"In einigen ostdeutschen Regionen ticken die Uhren anders"

Der Bundestagsabgeordnete Martin Patzelt (CDU), der Asylbewerber aufgenommen hat, über die Flüchtlingsdebatte und die unwillentliche Förderung von Fremdenfeindlichkeit

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Seit 2013 sitzt Martin Patzelt für die CDU im Bundestag. Zuvor war er acht Jahre Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt (Oder). Der gelernte Sozialarbeiter und langjährige Leiter eines Kinder- und Jugendheimes nahm vor drei Monaten zwei Asylbewerber aus Eritrea in seinem Haus in Brandenburg auf. Vor einem Jahr regte er bereits die Unterbringung von Flüchtlingen auch in Privatwohnungen auf freiwilliger Basis an und hat unlängst mit fluechtlingshelfer.net ein Onlineforum für Flüchtlingshelfer gestartet. Im Gespräch mit Telepolis erklärt Patzelt, was ihn an der Flüchtlingsdebatte stört - und warum viele Politiker sich von Ängsten leiten lassen.

Herr Patzelt, Vizekanzler Sigmar Gabriel rechnet mit bis zu einer Million Flüchtlingen in diesem Jahr, er sagt, die Kapazitäten zur Unterbringung seien nahezu erschöpft. Ist Deutschland überfordert?

Martin Patzelt: Mit den Flüchtlingszahlen kommen wir klar, wenn wir das Recht auf Asyl schneller prüfen und zügig Nichtberechtigte zurück führen. Mich besorgt eher die Polarisierung in der Gesellschaft. Das ist das wahre Problem. Die diffusen Ängste mancher Leute machen mich wütend und traurig zugleich. Was sich mancherorts abspielt, ist beschämend für unser Land. Uns sollte nicht die Zahl der Flüchtlinge alarmieren, sondern die steigende Zahl der Angriffe auf deren Unterkünfte.

Schließt denn das eine das andere aus?

Martin Patzelt: Wer allen Ernstes behauptet, unser Land sei mit der Aufnahme der Flüchtlinge überfordert, der gibt all denjenigen Bürgern Futter, die vor den Flüchtlingsheimen herumbrüllen. Das ist gefährlich. Wir sind ein wirtschaftlich starkes Land, das in der Lage ist, derlei Herausforderungen zu stemmen. Ich vermisse bei einigen meiner Kollegen die Zuversicht. Fühlen die sich wirklich so schwach? Wir Politiker sollten die Probleme offen benennen - aber auch Chancen betonen.

Ist es aus Ihrer Sicht denn kein Problem, dass Tausende Flüchtlinge derzeit in Zeltlagern, leer stehenden Baumärkten, Containerdörfern oder Sporthallen untergebracht werden?

Martin Patzelt: Das ist unwürdig; hier wurde einiges verschlafen; die Migrationsbewegungen waren absehbar. Mit gutem Willen und staatlicher Macht könnte man aber relativ schnell entsprechende Kapazitäten schaffen. Wir können doch die Menschen nicht dauerhaft in Zelten unterbringen! Familien fliehen vor Krieg, Kinder leiden - und was fällt uns dazu ein? Deutschland ist überfordert.

Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer schlug vor, leer stehende Immobilien zu beschlagnahmen - Ihre Meinung?

Martin Patzelt: Das wäre vernünftig.

Familie Patzelt

In Ostdeutschland gibt es tausende leer stehende Wohnungen

Herr Palmer hat für diesen Satz eine Menge Kritik einstecken müssen - sogar Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagte kürzlich, der Vorschlag sei unnötig und würde Ängste auslösen.

Martin Patzelt: Das sehe ich anders. Mit jedem Zeltlager, das wir aufbauen, stärken wir die Argumente derer, die behaupten, Deutschland sei überfordert. Und bei jedem wiederum, der glaubt, er sei überfordert, steigt auch die Angst. Wir Politiker sollten aber nicht allein auf Grundlage von Sorgen und diffusen Ängsten Entscheidungen treffen.

Sondern?

Martin Patzelt: Würden die Verantwortlichen sich vor Ort häufiger an einen Tisch setzen und auch den Anregungen der engagierten Helfer nachgehen, wären wir schon viel weiter. Leider passiert meist das Gegenteil - jeder neue und mutige Vorschlag wird zunächst einmal mit "geht nicht" kommentiert oder sogar als "Quatsch" abgetan. Nicht selten wird der jeweilige Absender unter Verdacht gestellt oder sogar bepöbelt. Hätten wir es mit einem Hochwasser zu tun, wären längst neue, innovative Konzepte erstellt worden.

Wie lautet Ihr Vorschlag?

Martin Patzelt: Seit Jahren beklagen wir uns über schrumpfende Einwohnerzahlen und die Alterung der Gesellschaft. Die aktuelle Debatte geht daher teilweise an der Lebenswirklichkeit vorbei. Glauben Sie mir, in meiner Zeit als Oberbürgermeister in Frankfurt (Oder) habe ich mich beinahe täglich mit diesen Themen befasst. Fakt ist: Gerade im Osten unseres Landes gibt es tausende leer stehende Wohnungen.

Seit 1987 ist die Zahl der Sozialwohnungen in Deutschland von vier Millionen auf 1,5 Millionen gesunken. In den meisten Großstädten ist der Wohnungsmarkt ohnehin angespannt....

Martin Patzelt: Wir sollten nicht immer die Großstädte als Maßstab heranziehen. Schauen Sie beispielsweise nach Brandenburg - hier gibt es derart viele leer stehende Immobilien, das ist ein Wahnsinn. Und was machen wir? Wir errichten Zelte, aber reißen gleichzeitig Häuser ab. Das ist unlogisch.

Die ostdeutschen Ministerpräsidenten haben den Vorschlag Winfried Kretschmanns, mehr Flüchtlinge in Ostdeutschland unterzubringen, vehement abgelehnt.

Martin Patzelt: Ich habe das sehr bedauert. Mein Ministerpräsident Dietmar Woidke hat sich zu dem abstrusen Satz hinreißen lassen: "Wir machen Flüchtlinge nicht zur Handelsware." Damit legt er dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten etwas in den Mund, dass der weder gesagt noch gemeint hat. Mit solchen Aussagen wird Öl ins Feuer gegossen. Als wäre die Stimmung im Land nicht aufgeheizt genug.