Indien: 250 Millionen Streikende?
Seite 2: Verkehrte Welt: Von Hilfen und Staatsfeinden
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Auch in Indien besteht sozialer Fortschritt aus geduldiger, harter Arbeit: Seit Jahren gehen Aktivisten wie der bengalische Sushovan Dhar in die Dörfer und versuchen den Menschen klar zu machen, dass sie Rechte haben – von Bauern und Bäuerin bis zu den Frauen, die für einen Hungerlohn Bivis, Zigaretten, drehen. In wochenlanger Vorbereitung organisieren die Sushovans auch Demonstrationen in der Hauptstadt Kolkata, auf denen die Dorfbewohner ihre Anliegen vortragen dürfen.
Vor zwei Jahren durfte ich dabei sein, wie knapp 1.000 Frauen aus bengalischen Dörfern erstmals ihre Stimme auf den Straßen Kolkatas erheben durften. In ihren schönsten Saris, doch zuerst schüchtern, da sie nicht glauben konnten, dass die Straßen für sie abgesperrt wurden. Immer wieder angespornt durch Dhar und andere Aktivisten: "Das ist euer Recht", riefen sie später wie Fußball-Ultras.
Auch Colin Gonsalves, Gewinner des Alternativen Nobelpreises 2017, brauchte viel Geduld, bevor er und seine Mitstreiter es schafften, dass das Recht auf Nahrung in Indien gesetzlich verankert wurde.
Ebenso Wilfred d'Costa, der Vorsitzende des NGO-Dachverbandes Indian Social Action Forum. Er und seine Mitstreiter kämpften neun Jahre, nicht mit Bomben, sondern mit dem Gesetz. Dann gab der Oberste Gerichtshof ihnen Recht, dass sie und andere kleine NROs ausländische Spendengelder annehmen dürfen – das darf und tut die Modi-Regierung übrigens schon lange und am besten. Dazu gingen 95 Prozent der Wahlspenden 2018 an Modis-BJP, 50 Prozent davon waren aus unbekannten Quellen.
Verkehrte Welt: Ausgerechnet die hindunationale Modi-Regierung wirft Personen vor, dass sie mit ihren Hilfsangeboten mündige Bürger "zu Staatsfeinden machen". Eine Regierung, die vorwiegend Religion und Nationalismus anbietet. Eine Regierung, die ebenso die höchste Arbeitslosigkeit seit 45 Jahren anzubieten hat, während die Börsenwerte von regierungsfreundlichen Konzernen wie der Adani-Gruppe und Reliance selbst im Corona-Jahr in die Höhe schießen.
"Revolutionen" lassen sich nicht herbeischreiben oder twittern, solange die Basis nicht bereit ist. Und das wird auch in Indien noch dauern. Die meisten einfachen Inder in den Dörfern kennen nur korrupte Beamten und Politiker. Über Sätze wie "Demokratie heißt, die Macht geht vom Volk aus" können sie nur lachen. Selbst die Bildung der oberen indischen Mittelklasse geht überwiegend auf den Besuch von Privatschulen zurück, die vorrangig ein Ziel haben: Wissen zu vermitteln, mit denen die Jungen und Mädchen später einen gutbezahlten Job ergattern können.
Die politische und gesellschaftliche Bildung ersetzt auch bei der Oberklasse überwiegend die Religion. So verwundert es nicht, dass es die obere Mittelklasse ist, die noch immer einen hindunationalen Populisten wie Narendra Modi unterstützt.
Doch ein Auslandsaufenthalt kann Wunder bewirken: Bei den Wahlen in den USA hätte man eigentlich erwarten können, dass die Inder in den Vereinigten Staaten für Trump stimmen. Schließlich feierten sie Trump und Modi auch bei gemeinsamen Auftritten in den USA und Indien. Doch Umfragen zeigten, dass 72 Prozent der Inder in den USA vorhatten, für Joe Biden zu stimmen. Hauptgrund: Trump sei intolerant gegenüber Minderheiten.
Intoleranz gegenüber Minderheiten kann den Machern der jungen Welt nicht vorgeworfen werden, die frech und humorvoll auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam macht. Solange sie zum Aushalten der Realitäten keine Feenwelt brauchen, in der 250 Millionen Inder Revolution betreiben, ist sie durchaus lesenswert.
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