die Unruhen mit einer Ausweitung staatlicher Gewalten: Er verhängte eine Ausgangssperre über die drei am Suez-Kanal gelegenen Städte Port Said, Ismailia und Suez und verlieh dem Militär - wie schon im Vorfeld zum Verfassungsreferendum - unbeschränkte Autorität, Zivilisten zu verhaften. Andererseits rief er zu einem Dialog mit der Opposition aus, um die Krise zu lösen.
Die „Nationale Rettungsfront“, das Hauptgremium der Opposition lehnte zunächst jeden Dialog mit Morsis Regierung ab. Einen Tag nachdem der Armeechef in einer Rede vor einer Militärakademie vor dem Zusammenbruch des Landes warnte - und damit für viele Beobachter implizit die Möglichkeit eines Militärputsches formulierte - machte der führende Oppositionspolitiker Mohamed al Baradei dann eine Kehrtwende. Er erklärte einen Dialog für notwendig, machte jedoch auch die Bedingungen der Opposition klar: Die Bildung einer nationalen Einheitsregierung und das Verändern von Paragraphen der Verfassung, die im November im Schnelldurchgang verfasst und kurz darauf per Referendum verabschiedet wurde.
Beide Seiten argumentieren in diesem Machtkampf mit der Frage der demokratischen Legimität. Unterstützer des Präsidenten verweisen immer wieder auf die Tatsache, dass Mohamed Morsi demokratisch gewählt wurde. Die Opposition akzeptiert nach dieser Lesart den Willen der Mehrheit des Volkes nicht. Für die Opposition hingegen hat der Präsident nach seinen Selbstermächtigungsdekreten vom November und dem Durchdrücken der kontroversen Verfassung, die Human Rights Watch als Gefahr für die individuellen Freiheiten beschreibt, seine demokratische Glaubwürdigkeit verspielt.
Dieses Deutungspatt über die Legitimität von Morsis Regierung droht das Land nicht nur zu spalten, sondern auch jede konstruktive Entwicklung zu lähmen.
Trübe wirtschaftliche Aussichten
Bei der gegenseitigen Blockade von Regierung und Opposition rückt die bitter notwendige Reform des Sicherheitsapparates ebenso in weite Ferne, wie eine wirtschaftliche Genesung des Landes. Die Job-Aussichten für die junge Generation haben sich seit der Revolution eher verschlechtert. Die enorm wichtige Tourismus-Branche, in der über 10 Millionen Ägypter direkt oder indirekt ihr Brot verdienen, ist nach einer leichten Erholung seit dem Ausbruch der Proteste gegen Morsi im November wieder eingeknickt. Die Umsätze sind verglichen mit dem Jahr 2010 um 60 % gefallen. Manche Hotels auf dem Sinai können ihre laufenden Kosten kaum mehr decken.
Während der Proteste der vergangenen Tage wurde auch das renommierte Semiramis-Hotel am Nilufer in Kairo - normalerweise eine Adresse des Luxus in einer Stadt, in der 6 Millionen Menschen in Slums leben - in die Straßenkämpfe zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten hineingezogen, als Maskierte vorübergehend die Lobby stürmten und demolierten.
Auf die angespannte Lage in Ägypten reagierte die Rating-Agentur Fitch damit, das Land von B-Plus auf B abzuwerten. Als Gründe nennt Fitch die politische Instabilität, die sich stetig verschlechternde Haushaltslage und das Ausbleiben des IWF-Kredites von 4,8 Milliarden Dollar, der seit Monaten verhandelt wird. Dessen endgültige Bedingungen sollten im Dezember letzten Jahres ausgehandelt werden, was wegen der unruhigen Lage aufgeschoben wurde.
Ob ein vom IWF genehmigter Kredit ruhigere Zeiten für Ägypten einleiten wird, darf man bezweifeln. Die Verabschiedung des Kredits ist an weitreichende „Maßnahmen zur Konsolidierung des Haushalts“ gebunden. Konkret bedeutet das die Kürzung von Subventionen, die einen wesentlichen Posten im ägyptischen Haushalt ausmachen.
Von Gas und Elektrizität, hin zu Weizen und Öl für den Hausgebrauch wird in Ägypten fast alles subventioniert. Eine Kürzung der Subventionen wird die Lage vor allem für die 40% der Ägypter verschlechtern, die heute schon unter der Armutsgrenze leben. Wenn dazu noch die lange ersehnte wirtschaftliche Entwicklung ausbleibt und die 700.00 jungen Menschen, die jährlich auf den ägyptischen Arbeitsmarkt strömen, vor der selben alten neuen Perspektivlosigkeit stehen, wird auch die Frustration wieder ansteigen.
Sollten Regierung und Opposition bis dahin ihren Machtkampf nicht überwunden und konstruktive Visionen für das Land entwickelt haben, könnte sich die Wut wieder Bahn brechen.