"In einer neuen Welt gelandet"

Auf ihrer Suche nach Schubladen für den Tsunami vom 26.12.2004 stoßen Historiker auf die Grenzen unserer Ordnungssysteme

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Im Kriegsspiel gehört das Szenario bereits zum Standardrepertoire: ein Inferno, das an verschiedenen, über den gesamten Erdball verstreuten Orten gleichzeitig losbricht. In der Wirklichkeit ist das dezentrale Simultanereignis vor allem im Zeitalter der Massenmedien etwas, auf das unsere Gesellschaft unvorbereitet ist. Wie sehr damit unsere Realitätsmodelle überfordert werden, zeigt sich an Versuchen, den Tsunami vom 26.12.2004 in die Historie zu überführen.

Es war zu erwarten, dass Verlage auf den Tsunami reagieren und Chronisten mit Protokollen der Katastrophe aufwarten würden. Nun liegen diverse Publikationen vor. "Tsunami – Geschichte eines Weltbebens", herausgegeben von Cordt Schnibben (DVA, 2005), ist zum Beispiel ein Band, der Reporter des Wochenmagazins "Der Spiegel" versammelt und damit Texte über Menschen, die von der Flut unmittelbar betroffen worden sind. Das gleiche Journalisten-Team, das auch bereits den 11. September für die Nachwelt aufgearbeitet hat, ist in die Krisengebiete gereist und hat dort mit mehreren Hundert Überlebenden gesprochen und ihre Erlebnisse sorgsam protokolliert.

Eine umfangreiche Rekonstruktion der Flutkatastrophe hat auch "Geo" unternommen. In seinem Magazin für Geschichte "Epoche" liefert es das "Protokoll einer Jahrhundert-Katastrophe" – anders als das Schnibben-Buch hauptsächlich mit Bildern, teils doppelseitigen Fotos, Satellitenaufnahmen, Grafiken, etc. Der Titel der Publikation lautet: "Tsunami – Der Tod aus dem Meer".

Dass jede Bestandsaufnahme der Flutkatastrophe gezwungenermaßen herkömmliche Einordnungsmethoden in Frage stellt, zeigt derweil "Das große Jahrbuch 2004" (Brockhaus-Verlag). Wie auch der Rest der Jahresereignisse, wird die Flut in dem von der "Die Zeit"-Redaktion erarbeiteten Band nicht chronologisch, sondern alphabetisch unter "T" wie Tsunami eingeordnet. Ein Ordnungsmodell, das sich in diesem Zusammenhang als besonders starr erweist – nicht zuletzt daran ablesbar, dass für diesen Eintrag eine Sonderbeilage produziert werden musste.

11.09. und 26.12.

Die Fragen nach Ordnungsmustern und die Frage nach Methoden, das Ereignis nachzuerzählen, drängen sich aus vielerlei Gründen auf – das Ausmaß der Katastrophe, die Not, die sie hinterließ, und die Zweifel, die sie über unsere Zukunft aufgeworfen hat. Besagte Fragen drängen sich aber auch angesichts der Struktur des Ereignisses auf.

Das Schnibben-Buch stellt die Flut mit dem 11.09. auf eine Stufe, im Vorwort schreibt der Herausgeber:

Der moderne Terrorismus will so zerstören, wie es die Natur kann. Das Wirken des Tsunami bekommt deshalb im Gegenzug in den Augen mancher etwas Terroristisches, so als habe das Meer im Urlaubsparadies [...] mit der selben Bösartigkeit zugeschlagen wie Osama Bin Laden im World Trade Center.

Man müsste vermutlich einwenden, dass der Terrorakt nicht nur ein Ziel hatte, dass ebenso das Pentagon in Washington getroffen wurde und dass in dieser Hinsicht vermutlich die eigentliche Parallele zwischen den Ereignissen besteht: Wie auch der 11.09. war der Tsunami eine Katastrophe ohne wirkliches Zentrum. Ließ sich der terroristische Anschlag noch simplifizierend auf einen Ort reduzieren, so ist bei der Flut eine solche Reduzierung kaum mehr möglich, sie passierte an mehreren Orten gleichzeitig, die über die Weiten eines Ozeans verstreut sind.

Naheliegend sind Vergleiche zum Giftgasanschlag von Tokio, wo die Aum-Sekte mehrere Bahnlinien im Bahnnetz der japanischen Hauptstadt gleichzeitig attackierte. Haruki Murakami, Japans berühmtester Schriftsteller, hat die Erlebnisse der Traumatisierten protokolliert und die Geschichten nach Bahnlinien und ihren Verläufen geordnet, auf deutsch erschienen unter dem Titel "Untergrundkrieg" (DuMont, 2002).

Warum war es ein Weltbeben?

Bekanntlich hat die Flut-Katastrophe die Rede von der einen Welt nach sich gezogen (Die Welt im Plural denken). Das Beben ließ im Grunde den ganzen Planeten erschüttern, es gibt in der Menschheitsgeschichte wenige Parallelen zu einer Naturgewalt dieser Dimension. Die Chroniken des Ereignisses kommen folglich selten ohne ein Dossier der schlimmsten Naturkatastrophen der Geschichte aus. Schnibben erweitert diesen Diskurs, wenn er im Vorwort des Buches notiert:

Menschen aus über 50 Ländern waren unter den Toten des Seebebens, und darum wurde es zum Weltbeben.

Schnibben stellt damit einen wichtigen Punkt heraus. Die Urlaubsorte waren zum Zeitpunkt der Flutkatastrophe zu Ballungszentren der Weltbevölkerung geworden. In den Weihnachtsferien waren zwischen den Seychellen und Phuket Menschen aus aller Herren Ländern anwesend, wie an Pilger- oder Versammlungsorten, an denen sprichwörtlich die ganze Welt zusammenkommt. Bekanntlich werden Orte nicht zuletzt auf Grund solcher Eigenschaften zu terroristischen Zielen.

Doch es gibt noch einen ganz anderen Grund, warum man hier von einem "Weltbeben" sprechen kann. Es ist der gleiche Grund, warum der Vergleich zum 11.09. sinnvoll erscheint. Die Dezentriertheit der Katastrophe hat ihr den Anschein des Ortlosen, Quasi-Globalen verliehen. Ortsnamen werden bei den Protokollen der Katastrophe vor jedem Eintrag angegeben, dann die Uhrzeit. Die Ortsnamen verlieren nach einer gewissen Zeit ihren Wiedererkennungswert. Es sind zu viele, als dass man sie sich merken könnte, vielleicht auch zu viele fremde, unbekannte Namen, die fast schon eine babylonische Verwirrung evozieren.

Ausschnitt der Sonderbeilage zum Brockhaus-Jahrbuch 2004

Orientierungslosigkeit stellt sich auch auf der zeitlichen Ebene ein, nur etwas anders. Die detaillierten Zeitangaben vermitteln zunächst den Eindruck des Stillstands in der Bewegung. Die Geschichte von Koh Phi Phi beispielsweise wird von "Spiegel"-Reporter Alexander Osang erzählt mit Einträgen, die sich um 10:20 Uhr über mehrere Seiten erstrecken. Immer wieder wechselt der Schauplatz auf der Insel, die Zeichen des Unglücks verdichten sich, doch die Zeit bleibt stehen.

Globale Gleichschaltung des Ereignisses

In weniger als fünf Stunden erfasste der Tsunami den gesamten Raum im Indischen Ozean. Man könnte sagen, dass er fast gleichzeitig die Strände zwischen der asiatischen und der afrikanischen Küste erreichte. Wer die Chroniken des Schnibben-Buches liest, die die unterschiedlichen Orte des Unglücks in einzelnen Kapiteln beleuchten, kann nachschlagen, was sich um 10:20 Uhr am Rande des anderen Kontinents ereignete und somit begreifen, "wie wenig Abstand letztlich zwischen [den Orten] liegt und wie riesig der Unterschied ist".

Während der Tsunami an der asiatischen Küste bereits zerstörerische Dimensionen angenommen hatte, spielten sich in Somalia beschauliche Szenen ab – wohlgemerkt nach Sumatra-Zeit. Denn die Zeit, die der Tsunami brauchte, um den Ozean zu durchqueren, macht nahezu exakt den Zeitunterschied zwischen den Küsten der beiden Kontinente aus. Darum schlug der Tsunami überall gleichzeitig ein. Chroniken, die die Katastrophe, wie beispielsweise "Geo-Epoche", mit Bildern nacherzählen, machen das anschaulich: Ob in Ostasien oder Ostafrika – als die "Killerwelle" (Bild) kommt, steht die Sonne überall fast am gleichen Punkt.

Allein deshalb kann die "Geschichte des Weltbebens" den Aspekt ihrer Medialisierung nicht ausklammern. Die Tatsache, dass die Katastrophe auch in unseren Wohnzimmern passierte, dass das Ereignis in Echtzeit in die Netzwerke der Massenmedien Eingang gefunden hat und damit in die Hirne von Millionen von Menschen. Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit hat dieses Prinzip bereits im Fall des 11.09. untersucht:

Es [war] der seltene (und vielleicht erstmalige) Moment [...], in dem die verschiedenen Realitätssegmente eines weltbewegenden Ereignisses erstmals am besten in einem Fernsehbild zu sehen waren. Verdichteter und genauer als am Ort des Geschehens selbst. Oder, noch genauer: Der Ort des Geschehens war nicht allein New York und die Türme des World Trade Centers, Washington und das Pentagon, sondern der TV-Bildschirm, mit dem wir zusammengekoppelt waren durch die Liveschaltung [...]. Dieses Attentat geschah bei uns zu Hause, unabweisbar.

Das Cover der von Murakami angefertigten Chronik des Giftgas-Anschlags auf Tokio ist vielleicht die beste Illustration für die globale Gleichschaltung der dezentrierten Katastrophe durch die Massenmedien und das, obwohl er die Mediengesellschaft an einem toten Punkt traf: Die Geschehnisse in den U-Bahnschächten, U-Bahnhöfen und Zügen entzogen sich im Grunde einer Medialisierung. Bekanntlich können Vehikel analog zu Medien als "Erweiterungen des Menschen" (Mc Luhan) begriffen werden. Stehen sie sonst für die Vernetzung des menschlichen Nervensystems mit der Außenwelt, sind sie hier ihrer Logik nach auf den Kopf gestellt worden: Von Außen nach Innen. Das "Untergrundkrieg"-Cover zeigt auf gelbem Grund eine Figur, dessen Organismus durch das schematisierte U-Bahnsystem Tokios ersetzt worden ist.

Ausschnitt des Titelbilds von Haruki Murakamis Der Untergrundkrieg

Sprachgestus des Entdeckers

Eine Umkehrung der Verhältnisse hat auch im Zuge der Flutkatastrophe stattgefunden. Aus den globalen Netzwerken, die die Erweiterungen des Menschen darstellen, sind Eingänge geworden, die in den menschlichen Körper führen, Schleusen für eine Bilderflut, die den Zuschauer zum Schauplatz des Infernos machte. Das Schnibben-Buch scheint diesen Umstand auf seinem Titelbild zu übersetzen. Statt der vielen Orte, an denen der Tsunami einschlug, ist nur ein Hotel-Pool auf Penang abgebildet worden: Die weißen Klappstühle sind noch an ihrem Platz, die Oberfläche des Pools ist noch glatt, die Palmen stehen noch majestätisch in der Sonne. Im linken Bildrand türmt sich derweil meterhoch die "Wand aus Wasser".

Diese Situation könnte sich am 26.12.2004 überall im Indischen Ozean ereignet haben, deshalb wurde sie zu einer durch CNN-Rotation erstarrten Ikone. Das quasi-globale Simultanereignis sollte mit diesem Bild auf eine griffige, wiedererkennbare Oberfläche reduziert und auf diese Weise gebannt werden. Damit wurde es aber auch zum Elementarteilchen, zum kleinsten gemeinsamen Nenner der Bilderflut, die die Daheimgebliebenen erfasste und in ihnen eine Welt zusammenbrechen ließ: Die Vorstellung von der perfekten Gegenwelt, von der nicht nur TV-Zuschauer Abschied nehmen mussten.

Schnibbens erster Satz lautet:

Als wir, eine Gruppe von Reportern, in den Tagen nach dem Beben auf dem Flugplatz von Phuket landeten, merkten wir, dass wir in einer neuen Welt gelandet waren.

Eine Beobachtung, die auch von Kolumbus bei der Entdeckung des Paradieses gemacht wurde. Mehr als 500 Jahre später sind solche Zeilen die deutlichsten Worte dafür, dass nach dem Tsunami nichts mehr so ist, wie es einmal war. Mit dem Sprachgestus des Entdeckers verleiht der Historiker seiner Sprachlosigkeit Ausdruck und der Tatsache, dass seine Ordnungssysteme veraltet sind.