In 20 Jahren werden sichere Eingriffe in die Keimbahn des Menschen möglich sein

Vor der Veröffentlichung der Sequenzierungsdaten des menschlichen Genoms breitet Francis Collins, der Leiter des amerikanischen Humengenomprojekts seine Zukunftsvisionen aus

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Am 12. Februar werden Celera und das Humangenomprojekt jeweils ihre Versionen der Sequenzierungsdaten des menschlichen Genoms veröffentlichen. Das wird noch einmal ein Anlass sein, öffentlich über die Zukunft der Gentechnik und des Menschen nachzudenken oder kühnen Hoffnungen bzw. schauerlichen Schreckensvorstellungen Ausdruck zu geben. Der Leiter des amerikanischen Humangenomprojekts, Francis Collins, hat bereits den Anfang gemacht, um sich im zu erwartenden Konzert schon einmal eine gute Ausgangsposition zu verschaffen, und angekündigt, dass bis zum Jahr 2020 die ersten genveränderten Menschen durch Eingriffe in die Keimbahn entstehen könnten.

Das Unternehmen und der durch öffentlichen Geldern getragene Verbund von Forschungsinstitutionen lagen im Wettstreit, wer zuerst das vollständige Genom mit möglichst hoher Präzision analysiert haben wird. Dabei kam es nicht nur zu Konflikten über die unterschiedlichen Ansätzen der Analyse, sondern auch über den Umgang mit den Daten. Ist es die Philosophie des Humangenomprojekts, die Rohdaten allen möglichst schnell kostenlos zur Verfügung zu stellen, so ist Celera noch immer auf der Suche, den Spagat zwischen wissenschaftlicher Transparenz und kommerzieller Aneignung, d.h. beschränktem Zugang, zu finden.

Einbezogen in den Konflikt sind auch die Zeitschriften Nature, die die Ergebnisse des Humangenomprojekts veröffentlicht, und Science, die eng mit Celera zusammenarbeitet. Die Beschränkungen, die Celera verlangt, widerstreiten allerdings der Tradition wissenschaftlicher Publikation, alle Daten uneingeschränkt der Gemeinschaft der Wissenschaftler zur Verfügung zu stellen, um die vorgestellten Ergebnisse überprüfen, bestätigen, widerlegen oder weiter führen zu können. Möglicherweise ist die kompromissbelastete Veröffentlichung der Sequenzierungsdaten des menschlichen Genoms der erste Schritt zu einer Neuorganisation der wissenschaftlichen Öffentlichkeit in einer Zeit, in der zumindest die Gewinne versprechende Forschung mehr und mehr in die Wirtschaft auszieht und damit die durch sie gewonnenen Daten hinter verschlossene Türen geraten. Allerdings sind ja auch die wissenschaftlichen Beiträge in Zeitschriften wie Nature oder Science nicht frei zugänglich (Zugang zu den Genomdaten: fast frei).

Science wird am 12. Februar online die Beiträge über die Sequenzierungsdaten des Genoms sowie eine Reihe von Artikel zu diesem Thema frei zugänglich machen, beispielsweise über die Entwicklung der "Schrotschuss"-Technik von Celera, mit der eine schnelle Sequenzierung möglich wurde, über die Implikationen der Genforschung oder die Ansätze der Bioinformatik. Das Heft wird am 16. Februar erscheinen: mit der Genomkarte und einem Plakat. Aber die Daten von Celera werden nicht in einer öffentlich zugänglichen Datenbank veröffentlicht, sondern den Wissenschaftler nur portionsweise - pro Woche eine Million sequenzierte Einheiten - zur Verfügung gestellt, wenn sie eine Vereinbarung über die Verwendung bestätigt haben, die ihnen im Wesentlichen zwar erlaubt, mit den Daten zu arbeiten und auch Patentanträge einzureichen, aber verhindern soll, dass sie die Daten weiter verkaufen oder diese zu anderen kommerziellen Zwecken nutzen. Wissenschaftler, die in Unternehmen arbeiten, müssen Lizenzen zahlen. Wer Zugriff auf alle Daten haben will, muss weitere Verträge mit Celera eingehen und erhält erst dann eine CD-ROM mit den gesamten Daten.

Science und Celera führen diese Einschränkungen auch auf die amerikanische Rechtslage zurück, was den Besitz von Datenbanken angeht. Donald Kennedy von Science sagte, wenn es entsprechende Regelungen wie in Europa gebe, die die Eigentumsrechte an Datenbankinhalten sichern, wäre die jetzt vorgenommenen Kompromisse nicht notwendig. Zur Sicherheit hat Celera bei Science eine CD-ROM mit den gesamten Sequenzierungsdaten hinterlegt, um sie dann der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können, wenn Celera die Zusagen nicht einhält und doch noch strengere Restriktionen einführt.

Inzwischen hat Francis Collins vom National Human Genome Research Institute schon einmal zusammen mit Victor McKusick einige Spekulationen formuliert und diese noch vor dem denkwürdigen Science-Heft in den "Journals of the AMA" (American Medical Association) veröffentlicht. Symbolisch wird schon einmal vermerkt, dass mit dem Start des neuen Jahrtausends auch der Großteil des menschlichen Genoms sequenziert worden ist. Im nächsten Jahrzehnt, so Collins optimistisch, können durch Gentests individuelle Risiken für viele Erkrankungen und individuelle Reaktionen auf Medikamente festgestellt werden. Bis 2020 wird man zahlreiche genbasierte Designermedikamente herstellen können, so dass viele unerwünschte Nebenwirkungen vermieden werden können.

Ganz entscheidend werde es in Zukunft sein, das menschliche Genom lückenlos zu sequenzieren, wofür die Autoren noch zwei weitere Jahre ansetzen. Zudem müssten die Genome anderer Tiere ebenfalls sequenziert werden, um Vergleiche durchführen und die Funktionen der Gene etwa durch Knock-out-Experimente erkennen zu können. Für die individuell zugeschnittenen Medikamente und Therapien ist die Erfassung der genetischen Variationen unabdingbar. 99,9 Prozent der DNA-Sequenzen seien zwar bei allen Menschen identisch, die verbleibenden 0,1 Prozent würden aber etwa für Krankheitsrisiken verantwortlich sein. Ebenso wichtig ist die Analyse der kompliziert gefalteten Proteine und ihrer Interaktionen mit anderen Proteinen oder der Umgebung in der Zelle. Insgesamt werde die Genforschung zu gigantischen Datenbanken über die Sequenzen, Variationen und Expressionen führen, was auf die entscheidende Rolle der "computational biology" hinweise. Erforderlich seien leistungsstarke Methoden, um die gewaltigen Datenmengen zu sortieren und zu analysieren.

Allerdings halten sich die Autoren, was die schnellen Erfolgsaussichten von Gentherapien angeht, wohlweislich nach den großen Versprechungen und den geringen Erfolgen der letzten Jahre zurück. Aber ganz zurückhalten will man sich doch nicht, denn für 2020 wird angekündigt, dass dann die genetische Grundlage einer jeden Krebsart entdeckt worden sei und Therapien gezielt auf diesen "genetischen Fingerabdruck" gerichtet werden. Möglich würden viele Fortschritte auch allein schon deswegen, weil die Menschen viel weniger Gene haben, als man früher geglaubt habe.

Bestätigt werde durch das Humangenomprojekt, dass jede Erkrankung - abgesehen von einigen traumatischen Störungen - zumindest eine genetische Komponente hat, weswegen die Entdeckung der Gene, ihrer Funktionen und Interaktionen sowie die der mit ihnen zusammenhängenden Proteine weitreichende Folgen für Diagnose, Präventionsmedizin und Therapien haben werden. Besonders auswirken würden sich die genetischen Erkenntnisse auf die Behandlung der psychischen Krankheiten. Mit dem Wissen um ihre Verankerung etwa von Schizophrenie, Depression oder Autismus in den Genen entfalle das sie oft begleitende Stigma und könne man wirkungsvollere Medikamente entwickeln.

Auf der Biovisions-Konferenz, die gerade in Lyon stattfindet, äußerte Collins gestern jedoch weit darüber hinausgehende Voraussagen. "Wenn Sie noch nicht über die Auswirkungen des Genoms schwindlig geworden sein sollten, dann werden Sie dies in 10 Jahren sein", drohte er dem Publikum. Bis in 10 Jahren, so wurde er hier deutlicher als im Artikel, werde routinemäßig in Reproduktionskliniken, dei künstliche Befruchtung anbieten, die Präimplantationsdiagnostik angewendet, um Embryonen vor dem Einsetzen auf genetische Störungen oder auch auf gewünschte genetische Eigenschaften zu untersuchen. Erst vor kurzem wurde die PID eingesetzt, um ein IVF-Kind zu erhalten, das seiner ansonsten unheilbaren Schwester die richtigen Stammzellen liefern kann (Genetisch auf geeignete Spenderzellen getestetes Wunschkind geboren). Collins meint zurecht, dass die ethischen Diskussionen über die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Selektion von "Designerbabys" in Zukunft Allgemeinplatz werden. Die Rechtssprechung fordert er dazu auf, rechtzeitig "genetische Diskriminierung" zu verhindern, die vor allem durch Gentests seitens der Arbeitgeber oder der Versicherer auftreten könne.

Bis 2020 aber sieht Collins auch die Keimbahntherapie auf dem Sprung sein. Dann werde man mit einiger Sicherheit bereits neue Gene in die Keimzellen einführen, um auch für die weiteren Nachkommen das Auftreten bestimmter Krankheiten zu verhindern: "Wenn wir in 20 Jahren erfolgreich gelernt haben werden, in eine Zelle einzugreifen und sehr chirurgisch ein einzelnes Basenpaar von Genen im Genom in etwas zu verändern, dass keine Krankheit verursacht, dann wird es verführerisch sein, sich dies ganz ernsthaft zu überlegen. In vielleicht 20 Jahren werden wir soweit sein."

Das werde aber auch der Zeitpunkt sein, an dem die Menschen beginnen würde zu fordern, "dass wir selbst unsere eigene Evolution in die Hand nehmen müssen und nicht mit unserem bislang erreichten biologischen Statuts zufrieden bleiben dürften." Solche Forderungen werden allerdings nicht nur in der Zukunft lauter werden, sondern sind schon seit geraumer Zeit zu vernehmen. Es wird sich vermutlich nur herausstellen, dass Eingriffe auch in die Gene weitaus komplexer sind und ebenso wie alle anderen Eingriffe zu unerwünschten oder nicht beabsichtigen Nebenwirkungen führen. Collins selbst warnt vor der Vorstellung eines einfachen genetischen Determinismus, also der Vorstellung, alle Eigenschaften des Menschen so auf Gene zurückführen zu können, dass sie nur noch Roboter wären", die durch unsichtbare Signale von unseren DNA-Sequenzen gesteuert werden." Collins ist der Meinung, dass die Erforschung des Genoms nicht den freien Willen untergraben werde und kaum etwas zum Verständnis der "geistigen Seite der Menschheit oder dem Wissen, wer Gott oder was Liebe ist", beitragen werde.

Den Versuch, sich über die Gentechnik zu verbessern, bezeichnet Collins als interessant, aber auch irgendwie beunruhigend. "Aus meiner Sicht glaube ich, dass das ein Unternehmen ist, von dem ich hoffe, dass es noch lange Zeit nicht oder überhaupt gar nicht begonnen wird." Der Sprung allerdings von der Selektion von Embryos zum Eingriff in die Keimbahn ist soweit nicht.

Wenn, wie Collins auch glaubt, zumindest in den reichen Ländern dank der besseren medizinischern Vorsorge und Prävention, soweit die Mehrheit der Bevölkerung überhaupt dazu Zugang haben wird, die durchschnittliche Lebenserwartung auf 90 Jahre angestiegen sein wird, dann werde dies zu "großen Belastungen der gesellschaftlichen und ökonomischen Systeme" führen. Bis 2030 nämlich sei das Gesundheitssystem bereits auf die Grundlagen der Genforschung umgestellt. Jeder Patient - oder alle, die sich das leisten können werden -, werde Gentests unterzogen, um ein individuelles Programm zur Vorsorge auszuarbeiten. Die Kenntnis der genetischen Verursachung der Krankheiten werde auch dafür sorgen, die krankheitsauslösenden Umweltfaktoren einengen zu können: "Wenn alles gut geht, wird es im Jahr 2030 ein umfassendes, auf dem Genom basiertes Gesundheitssystem geben, durch das die Menschen rinr individualisierte präventive Behandlung auf der Grundlage der individualisierten Risiken erfahren und nicht mehr dem Ansatz "Eine Größe für Alle" ausgesetzt sind."