In geheimer Mission im Dritten Reich
Seite 2: Opfer am Altar des Vaterlandes
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Maria Leitners Beitrag zur Exilliteratur erforderte großen Mut. Sie reiste mehrfach nach Deutschland, um zu recherchieren. Aus Sicht der Gestapo war das Hochverrat. Sie hätte jederzeit verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht werden können. Ob sie mit falschem Pass unterwegs war, oder vielleicht mit amerikanischen oder ungarischen Reisedokumenten, weiß man nicht. Jedenfalls fuhr sie offenbar nicht auf gut Glück los, sondern suchte gezielt und gut vorbereitet Orte auf, über die sie zuvor Erkundigungen eingeholt hatte. Es muss Leute aus der Wirtschaft und der Wissenschaft gegeben haben, die sie mit Informationen versorgten.
Das Bild vieler Deutscher vom Dritten Reich wird immer noch von dem bestimmt, was damals in den gleichgeschalteten Medien berichtet wurde oder was wir heute in Unterhaltungsfilmen mit Heinz Rühmann oder Johannes Heesters zu sehen bekommen. Auch deshalb sind Texte wie die von Maria Leitner ganz besonders lesenswert. 1936 veröffentlichte sie in Das Wort (Heft 2) die Reportage "Reinsdorf", die man so in keiner deutschen Zeitung hätte finden können. In Reinsdorf gab es eine gut abgeschirmte, nur mit Passierschein zu erreichende Sprengstofffabrik, die riesig und doch kaum zu sehen war:
Die ganze Fabrik ist unterirdisch. Sie hat sich unter die Erde verkrochen, sie hat sich eingebuddelt wie in einen Schützengraben, will unsichtbar bleiben - vor einem Feind, den es heute noch nicht gibt, der aber schon morgen da sein kann. Sie selbst, die WASAG, sorgt dafür, dass er kommen soll.
Wichtigster Kunde der Fabrik war die Reichswehr. 1935 hatte es bei der TNT-Produktion eine Explosion gegeben, die eine unbekannte Zahl von Opfern forderte (offiziell waren es 78 bis 90 Tote, es müssen aber viel mehr gewesen sein). Die Behörden hatten zufällig in der Nähe befindliche Ausländer, frühere, in der Gegend wohnende SPD- und KP-Funktionäre und sonstige Verdächtige, denen man die Schuld in die Schuhe schieben konnte, als Saboteure festgenommen. Es gab eine Trauerfeier mit Hitler und Göring, der am Grab der schrecklich zugerichteten Toten eine Rede hielt:
Das ist das Große, Leidtragende und Angehörige, dass heute nicht mehr umsonst der deutsche Mensch in den Tod geht, sondern dass jeder einzelne damit ein großes Opfer am Altar des Vaterlandes niederlegt.
Was Göring verschweigt, erfährt man bei Maria Leitner. Sie spricht mit Arbeitern und Anwohnern, die noch immer unter Schock stehen. 1933 hatte die Fabrik 2000 bis 3000 Arbeiter. 1935 waren es schon 12 000. Die Erweiterungsbauten mussten so schnell ausgeführt werden, dass auf die Sicherheit keine Rücksicht genommen werden konnte. In der Eile passierten Fehler, die Fehler führten zur Explosion. Für die WASAG (Westfälisch-Anhaltinische Sprengstoff-Actien-Gesellschaft) ist selbst das von Vorteil. Der Jahresbericht ist noch nicht veröffentlicht, doch die Aktionäre dürfen trotz - oder wegen - des Unglücks mit Rekordgewinnen rechnen. Die Regierung hat großzügige Zuschüsse für Ausbesserungsarbeiten und Neubauten bewilligt. Die WASAG hat zudem ein chemisches Forschungsinstitut gegründet und schickt sich an, der IG Farben Konkurrenz zu machen. In Reinsdorf spricht man davon, dass bei der unterirdischen Detonation Giftgas freigesetzt wurde.
Leben auf dem Vulkan
Maria Leitner reist durch ein unheimliches Land, in dem überall geheime Kriegsvorbereitungen laufen. In "Leverkusen" (am 7. Juli 1936 anonym in der deutschsprachigen Pariser Tageszeitung erschienen) sucht man unter großem finanziellen Aufwand nach einem Herstellungsverfahren für künstlichen Gummi (Gummi ist kriegswichtig). Bei Opel in Rüsselsheim erhält die stark anwachsende Werkspolizei ständig neue Befugnisse ("Autos! Autos!", unveröffentlichtes Manuskript für die Pariser Tageszeitung). Bei Daimler-Benz in Untertürckheim versucht man, einen geräuschlosen Motor zu entwickeln, der für militärische Zwecke äußerst nützlich wäre. In zwei Jahren wurden 66 Millionen Reichsmark für neue Anlagen ausgegeben. Seither erhalten die Aktionäre nur noch mündlich Auskunft über die Investitionen, und nachdem sie sich zum Stillschweigen verpflichtet haben. Seit mysteriöse "Kriegswagen" gebaut werden, gibt es mehr Arbeit und mehr Lohn. Vorläufig, sagen die Arbeiter, sind sie zufrieden:
"Vorläufig verdient man nicht schlecht." - "Vorläufig hat man noch Arbeit." - "Vorläufig braucht man nicht zu hungern." Vorläufig! Das Leben auf dem Vulkan ist provisorisch. Die "Kriegswagen" geben Brot, aber sie wecken auch die Angst: Was wird geschehen, wenn sie sich in Bewegung setzen?
Auch die Werksangehörigen in Frankfurt-Höchst ("IG-Farben", Das Wort, Heft 1, 1937) mussten sich schriftlich zum Stillschweigen verpflichten. Trotzdem sind Gerüchte über einen vertuschten Unfall nach außen gedrungen, weil es im Main ein großes Fischsterben gab. Die örtlichen Fischereiverbände wurden mit dem Hinweis auf Staatsraison und Landesverrat mundtot gemacht und von einer Schadensersatzklage abgehalten. Aber zufällig fand am Sonntag nach dem Unfall ein deutschlandweites Wett- und Preisangeln statt. Im Main wurde in vier Stunden kein einziger Fisch gefangen:
Traurig gingen die Angler heim. Dachten sie an die Fische, die sie nicht fangen konnten, oder hatten sie voll Grauen einen Blick in die Zukunft der Menschheit getan? Denn für sie, die Menschen, ist ja das Gift bestimmt und nicht für die harmlosen Fische, denen niemand gram ist. Nur ein Tröpfchen davon gelangte in den Main, welch ungeheure Mengen aber werden in den Höchster Farbwerken zusammengebraut! Wie aber, wenn es seinem Zweck entsprechend gegen die Menschen gerichtet werden sollte? Würde das Leben auf unserem Planeten von einem Tag zum anderen aufhören wie in den Gewässern des Mains?
Maria Leitner fährt trotz persönlicher Gefahr zur IG Farben. Bei Schichtwechsel trifft sie Frauen in braunen Kitteln, von denen viele unfruchtbar geworden sind:
Diese Frauen arbeiten in den neuen "Riechstoff-Abteilungen". Was ist Riechstoff? Kein duftendes Parfüm; das stellen die IG-Farben nicht her. Aber was ist es? Zweifellos ein Stoff, der riecht. Giftgase müssen auch einen zivilen Namen haben, den man ohne Schrecken aussprechen kann und der sich vor allem in den Jahresberichten gut ausnimmt.