In den USA soll die Einsamkeit grassieren
Besonders betroffen sollen die 18- bis 22-Jährigen sein. Aber sind die Menschen wirklich einsamer oder fühlen sie sich nur so?
Plakativ verkündet der Versicherungskonzern Cigna nach einer von ihm bei dem Institut Ipsos in Auftrag gegebenen Umfrage unter mehr als 20.000 Amerikanern über 18 Jahren, dass die meisten Amerikaner als einsam gelten. Cigna spricht von einer Epidemie. Besonders hervorgehoben wird, dass ausgerechnet im Zeitalter der Vernetzung die Einsamkeit bei jüngeren Amerikaner zunimmt. Am stärksten einsam seien nämlich die Angehörigen der Generation Z, die 18-22-Jährigen, aber auch die 23- bis 37-Jährigen (Millennials) und die 38- bis 51-Jährigen fühlen sich einsamer als der Durchschnitt.
Man müsste aber eigentlich sagen, sie fühlen sich am stärksten einsam. Der der Umfrage zugrundeliegende, häufig verwendete UCLA Loneliness Scale misst anhand von 20 Fragen (beispielsweise "Wie oft fühlst du dich einsam" oder "Wie oft bist du gesellig?"), die von den Befragten auf einer 4-stelligen Skala (immer, manchmal, kaum, nie) beantwortet werden, das subjektive Gefühl von Einsamkeit und sozialer Isolation. Auf der von 20 bis 80 reichenden Skala lag der durchschnittliche Einsamkeitswert bei 44, was als alarmierend hoch gilt. Während die jungen Menschen mit 48 über dem Durchschnitt lagen, sehen sich die Menschen ab 72 Jahre unterdurchschnittlich wenig einsam.
Eine britische Studie hatte in Abweichung dazu vor kurzem vor einer Einsamkeitsepidemie gerade bei den alten Menschen gewarnt (Viele alte Menschen sind chronisch einsam). Hier gaben 63 Prozent an, sie hätten unter Einsamkeit gelitten, davon ein Viertel für Monate oder länger. Und eine Mehrheit sieht eine Zunahme an Einsamkeit mit wachsendem Alter. Untersucht wurde auch hier nicht faktisch, ob die Menschen wirklich einsam oder sozial isoliert sind.
Allerdings scheint das Einsamkeitsgefühl durchaus Folgen zu haben. So hatte erst im März eine umfangreiche Langzeitstudie ergeben, dass sozial isolierte und einsame Menschen stärker an chronischen Krankheiten litten, öfter rauchte und mehr depressive Symptome äußerten als nicht-einsame Menschen. Allerdings steigt bei Einsamen das Todesrisiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall nicht wirklich, abgesehen sie haben bereits Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Soziale Isolation und Einsamkeit machen krank).
Aber zurück zu der Umfrage, nach der 46 Prozent der Amerikaner sagen, sie würden sich manchmal oder auch immer einsam fühlen, 47 Prozent sehen sich manchmal oder immer zurückgelassen. 27 Prozent geben an, kaum oder niemals das Gefühl zu haben, dass es Menschen gebe, die sie wirklich verstehen. Immerhin 43 Prozent glauben manchmal oder immer, ihre Beziehungen seien oberflächlich, ebenso viele sehen sie isoliert. 20 Prozent fühlen sich selten oder nie anderen Menschen nahe, 18 Prozent sehen kaum Menschen, mit denen sie sprechen können.
Wer zusammen mit anderen lebt, fühlt sich weniger einsam, Alleinerziehende überdurchschnittlich einsam
Nur 53 Prozent sagen, sie hätten täglich bedeutungsvolle soziale Interaktionen wie längere Gespräche mit Freunden oder das Zusammensein mit der Familie. Wer zusammen mit anderen lebt, fühlt sich weniger einsam, auch wenn der Unterschied zwischen 43,5 zu 46,4 nicht besonders groß ist. Alleinerziehende sind jedoch, obgleich sie mit einem Kind oder mehreren zusammenleben, mit 48,2 überdurchschnittlich einsam. Nach der Umfrage scheint die Nutzung sozialer Netzwerke nicht viel mit dem Grad der gefühlten Einsamkeit zu tun zu haben. Wer sie viel nutzt, liegt mit einem Score von 43,5 kaum viel höher als diejenigen, die sie überhaupt nicht nutzen und auf 41,7 kommen.
Die Versicherung kümmert vor allem, dass Einsamkeit womöglich die Kosten erhöht. So würden die gut vernetzten und weniger einsamen Menschen nicht nur bessere Beziehungen haben, sondern auch ihre körperliche und psychische Gesundheit sei besser, zudem würden sie arbeiten. Und ihr Alltagsleben sei ausbalancierter zwischen Schlafen, Arbeiten, Zusammensein mit Freunden, Familienleben und Zeit für sich selbst (me time). Der Versicherungskonzern will die "Einsamkeitsepidemie" also nicht selbstlos bekämpfen und "das gesamte Wohlbefinden und die Vitalität der Amerikaner verbessern".
Sieht man die Ergebnisse näher an, dann fühlen sich von 46 Prozent, die von sich sagten, einsam zu sein, nur 10 Prozent zurückgelassen, 8 Prozent fühlen sich immer isoliert oder für 7 Prozent sind die Beziehungen oberflächlich. Dass Menschen sich manchmal einsam führen, ist aber eigentlich kein Ausdruck einer Epidemie, sondern schlicht eine menschliche Grunderfahrung, auch dass sie sich manchmal ausgeschlossen fühlen oder niemanden kennen, dem sie sich anvertrauen können.
Man muss sich fragen, warum das Gefühl, einsam zu sein, bei jüngeren Menschen zunimmt. Durchaus denkbar wäre, dass im Zeitalter der Vernetzung und der permanenten Verfügbarkeit von Kommunikation und Medieninhalten/-unterhaltung neben Langeweile auch Einsamkeit zu einem verpönten Gefühl wird. Ein mit allen verfügbaren Mitteln optimiertes Leben würde denn Einsamkeit nur als individuelles Versagen und als pure Negativität sehen. Dabei kann Einsamkeit ebenso wie Langeweile auch eine kreative Situation schaffen und dazu verhelfen, einen tieferen Blick in die sozialen Verhältnisse zugewinnen und aus dem Hamsterrad der Optimierung auszutreten.
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