In Kanada kehrt der Terrorismus ein
Eine Gruppe von kanadischen Muslimen wurde festgenommen, weil sie einen Anschlag geplant hätten. Als Folge könnte sich der bislang gepflegte kanadische Multikulturalismus ändern
Als am Freitag in den Vororten der kanadischen Metropole Toronto zwölf junge Männer und fünf Jugendliche von einem riesigen Polizeiaufgebot festgenommen wurden, rückte ein in den letzten Jahren vergessener Teil der kanadischen Innenpolitik ins Rampenlicht zurück: der Antiterror-Kampf. Gewinner könnten bald die ungeliebten Nachbarn unter George W. Bush sein - Verlierer ist mit Sicherheit das multikulturelle Einwanderungsland Kanada.
Selten gibt es Schlagzeilen aus Kanada, die es um die ganze Welt schaffen. An der spektakulären und größten Antiterror-Aktion des Landes waren in der Nähe der Provinzhauptstadt Toronto am Freitag über 400 Polizisten beteiligt. Die Verhafteten im Alter von 19 bis 43 Jahren entstammen unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kreisen, die meisten von ihnen sind südasiatischer Herkunft, alle aber sind kanadische Staatsbürger - zum Teil in zweiter Generation. Umgehend erklärte der Inlandsgeheimdienst, sie seien einer Ideologie gefolgt, die „von Al Qaeda inspiriert“ ist. Ein Anwalt, der zwei der Terrorverdächtigen vertritt, bezeichnete die Vorwürfe gegen seine Mandanten als „vollkommen vage“.
Die Beschuldigungen hören sich in offiziellen Stellungnahmen dann doch ziemlich konkret an. Der auflagenstarke Toronto Star berichtet, dass der kanadische Nachrichtendienst CSIS die Verdächtigen schon seit 2004 beobachtet habe, ihr Vorhaben hätten die Festgenommenen über Jahre über das Internet in Chaträumen entwickelt. Weiterhin kursieren Gerüchte, wonach die Gruppe in den Wäldern nördlich von Toronto ein Ausbildungslager betrieben habe.
Als wäre das nicht schon waghalsig genug, hätten die Männer außerdem einen Anschlag auf das Büro des CSIS geplant. „Diese Gruppe war dabei, sich drei Tonnen an Ammonium-Nitrat und weiteren Komponenten zu besorgen, mit denen sich Bomben bauen lassen“, sagte Polizeisprecher Mike McDonell. „Für den Bombenanschlag in Oklahoma wurde eine Tonne verwendet.“ Das besorgte Ammonium-Nitrat sei am besten zur Herstellung von Bomben geeignet.
Dass Terrorismus und die nach dem 11. September eingeführten repressiven Gesetze im öffentlichen Bewusstsein des Landes bisher eine viel geringere Rolle spielen als beim Nachbarn USA, ist unter anderem der äußerst heterogenen Sozialstruktur und vergleichsweise integrativen Bevölkerungspolitik Kanadas zu verdanken. In Toronto leben 300.000 Muslime aus 140 Ländern, ungefähr 600.000, also etwa zwei Prozent der 32 Millionen Kanadier, sind islamischen Glaubens - Tendenz steigend. Der Zuwachs muslimischer Kanadier um über 130 Prozent allein im letzten Jahrzehnt ist vor allem auf die verstärkte Einwanderung zurückzuführen.
Menschenrechtsgruppen beklagen zwar, dass auch in Kanada Terrorverdächtige ohne kanadische Staatsbürgerschaft mit drakonischen Haftbedingungen und Abschiebung zu rechnen haben - in der Provinz Ontario sitzen seit fünf Jahren drei Muslime ein, über deren Rechtsstatus die kanadische Regierung vage bleibt -, aber selbst die seit Januar dieses Jahres regierenden Konservativen (Konservative siegen in Kanada) waren in Sachen Abschiebungen und Minderheitenschutz bisher eher zurückhaltend. Freilich ist ein kanadisches Kontingent mit 2.300 Soldaten an der Besatzung Afghanistans beteiligt (Das bessere Amerika?), doch schon der Krieg gegen den Irak war dem damaligen Premierminister Jean Chrétien (Liberale) zu viel. Kanada verweigerte sich trotz unmissverständlicher Kritik aus den USA der Irak-Kriegs-Koalition.
Der staatlich gepflegte Multikulturalismus ist gefährdet
Nicht nur nach Auskunft von Professor Nelson Wiseman von der University of Toronto ist politischer Extremismus in Kanada viel weniger verbreitet als in Westeuropa oder den USA. Multikulturalismus ist in Kanada seit 1971 unter allen Regierungen offizielle Politik gewesen. Doch der vom Establishment gelobten und in Umfragen immer wieder bestätigten multikulturellen Harmonie könnte jetzt ein unverhofftes Ende gesetzt werden. Zum ersten Mal scheint mit der Innenstadt von Toronto Kanada das Hauptziel islamischer Terroristen gewesen zu sein - und das zog auch bisher unübliche Reaktionen nach sich: Nach dem massiven Antiterroreinsatz ist gestern eine zentrale Moschee in Torontos Norden von Unbekannten verwüstet worden. Islamische Organisationen in Kanadas größter Stadt Toronto erklärten, in der unmittelbaren Umgebung der Moschee seien auch die Scheiben von Autos eingeschlagen worden. Vermutlich sind die Täter mit einer Axt vorgegangen. Die zweistöckige Moschee wird täglich von über 500 Gläubigen besucht und gehört zu den größten Moscheen in ganz Nordamerika.
Dass Kanada vielen Beobachtern bisher als das bessere Amerika galt (Das bessere Amerika?), hat auch damit zu tun, dass anders als in den USA der schmutzige Krieg gegen die Ureinwohner deutlich unauffälliger verlief, die Vorherrschaft einer weißen, protestantischen Elite als weniger dominant gilt und selbst nach dem 11. September strenggläubige Muslime noch als Hochschuldozenten willkommen sind. In vielen Schulen, Geschäften und Verbänden werden seit Jahren muslimische genau so wie jüdische oder christliche Feiertage berücksichtigt.
Die erfolgreich verlaufende Einwanderungspolitik spiegelt sich auch bei den Staatsoberhäuptern wieder: Da Kanada Mitglied im Commonwealth ist, ernennt das englische Königshaus einen Vertreter als Repräsentanten der Krone vor Ort, die Generalgouverneurin ist damit formal gesehen Oberbefehlshaberin der Truppen des Nato-Landes. Michaëlle Jean, die seit September letzten Jahres dieses Amt ausübt, wurde in Haiti geboren und wuchs in der französischsprachigen Provinz Quebec auf. Fast sechs Millionen Kanadier - über 20 Prozent der Bevölkerung - sind außerhalb des bilingualen Landes geboren. Insbesondere die inzwischen angeschlagenen Liberalen, die bis zur Wahl im Januar an der Macht waren, haben es verstanden, die Einwanderer aus 200 ethnischen Gruppen zu integrieren. Bisher stand mit Adrienne Clarkson eine ehemalige Hongkong-Chinesin an der Spitze Kanadas.
Ob der Multikulturalismus als Staatsdoktrin diesen auch ohne Tote, Verletze und Sachschäden wirksamen Anschlag überleben wird, bleibt abzuwarten. Derzeit kündigt selbst die linkssozialdemokratische NDP den kanadischen Sicherheitsbehörden bedingungslose Solidarität an. Zu rücksichtslos scheinen die Planungen der Attentäter: Berichte, nach denen die Gruppe den 553 Meter hohen Canadian National Tower, die U-Bahn Torontos oder den Peace Tower des Parlaments anzugreifen gedachte, wollten die Sicherheitsbehörden zunächst zwar nicht bestätigen. Doch die Mutmaßungen haben ihre Wirkung nicht verfehlt: Der CN Tower ist das höchste freistehende Bauwerk der Welt und gilt den Bewohnern der größten kanadischen Stadt als Wahrzeichen, in der U-Bahn sind täglich rund 800.000 Pendler unterwegs.
Bestätigt fühlen sich nun die Hardliner der US-Regierung. Sie werfen den kanadischen Behörden seit Jahren eine zu liberale Einwanderungspraxis vor. Insbesondere die liberale Vorgängerregierung des derzeit regierenden Konservativen Stephen Harper galt Bush und Außenministerin Condoleezza Rice als Dorn im Auge. Der republikanische Abgeordnete Peter King aus New York, der auch im Komitee des Heimatschutzministeriums sitzt, behauptete gar, in Kanada gäbe es wegen der laschen Einwanderungsbestimmungen eine „überproportional hohe Zahl“ von Al-Qaida-Terroristen.
Die aktuellen Ereignisse nördlich der bisher längsten unbewachten Grenze der Welt dürften den US-Strategen bei der Durchsetzung ihrer sicherheitspolitischen Interessen gerade willkommen sein. Ab nächstem Jahr wollen die US-Behörden die Grenze zum engsten Handelspartner im Norden abdichten. Einreisewillige aus Kanada müssen sich dann mit einem Dokument ausweisen, auf dem biometrische Daten wie Fingerabdrücke, möglicherweise aber auch Netzhautmerkmale vermerkt sind. Bisher galt der Grenzverkehr als komplikationslos, die kanadischen Grenzbeamten sind häufig nicht einmal bewaffnet. Kanada befürchtet Exporteinbußen, denn im letzten Jahr gingen 87 Prozent aller Ausfuhren an den südlichen Nachbarn, viele davon in Trucks (USA wollen auch die Grenze im Norden abdichten).
Seit sich Ahmed Ressam im Jahre 1999 aus Kanada auf den Weg machte, den Flughafen von Los Angeles anzugreifen, gilt das Land vielen US-Politikern, aber auch privaten Sicherheitsfirmen und Militärs als „Hafen“ für Terroristen. In der konservativen „Globe and Mail“ fanden US-Vertreter dann auch schnell das geeignete Forum, um der kanadischen Leserschaft ihre Befürchtungen mitzuteilen. Früher oder später würde sich Kanadas liberaler Umgang mit Einwanderern an den USA rächen, heißt es einträchtig.