In der herkömmlichen Politik gilt das gebrochene Wort

Joachim Paul, der Spitzenkandidat der NRW-Piraten, über die Verheizung von jungen Arbeitskräften, den Begriff Wutbürger und die Bilderberg-Konferenzen

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Demokratie, Bilderberg-Konferenzen, die Feinheiten zwischen den Begriffen Wut und Zorn, Schwächen im Bildungssystem: Immer wieder wird den Piraten vorgehalten, dass sie oberflächlich sind, keine Ahnung von Politik haben und noch nicht mal fundiert eine Meinung vertreten können. Für den 54-jährigen Joachim Paul, dem Spitzenkandidat für die Piraten in Nordrhein-Westfalen, scheint die späte Berufung in die Landespolitik eine Herzensangelegenheit zu sein. Bildungspolitik ist eines seiner Kernthemen, für das er sich, wenn er ins Düsseldorfer Landesparlament einziehen wird, stark machen möchte.

Paul, der auch unter dem Nickname Nick Halfinger einen Blog betreibt, ist davon überzeugt, dass die etablierten Parteien die Bürger einfach nicht mitnehmen, wenn es um die Politik geht. Und deshalb ist er zu den Piraten gegangen. Er möchte Politik selbst gestalten. Und wenn er hört, dass etablierte Parteien die Piraten unsachlich angreifen, dann scheut er sich auch nicht davor, rustikal zu antworten.

Joachim Paul

Herr Paul, in den Umfragen erreichen die Piraten ausgezeichnete Werte, von den etablierten Parteien hagelt es jedoch Backpfeifen: Die Piraten haben kein Programm, keine Ahnung, dafür aber zu allem eine Meinung, lautet der Tenor. Wie bewerten Sie diesen Umgang mit ihnen?

Joachim Paul: Der Umgang dokumentiert doch nur deren Hilflosigkeit.

Worin liegen die Ursachen für dieses Verhalten der anderen Politiker?

Joachim Paul: Die Piraten sind zugegebenermaßen schwer zu stellen. Zum einen erkennen die politischen Mitbewerber an, dass wir es ganz offensichtlich schaffen, Menschen, die länger nicht gewählt haben, zurück an die Wahlurne zu holen. Zum anderen irritieren wir durch unsere Arbeitsweisen, die wirklich ernst machen mit Beteiligung und Mitbestimmung. Es ist schon eine besondere Herausforderung zu akzeptieren, dass Arbeitskreise ergebnisoffen vorgehen, man also zu echten und gemeinsamen Urteilen kommt und nicht eine vorgefertigte Meinung einfach durchgeboxt wird. Da kommen dann eben Sachen raus, die beispielsweise eine eher klassisch zu nennende Linksposition schon mal mit einer libertären oder wertkonservativen kombinieren. Trotzdem ist der Arbeitskreis nachher zufrieden über das gemeinsam Erreichte und freut sich auf die Abstimmung der Anträge auf dem nächsten Programmparteitag.

Die Parteien nehmen die Zornbürger nicht ernst

Halten wir mal fest: Die etablierten Parteien verlieren seit einiger Zeit Wählerstimmen, die FDP kämpft um den Einzug ins Parlament. Ihre Partei, die ja durchaus Schwächen hat, über die man nicht hinweg reden kann, mischt auf einmal die Politik kräftig durcheinander und viele Wahlbürger in Deutschland sind bereit, ihre Stimme den Piraten zu geben. Was machen die etablierten Parteien falsch?

Joachim Paul: Sie nehmen die Zornbürger nicht richtig ernst. Allein der Begriff Wutbürger ist eine Diskriminierung, da er die Erregung über das politische Alltagsgeschehen auf Irrationales reduziert. Zorn jedoch hat immer eine deutlich erkennbare rationale Komponente.

Des Weiteren scheint bei den Etablierten die Ansprache an Bürgerinnen und Bürger nicht mehr zu stimmen. Allein die Plakate sprechen da eine beredte Sprache, Norbert Röttgen hält einen Jungen im Arm, der eine rote Kappe so auf hat, wie ein Junge sich freiwillig nie eine aufsetzen würde, außerdem schaut Röttgen den Jungen nicht an. Was soll das bitte für ein Kommunikationsprozess sein? Hannelore Kraft wird wenigstens im Dialog mit Bürgern gezeigt, aber die Ministerpräsidentin mit Gehörschutz an einer Werkzeugmaschine? Das ist einfach nicht echt. Da sind die Plakate von Herrn Lindner noch am besten, das ist wenigstens ehrlicher Personenkult.

Den Piraten hingegen kauft man ab, dass sie es mit der Basisdemokratie ernst meinen. Die Textinhalte der Plakate stammen aus der Verkürzung von Programminhalten, die gemeinsam über Twitter mit dem Hashtag #claimsfuernrw eingesammelt und dann einem Abstimmungswettbewerb zugeführt wurden. Null Werbeagentur!

Mal eine kleine Rückblende: Helmut Kohl war 16 Jahre Kanzler. In seine Amtszeit fiel die Wiedervereinigung, von der viele Experten sagen, sie wurde auf der ökonomischen Seite unklug umgesetzt. Die Regierung Kohl setzte sich massiv für den Euro ein, die Bürger wurden nicht gefragt. Dann kamen SPD und Grüne in die Regierungsverantwortung, im Zuge des Neoliberalismus wurde ein als Reform angepriesener Umbau des Sozialstaates angegangen - Stichwort: Hartz IV -, den insbesondere die sozial Schwachen der SPD bis heute nicht verziehen haben. Bürgerrechte wurden im Zuge der Sicherheitsgesetze zum Spielball der War-on-Terror-Ideologie und unter grüner Absegnung marschierten deutsche Soldaten in einen Krieg. Hinzu kommen diverse Rücktritte von Politikern für kleinere oder größere Verfehlungen inklusive des Rücktritts zweier Bundespräsidenten. Ist dies das politische Klima, das den Piraten Aufwind gibt?

Joachim Paul: Das kann man so sehen. Über die Wahlprogramme kann man ja gleich drüberschreiben, es gilt das gebrochene Wort. Die Etablierten haben vergessen, deutlich zu machen, dass die politische Realität oft anders aussieht als die Visionen der Wahlprogramme. Das hat mit Demokratie im aktiven politischen Prozess auch nicht mehr viel zu tun.

Demokratie erfordert eine Kultur der Anstrengung

Sie sprechen von Demokratie. Erzählen Sie uns etwas mehr von ihrem Demokratieverständnis.

Joachim Paul: Demokratie wurde erfunden als ein Mitbestimmungssystem der High Society im alten Griechenland, das auf einer Wirtschaft aufsetzte, die von Sklaven und Leibeigenen getragen wurde. Heute haben wir in den westlichen Industrienationen Demokratien, deren Politik durch Verbände und Interessengruppen bestimmt wird. Die Bürger bleiben oft außen vor. Wir müssen den demokratischen Grundgedanken weiterentwickeln zu einer Bürgergesellschaft, wo der Bürger bei Entscheidungen mit am Tisch sitzt.

Wenn die Bürger näher an die Entscheidungsprozesse herangeholt werden, hat das auch zur Folge, dass das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein für die Schwierigkeit solcher Prozesse wächst und damit auch das Verständnis für manchmal unbequeme Entscheidungen. Demokratie ist eben kein Selbstbedienungsladen, sondern manchmal schmerzhaft, sie erfordert eine Kultur der Anstrengung.

Die Piraten, so kommunizieren sie es, wollen vor allem eine transparente Politik. Nun findet bald wieder die jährlich stattfindende Bilderberg-Konferenz statt. Wie bewerten Sie als Pirat eine solche Zusammenkunft?

Joachim Paul: Diese Konferenzen sind Ausdruck einer selbsternannten Elite, die vorgibt, Dinge besser zu wissen und die Zukunft besser einschätzen zu können. Das ist aber falsch, denn es gibt mittlerweile in den westlichen Industrienationen sehr viele exzellent ausgebildete Leute mit Ideen, die ihrerseits bei Anderen neue Ideen hervorrufen können, die in diesen Konferenzen nicht auf den Tisch kommen. Ich nenne das eine Verschwendung von Ressourcen. Piraten würden die Beteiligung an solchen Zukunftskonferenzen zumindest einem demokratischen Wahlprozess unterziehen.

Aber seit Jahren nehmen an dem Treffen auch deutsche Spitzenpolitiker teil. Wenn Ihre Partei im Bundestag säße, wie würde sie damit umgehen, dass Politiker aus der Mitte des Parlamentes unter den Bedingungen der Verschwiegenheit einer solchen Konferenz beiwohnen?

Joachim Paul: Das geht gar nicht. Wer soll vor wem etwas verschweigen und warum? Das ist anrüchig! Sind die Bürger etwa 0815-Bürger, denen man die komplexen Zukunftsfragen nicht zumuten sollte?

Unsere Authentizität wird geschätzt

Sie sind Spitzenkandidat der Piraten in Nordrhein Westfalen. Wie kommen Sie im politischen Geschäft zurecht? Sie schreiben offen auf ihrem Blog, dass ihnen jüngst der Kragen geplatzt ist. Nachdem ein Journalist Sie darauf angesprochen hat, dass die FDP vor der Laissez-faire-Bildung der Piratenpartei warne, haben Sie gesagt: "Wer zwei Doktortitel gekauft hat, sollte diesbezüglich die Fresse halten." Für die Wortwahl haben Sie sich öffentlich bei der FDP entschuldigt.

Joachim Paul: Wie ich schon sagte, mir ist einfach der Kragen geplatzt, und das nach einem Marathon von gefühlten zwei Dutzend Interviews.

Sie haben, sagen wir mal, eine sehr rustikale Form des Ausdrucks gewählt, aber Sie wollten doch durchaus auch einen Inhalt mit der Aussage transportieren?

Joachim Paul: In der Tat. Die FDP glänzt in meinen Augen gerade nicht durch bildungspolitische Kompetenz. Ich möchte wirklich nicht wissen, wie viele wissenschaftliche Arbeiten und Studien zu Bildungsthemen, insbesondere zur Schule, in den letzten Jahren in der Partei durchreflektiert worden sind. Die Antwort würde, glaube ich, erschrecken. Das hatte ich zusätzlich im Hinterkopf, als ich meiner Verärgerung durch diesen 'rustikalen Ausdruck' Luft machte.

Die Funktionsträger ihrer Partei mussten, nachdem sie öffentliche Auftritte hatten, immer wieder Prügel beziehen. Dabei wird insbesondere von den Medien vor allem auf die Form geachtet. Wir wissen, dass es in den Medien ungeschriebene Gesetze darüber gibt, welches Verhalten erwartet und als akzeptabel und welches Verhalten als inakzeptabel bewertet wird und auf dem Index steht. Der Auftritt von Christopher Lauer bei Maybrit Illner vor einigen Wochen führte zu einem kritischen Medienecho.

Wie sollen sich die Piraten Ihrer Meinung nach in der Öffentlichkeit verhalten? Werden nun alle Piraten Seminare belegen, um zu lernen, wie man sich in der Medienöffentlichkeit "richtig" bewegt? Werden wir nun bald Piraten in den Medien sehen, die ihre Hände mit den Fingern gespreizt aufeinander halten, so wie es beispielsweise unsere medienerfahrene Kanzlerin tut, wenn die Kameras auf sie gerichtet sind?

Joachim Paul: Wir werden sicher keine Seminare belegen, zumindest wird das nicht zur Parteiregel erhoben, auch wenn der ein oder andere Pirat diesbezüglich für sich entscheidet, Gebrauch von Fortbildungsangeboten zu machen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass unsere Authentizität geschätzt wird, auch und gerade von Medienvertretern. Das soll bitteschön so bleiben.

Telepolis: Sie schreiben auf ihrem Blog: Piraten kommunizieren grundsätzlich auf Augenhöhe. Haben Sie Erfahrungen gemacht, wo die Kommunikation auf Augenhöhe als Stilbruch betrachtet wurde? Haben Sie die Erfahrung gemacht, dass man von Ihnen als "Polit-Neuling" erwartet, erst mal die impliziten Anerkennungsverhältnisse des politischen Feldes zu akzeptieren?

Joachim Paul: Wer sich im Netz kennenlernt über Twitter, Social Networks etc., kommuniziert zunächst über Tastaturen, man sieht sich also nicht. Beim Live-Treffen scheinen dann weder Aussehen, noch Geschlecht noch Alter eine übergeordnete Rolle zu spielen, Netzkommunikation wirkt da relativierend - zumindest unter Piraten und anderen netzaffinen Leuten. Und im Zusammenprall mit Menschen, die diese Erfahrung nicht als eine primäre teilen, kommt es schon einmal zu Verwerfungen. Allerdings wird die "Piratenart" oft schnell als "frisch und ansteckend" wahrgenommen, das ist zumindest meine Erfahrung.

Eine konkrete Erfahrung, dass mich ein politischer Gegner im direkten Kommunikationsprozess nicht ernst genommen hat, habe ich nicht gemacht. Das mag aber auch an meinem Alter und meinem Ausbildungsweg liegen, der schon einen gewissen Respekt einflößen kann. Jüngeren Piraten erging es da schon anders.

Nordrhein-Westfalen hat ein Einnahmeproblem

Jüngst hat Zeit-Online Sie in einem Interview zu Beginn des Gesprächs mit Wissensfragen konfrontiert: "Wie groß war das Wirtschaftswachstum in Nordrhein-Westfalen 2011? 3,5. Wie hoch ist die Pro-Kopf-Verschuldung in Ihrem Bundesland?" Nervt es Sie, wenn Medien immer wieder gezielt die Unkenntnis, die die Piraten in einigen Wissensgebieten aufweisen, attackieren?

Joachim Paul: Natürlich nervt das, vor allem, weil Zahlenwissen allein eher belanglos ist. Es geht auch in der Politik um Relationen und Prozesswissen, bzw. es sollte vielmehr darum gehen. Von daher will ich auch in Zukunft nicht mehr akzeptieren, wenn sich Politiker gegenseitig Zahlen um die Ohren hauen, die man im Grunde schnell googeln kann. Es täte der Demokratie gut, wenn man stattdessen wirklich über Inhalte diskutiert. Selbst im Wahlkampf geführte politische Diskussionen würden so eine neue Qualität gewinnen und alle hätten etwas davon.

Am Sonntag sind Wahlen in Nordrhein-Westfalen. Wenn wir den Umfragen Glauben schenken, dann ist Ihr Einzug ins Parlament sicher. Wie wird die Politik der Piraten in Nordrhein-Westfalen aussehen?

Joachim Paul: Zunächst wird es darum gehen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, unsere eigene Arbeit im Parlament transparent und erfahrbar zu machen. Dann werden wir Anschlussmöglichkeiten und Schnittstellen zu den anderen im Landtag vertretenen Parteien suchen. Wir haben ja immer gesagt, wir wollen thematische Koalitionen eingehen. Unser Wahlprogramm dient dann als themenbezogener Richtungskompass.

Bildung ist eines Ihrer Schwerpunkthemen. Was genau sind Ihre Ziele?

Joachim Paul: Bildung kann man nicht an- oder verordnen, wie etwa - nach Abstimmung - den Bau einer Straße. Die Aufgabe der Politik besteht daher darin, möglichst gute Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Bildung entstehen kann. Und alle Erfahrung zeigt, dass dann am besten gelernt wird, neue Wissensinhalte entstehen, wenn die Notwendigkeit der eigenen Existenzsicherung als Randbedingung wegfällt. Jede privatwirtschaftliche Unternehmung, die etwas auf sich hält und auf innovative Produktentwicklung setzt, behandelt ihre Kreativen wie rohe Eier. Genauso sollte im Grunde mit lernenden Menschen verfahren werden. Aber, wir wissen, das ist ein langer Weg, der auch etwas kostet. Man kann aber kleinschrittig anfangen und sich schon einmal auf die langfristige Rendite freuen.

Sie fordern kostenfreie Bildung für alle. Wie stellen Sie sich das vor?

Joachim Paul: Nordrhein-Westfalen hat ein Einnahmeproblem. Ergo muss über Steuern geredet werden. Die Schulden, die wir gegenüber der nächsten Generation auf uns laden, wenn wir zu wenig investieren, werden die Staatsverschuldung weit übersteigen.

Studenten aus finanzschwachen Familien können sich oftmals ein Studium nur leisten, wenn Sie BaföG erhalten. Am Ende eines Studiums stehen dann 10.000 Euro Schulden, hinzukommen vielleicht noch Rückzahlungsverpflichtungen aus Bildungskredit und Studienabschlusshilfe. Das heißt, ein Student, der sein Studium abgeschlossen hat, steht unter Umständen mit 20.000 Euro in der Kreide, Studiengebühren mal noch gar nicht mit eingerechnet. Bei einem gut dotierten Job sind diese Beträge rückzahlbar. Die Realität zeigt jedoch, dass viele Studenten auch noch Jahre nach ihrem Studium schlecht bezahlte Jobs haben. Wie denken Sie über das Problem?

Joachim Paul: Man kann dort nicht gleichzeitig mit Studiengebühren kommen und im Anschluss an das Studium auf die Selbstausbeutungsunkultur über Praktika und Volontariate setzen. Die in Studierendenkreisen heute diagnostizierten Burnouts, die teilweise auf Existenzängste zurückführbar sind, sind ein deutliches Warnzeichen, dass wir begonnen haben, unser größtes Kapital, die Arbeitskräfte von morgen, aufs Spiel zu setzen, und zwar so, dass es an die Substanz geht.

Angenommen die Piraten nehmen die Fünf-Prozent-Hürde bei der kommenden Bundestagswahl 2013. Was müssten die Piraten dann Ihrer Meinung nach tun?

Bitte warten wir doch erst einmal ein paar Monate ab, wie sich die Piraten in den dann mit NRW möglicherweise vier Landtagen machen. Und dann führen wir ein neues Interview über die Frage, was im Bund ansteht.