In die Einbahnstrasse der humanitären Tragödie
Europa, die Flüchtlinge und die Grenzschutzbehörde Frontex
Die Anhörung des Innenausschusses des Europäischen Parlaments zur Tragödie der Migranten auf See am vergangenen Dienstag begann mit einer Rüge an Frontex. Die Europäische Grenzschutzagentur hatte auf die Einladung des Ausschusses nicht einmal reagiert, was der Ausschussvorsitzende Jean-Marie Cavada als schwerwiegenden Verstoß wertete. Dies werde Folgen haben. Er wies in diesem Zusammenhang nochmals darauf hin, dass das Parlament den Haushalt der Agentur festlegt. In den drei Jahren ihres Bestehens hat das EP das Budget der Behörde rapide ansteigen lassen, obwohl, das wurde bei der Anhörung erneut deutlich, es sich gar nicht klar ist, was Frontex eigentlich macht. Alles deutet allerdings darauf hin, dass dies so bleiben wird.
Anlass der Anhörung, in deren Mittelpunkt eigentlich eine Befragung des Frontex-Exekutivdirektors Ilkka Laitinen stehen sollte, war das einsetzende "Reisewetter" auf dem Mittelmeer. Der Begriff der Tragödie wurde von fast allen Rednern aufgegriffen, um dringend eine "kohärente und umfassende Strategie" zu fordern.
Über einige Maßnahmen schienen sich alle einig zu sein: mehr Entwicklungshilfe für die Ursprungs- und Transitländer, mehr "Solidarität" zwischen den Mitgliedsstaaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen ("Lastenteilung"), eine bessere Bekämpfung ominöser und omnipotent-hochflexibler Schleppernetzwerke. Gestärkt werden müsse auch die Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Staaten und – als wäre alles wieder vergessen – Frontex.
Vorverlagerung der Grenze, Abgabe der Verantwortung
Spätestens als sich die Vertreter der "besonders betroffenen" Mitgliedsstaaten äußerten, wurde klar, dass es bei den beiden letztgenannten Vorhaben vor allem um eine Weitergabe der Verantwortung ging. Offensichtlich hat die EU das Mittelmeer in verschiedene "Sicherheits- und Rettungszonen" aufgeteilt, für welche die jeweiligen Anrainer zuständig sind. Beklagt wird auf dieser Grundlage, dass die afrikanischen Staaten ihrer Verantwortung nicht gerecht würden, also weder die Migranten am Ablegen hindern, noch später aus Seenot retten würden. Dann wäre alles ganz einfach, denn sie müssten dann einfach in das jeweilige afrikanische Land zurückgebracht werden.
Linke wie rechte Parlamentarier äußerten andererseits auch Verständnis dafür, da diesen Ländern die entsprechenden Ressourcen fehlen. Hier kommt die Entwicklungshilfe ins Spiel. Die Annahme, diese könne den "Migrationsdruck" mindern, also Finanztransfers und Freihandelsabkommen mit den Herkunftsstaaten würden dazu führen, dass die Menschen lieber dort für die europäischen Märkte schuften würden, anstatt ihren Produkten und Rohstoffen in Richtung Wohlstand nachzureisen, ist ein Mythos. Im Gegenteil geht die Bevölkerungswissenschaft von einem empirisch nachgewiesenen Migration Hump – also einem Anstieg der Emigrationen - bei einsetzender und beschleunigender kapitalistischer Entwicklung aus.
Die Strategie für Afrika sowie die Euro-Mediterrane Partnerschaft sind sicherlich geeignet, dort steuerbegünstigte Niederlassungen europäischer Firmen anzusiedeln und die Landwirtschaft zu industrialisieren, für eine Sozialpolitik, welche den Wegfall traditioneller Sicherungssysteme kompensiert, lassen sie hingegen keinen Platz. Stattdessen dient das Versprechen der finanziellen Zuwendungen als Druckmittel, um die afrikanischen Staaten ihrerseits zu einer repressiveren Politik gegenüber potentiellen Emigranten und Transitmigranten zu drängen.
Dies wurde beim Beitrag des marokkanischen Gesandten deutlich, der in schulkindlicher Manier klarstellen wollte, dass Marokko seine Hausaufgaben, (ausgearbeitet u.a. auf der Konferenz von Rabat gemacht habe. Ein Informationsprogramm solle Jugendliche auf die Gefahren der Überfahrt hinweisen, die Grenzen würden besser überwacht, mehr Menschen ausgewiesen und zahlreiche Rücknahmeabkommen wären geschlossen worden. Als der marokkanische Botschafter Menouar Alem am Schluss noch erklärte, dies alles geschehe natürlich bei voller Achtung der Menschenrechte, konnten sich einige Anwesende ein Lächeln allerdings nicht verkneifen. Tatsächlich ist Marokko ein Musterschüler bei der repressiven Zusammenarbeit mit der EU in Migrationsfragen und geht seit Jahren immer gewalttätiger gegen Migranten vor. Unter anderem deshalb werden mittlerweile verstärkt die gefährlicheren Routen über südlichere Länder und die Kanaren nach Spanien genutzt.
Um im Klassenzimmer zu bleiben: Der Lümmel auf der letzten Bank ist sicherlich Libyen. Die Zusammenarbeit wurde mehrfach gerügt, ein Vertreter der libyschen Botschaft verfolgte zwar die Anhörung aus den hinteren Reihen, wollte sich aber nicht äußern. Für Libyen sprang dann in sozialpädagogischer Manier ausgerechnet ein Konservativer ein und verwies auf die Probleme, die das Land seit der Schließung seiner Südgrenze selbst mit Leichen in der Sahara habe, die deshalb bereits als „braunes Mittelmeer“ bezeichnet würde. Zugleich verwies er auf die Unterstützung, die Italien hier leiste: Italien lieferte 2005 im Gegenzug für ein kurzfristiges Rücknahmeabkommen umfangreiche Polizeiausrüstung – von Nachtsichtgeräten über Polizeihunde bis hin zu Leichensäcken – und unterstützt es beim Bau von Lagern. Die Schließung der libyschen Südgrenze und das Polizeiabkommen wurden kurz darauf von einer Delegation europäischer Grenzschutzexperten ausdrücklich gelobt.
Anhaltende Migration
Trotz aller dieser Maßnahmen kommen die Menschen weiterhin und wegen aller dieser Maßnahmen sterben sie auch massenweise auf dem Mittelmeer. Erst Anfang Juni sei ein Schiff mit 53 Insassen von einem Aufklärungsflugzeug zwischen Libyen und Malta fotografiert worden, dessen Verbleib bis heute unklar ist (Europa und die Bootflüchtlinge). Insgesamt geht das UNHCR von 210 Toten alleine im vergangenen Monat aus, so dessen Vertreter aus Rom, Paolo Artini.
Wenn ein Boot in der Sicherheits- und Rettungszone eines EU-Mitglieds in Seenot kommt, dann geht unter den Staaten das Geschacher los. Soll es durch das nächste behördliche Boot aufgegriffen werden oder durch das Land mit dem nächsten sicheren Hafen? Insbesondere Malta verleugnet gerne jegliche Kenntnis über solche Vorfälle und lässt lieber Italien in seinen Gewässern fischen. Malta ist sicherlich ein Sonderfall: Mit seinen 400.000 Einwohnern kann es tatsächlich nicht alle Menschen aufnehmen, die in seinen Verantwortungsbereich, der größer ist als bspw. derjenige Großbritanniens, vordringen. Genau hierzu wäre Malta jedoch verpflichtet, würde es die Genfer Flüchtlings- und die Europäische Menschenrechtskonvention einhalten. Dies ergibt sich aus dem Schengener und Dubliner Abkommen, durch die für jeden illegalen Einwanderer und jeden Asylsuchenden nur das Land zuständig ist, über das er oder sie den Schengen-Raum betreten hat.
Obwohl diese Abkommen zwar das konkrete Gegenteil dessen sind, was als "internationale Solidarität" und "Lastenverteilung" immer wieder gefordert wird, kommt eine Revision nicht in Frage. Malta wird dadurch jedoch zum künstlichen Inbegriff des Bildes einer von Einwanderern überschwemmten europäischen Gesellschaft.
Was ist Frontex?
Dieses Bild wirkt auch in den anderen Mitgliedsstaaten und setzt die Regierungen unter Handlungsdruck. Am liebsten würden sie die Verantwortung abgeben, am besten an eine möglichst unabhängige Behörde, für deren Agieren sie nicht verantwortlich sind. Genau dies bietet Frontex.
In der Debatte wurde klar, wie gering das Wissen über die Funktion der Behörde ist. Während die einen von ihr einen effektiven Rundumschutz der Außengrenzen erwarten, sehen sie andere als humanitären Dienstleister, der professionell die Flüchtlinge von den "Illegalen" trennen, die einen aufs europäische und die anderen aufs außereuropäische Festland bringen würde. Beides trifft nicht zu.
Insbesondere von italienischer Seite wurden die Hoffnungen gedämpft, Frontex könnte durch seine punktuellen Einsätze die Migrationen über das Mittelmeer dauerhaft einschränken. Zwar gingen die Anlandungen unmittelbar während der bisherigen Missionen vor Lampedusa oder den Kanaren signifikant zurück, aber eben nur das. Außerdem ist mit neuen Strategien und Verlagerungen zu rechnen, auf welche die Behörde auch mit zehnmal mehr Hubschraubern und Personal nicht angemessen reagieren kann. Der Vorsitzende des Innenausschusses selbst wies hingegen darauf hin, Laitinens Stellvertreter habe erst kürzlich im Parlament erklärt, Frontex sei für Flüchtlinge "nicht zuständig".
Der Wahrheit näher kamen diejenigen, welche Frontex als Koordinierungsstelle beschrieben. Der linke Europaabgeordnete Tobias Pflüger hingegen bezeichnete die Behörde im Kontext der "Tragödie der Migranten auf See" als "Placebo". "Hier sprechen sich alle für eine Stärkung von Frontex aus, die einen Verpacken das als Maßnahme gegen die Migranten und die anderen als Maßnahme zu ihrem Schutz. Tatsächlich wird Frontex das Drama auf dem Mittelmeer höchstens verschärfen, weil diese Missionen vom Rat [der Justiz- und Innenminister] als Experimentierfeld für die Zusammenarbeit von Militär und Polizei genutzt werden."
Seiner Frage, auf welcher rechtlichen Grundlage ausländische Beamte mittlerweile im Rahmen von Frontex exekutive Befugnisse, blieben sowohl der Vertreter der Kommission als auch eine Gesandte der portugiesischen Ratspräsidentschaft eine Antwort schuldig. Die Kommission sprach sich jedoch explizit für mehr operative Fähigkeiten der Behörde aus und kündigte neue EU-weite "Mindeststandards" für Abschiebungen an, damit diese "effizienter" umgesetzt werden können.
An die einsilbige Vertreterin der Ratspräsidentschaft erging vom Vorsitzenden des Innenausschusses - kurz nach seiner Rüge gegenüber Frontex - die Bitte, den Kurs der gerade zu Ende gegangenen deutschen Ratspräsidentschaft weiterzuverfolgen. Erklärtes Ziel des deutschen Innenministeriums war es eben, die europäische Polizeikooperation voranzutreiben und Frontex zu stärken.
Eingebettete Zivilgesellschaft
Am Schluss kamen auch noch Kritiker auf dem Podium zu Wort und wurden damit eingebunden. Sie konzentrierten sich auf die internationalen Verpflichtungen, insbesondere die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und das Protokoll von New York, die es verbieten, Asylsuchende zurückzuweisen. Eine Unterbrechung der Migrationsrouten käme einer Abschaffung des Asylrechts gleich, da Flüchtlingen keine legale Form der Einreise möglich ist.
Daraufhin entbrannte eine Debatte, ob sich unter den Migranten auf See überhaupt Asylberechtigte befänden. Ein Abgeordneter glänzte mit der unwidersprochen widersprüchlichen Aussage, dass es sich offensichtlich nicht um "gemischte Ströme" - also illegale Migranten und Flüchtlinge im Sinne der GFK - handele, da letztere ja gerade ein Prozent ausmachten. Der linke Abgeordnete Giusto Catania verwies hingegen darauf, dass 50% der anerkannten Flüchtlinge in Italien über das Mittelmeer eingereist wären.
Die "wissenschaftliche Perspektive" durfte Fulvio Vassallo Paleologo vertreten. Der Jurist aus Palermo betreut mehrere kritische Arbeiten zum EU-Grenzregime, arbeitet mit der antirassistischen Bewegung in Sizilien zusammen und beteiligt sich dort an einem Netzwerk von Anwälten für das Asylrecht. Überraschend war vor diesem Hintergrund, dass er sich für exterritoriale Auffanglager aussprach, ein Vorschlag der 2004 bereits vom damaligen Innenminister Schily und seinem italienischen Kollegen Pisanu gemacht wurde und europaweit für Empörung sorgte (Das Lagersystem für Flüchtlinge).
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation wären solche Lager vielleicht tatsächlich eine Verbesserung. Insbesondere Asylberechtigte aber auch viele Arbeitsmigranten könnten dort eine Einreisegenehmigung erhalten und sich den lebensgefährlichen Weg übers Mittelmeer sparen. Der überwiegende Rest der Migranten wäre der gegenwärtigen Logik entsprechend jedoch noch größeren Repressionen ausgesetzt. Die Kritik der paramilitärischen Abriegelung der Außengrenzen auf Grundlage des Asylrechts würde sich erübrigen.
Die Frage, die niemand stellte
Auch der Vertreter der belgischen Menschrechtsliga und gleichzeitig der NGO Migreurop beschränkte sich jedoch überwiegend auf diese Kritik. Implizit fordert sie eine Sortierung der Migranten nach humanitären Kriterien. Das wiederum widerspricht der Dynamik der Arbeitsmigration und auch der europäischen Nachfrage nach einem potentiell unbegrenzten Angebot an hochflexiblen Arbeitskräften.
Die Frage, die keiner stellte, ist, wie es denn dazu kam, dass diese mittlerweile auf dem Weg zur Arbeit ihr Leben riskieren müssen und nicht - wie früher - einfach die Fähre nach Spanien nehmen. In der Diskussion werden die Worte "Migranten" und "Schiffbrüchige" synonym verwendet. Für den miserablen Zustand der Schiffe werden allein die Schlepper verantwortlich gemacht. Dass die gesamte Politik des "Raums der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts" von Schengen über Dublin, die Vereinheitlichung der Visa-Bestimmungen und Sanktionen gegenüber Transportunternehmer und Schlepper dafür verantwortlich sind, dass Migranten auf diese angewiesen sind, will niemand wahrhaben.
Dass die "Boat People" den EU-Behörden nur als "Schiffbrüchige" begegnen, liegt nicht zuletzt daran, dass sie ihre Schiffe selbst fahruntüchtig machen, wenn am Horizont Frontex auftaucht. Sonst werden sie einfach zurückeskortiert. Die gegenwärtig diskutierten Maßnahmen sind nichts als die Fortsetzung der bisherigen Politik und werden die Tragödie nur weiter verschärfen. Ein Umkehren jedoch scheint nicht in Frage zu kommen.