Indien: Der Anfang vom Ende
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Über "Kopf-Transplantationen", die angeblich schon vor Tausenden von Jahren in "Indien" ausgeführt wurden - und über ein Riesen-Hilfspaket, das mehr Schein als Sein ist
Wenn jemand den Friedensnobelpreis verdient hätte, dann Indiens Premierminister Narendra Modi. Er hat die Religionsgemeinschaften in Indien auf eine spektakuläre Weise zusammengebracht, indem er an den gesunden Menschenverstand appelliert hat...
Und auch sonst hat er alles richtig gemacht. Mit einem großen Hilfspaket hat er Ende März die Grundlage dafür gelegt, dass niemand in Indien wegen der Corona-Ausgangssperre hungern muß. Dass es trotz der Weitsicht von Modi zu "kleineren Problemen" kam, lag einzig an den Regierungen der Bundesstaaten, die einen Fehler nach dem anderen machen...
Auch in seiner letzten Rede am 12. Mai hat Modi-Ji ein weiteres "unglaublich" großes Hilfspaket verabschiedet. Dazu wies er in seiner Rede auf die Verdienste seines Landes für den Rest der Erde hin: Wo wäre der Planet zum Beispiel ohne Indiens enorme Anstrengungen im Kampf gegen den Klimawandel?
Nicht nur jetzt in der Krise verweist Modi auf die Errungenschaften "Indiens" im Jetzt und in der Vergangenheit: Schon im Jahr 2014 sagte er bei der Einweihung eines Krankenhauses, dass die Transplantation des Elefantenkopfes des Gottes Ganesha auf einen Menschen, eine große Errungenschaft der indischen Chirurgie vor Jahrtausenden war.
Doch, das hat er wirklich gesagt, und Modi verteidigte die Aussage auf einem Wissenschaftskongress im Jahr 2019 mit messerscharfen Verstand:
"Unsere Vorfahren müssen damals schon Kenntnisse von plastischer Chirurgie besessen haben, sonst hätten sie einen Elefantenkopf nicht auf den Hals eines Menschen bekommen."
Bekräftigt wird der Kampf gegen das Vergessen von vielen anderen Regierungsvertretern wie Junior-Bildungsminister-Minister Satyapal Singh: Mit Quellenangabe belegte er, dass Hindus ebenfalls vor Tausenden von Jahren das Flugzeug erfunden haben: Das steht in der hinduistischen Sage Ramayana.
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So sollten Artikel von Journalisten klingen, wenn es nach der indischen Zentralregierung geht, sonst verschwinden die Texte einfach von der Webseite, wie letzte Woche beim The New Indian Express - einer der größten Zeitungen des Landes.
Einer der trotzdem weiter kritisch berichtet, ist der Chefredakteur von The Wire, Dr. Siddharth Varadrajan. Vor knapp zwei Monaten wurde Varadrajan mit einer Strafanzeige bedacht, weil er in einem Artikel aufzeigte, dass der Chief Minister von Uttar Pradesh, der hinduistische Priester Yogi Adityanath, einen Tag nach der Ausgangssperre am 24. März, an einem religiösen Umzug teilgenommen hatte.
Hinter dem Rosarot
Einer der anwesenden Sadhus beruhigte die Teilnehmern mit den Worten: "(Der Gott) Lord Ram bewahrt seine Gläubigen vor dem Coronavirus." Laut Regierung waren es Ausländer, die Covid-19 im Land verbreiteten - dass fast nur Ausländer getestet wurden, wurde nicht erwähnt.
Was die bisher 54 Tage Ausgangssperre verhindert haben, wird sich erst noch zeigen, denn erst jetzt, wo das Land die ersten größeren Lockerungen vorbereitet, fangen die Zahlen der Covid-19 Infizierten rasanter an zu steigen. Am 15. Mai hatten sich in 24 Stunden 2970 Menschen mit dem Virus infiziert. 100 starben. In den folgenden 24 Stunden waren es 4900 Infizierte und 120 Tote.
Die rosaroten Vorstellungen der Zentralregierung auf Papier zu bringen, fällt augenblicklich schwer: Am 7. Mai wollte eine Chemiefabrik in Visakhapatnam den Betrieb nach den Lockdown-Lockerungen für die Industrie wieder hochfahren, wobei es zu einem Gasleck kam: 13 Menschen starben. Mehr als 1.000 wurden verletzt - vorwiegend Bewohner in den umliegenden Dörfern, die im Schlaf überrascht wurden.
Am selben Tag gab es ein weiteres Gasleck in einer Papiermühle im Distrikt Raigarh in Chhattisgarh, das sieben Arbeiter zum Teil schwer verletzte.
Einen Tag später explodierte ein Boiler in einem staatlichen Elektrizitätswerk in Neyveli, bei dem acht Arbeiter verletzt wurden.
Ebenfalls am Freitag letzter Woche wurden 16 Wanderarbeiter von einem Güterzug überrollt: Wie viele andere waren sie auf den Schienen auf dem Weg nach Hause, als sie am Morgen auf den Gleisen schlafend vom Zug erwischt wurden.
Indien ist ein großes Land, also nur ein bedauernswerter Einzelfall?
Am 13. Mai wurden 6 Wanderarbeiter in Uttar Pradesh auf dem Heimweg getötet, als ein betrunkener Fahrer mit seinem leeren Bus über sie hinwegraste. Am gleichen Tag starben acht weitere Wanderarbeiter in Madhya Pradesh als ihr überfüllter Lastwagen umkippte - 50 weitere wurden verletzt. Zwei Tage später kamen wieder 24 Wanderarbeiter alleine bei zwei Unfällen mit Lastwagen ums Leben kamen.
Auch 53 Tage nach dem Verhängen des knallharten lockdowns sind noch Zehntausende Menschen auf dem Weg von den Städten in ihre Dörfer und viele sterben dabei: Weil sie auf überfüllten Lastwagen verunglücken, auf ihren Fahrrädern oder zu Fuß von Lastwagen überfahren werden, auch Kinder aus Erschöpfung und Hunger.
Flucht aus den Großstädten
Die Gründe für die Flucht aus den Großstädten sind ähnlich: Ohne Arbeit wegen des lockdowns kein Geld, doch die Miete muss bezahlt werden. Dazu fühlten sich die Wanderarbeiter von der Regierung im Stich gelassen: Es dauerte bis zum 13. Mai, bevor die Zentralregierung aus dem Hilfsfond modicare Geld für die Wanderarbeiter verwendete.
Aber die Zentralregierung macht die Bundesregierungen für das Leid der Arbeiter verantwortlich. Doch trotz der Hilfspakete der Zentralregierung geht ihnen das Geld aus. Vom ersten Not-Hilfspaket Ende März diesen Jahres, das 26 Milliarden Dollar betrug, hat die Zentralregierung bis zum 15. Mai erst 17 Milliarden ausgeschüttet. Auch das aktuelle Hilfspaket von 265 Milliarden Euro ist mehr Schein als Sein: Dieses Finanz-Jahr wird die Regierung davon maximal 10 Prozent ausschütten. Wahrscheinlicher sind eher 5 Prozent.
So veranlassten mehrere Bundesstaaten, dass vor 10 Tagen die Spirituosenläden wieder öffnen. Der Hauptgrund: Die Steuern aus dem Alkoholverkauf fließen in die klammen Kassen der Bundesstaaten, dessen Regierungen zum Teil schon nicht mehr wissen, wie sie die eigenen Angestellten bezahlen können.
Alkohol und Arbeitnehmerrechte
Leider entstand wegen der langen Schlangen vor den Spirituosenläden der Eindruck Indien sei ein Land von "Säufern". Noch wird in Indien pro Kopf nur ein Drittel von der Menge Alkohol getrunken wie in Deutschland. Eine Studie der TU-Dresden zeigt jedoch, dass der Alkoholverbrauch in Indien allein zwischen 2010-2017 um 38 Prozent gestiegen ist.
Da können Frauengruppen und Sozialarbeiter in Indien noch so berechtigt protestieren - selbst China, Deutschland, Russland und die U.S.A sind sich in einem Punkt einig: Ohne Alkohol geht es auf dieser Welt nicht.
Damit neben dem Alkoholverbrauch auch die Wirtschaft wieder wächst, haben die von der Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) regierten Bundesländer alle Arbeitnehmerrechte außer Kraft gesetzt.
Davor hatte die Zentralregierung per Anordnung den Weg frei gemacht, dass Firmen jetzt auch offiziell ihre Arbeiter 12 Stunden am Tag "produktiv sein lassen können - natürlich mit Maske bei jetzt schon 44 Grad in Bundesstaaten wie Gujarat, die als erstes vom 12 Stunden Arbeitstag Gebrauch gemacht haben.
Trolls und Fanatiker
Auch wenn es aktuell so aussieht, als hätte die hindunationale Modi-Regierung die Opposition, die Medien und ihre zivilen Gegensprecher in der Tasche und damit das Land - die Gefahr kommt meistens von dort, wo man nicht damit rechnet: So wurde Narendra Modi von seiner eigenen "Trollarmee" auf Twitter angegriffen, als er am 24. April den Muslimen seine Grüße zum Start des Ramadans aussprach.
Eigentlich müssten die Taten der Modi-Regierung ihren Anhängern zeigen, dass dies nicht ernst gemeint ist: Taten wie die Ausschreitungen Ende Februar in Delhi, die durch Mitglieder der BJP angezettelten worden waren - 53 Menschen starben, vorwiegend Muslime.
Doch die Fanatiker sehen ihr Hindureich schon so nah, dass sie ihrem Führer nicht einmal mehr Alibigesten zugestehen. Für Modi ist das eine Zwickmühle: Noch braucht er ausländische Investitionen und so muss er zumindest den Schein bewahren: Damit auch deutsche Unternehmen wie Bosch werbewirksam für die Stiftung modicare spenden können und um Aufträge in Indien buhlen, ohne daheim in die Kritik zu kommen, eine extremistische Regierung zu unterstützen. Die 90 Millionen Euro Strafe aus dem Diesel-Skandal müssen ja irgendwie wieder rein kommen.
Die Hoffnung vieler radikaler Hindus ist der Chief Minister von Uttar Pradesh, der hinduistische Priester Yogi Adityanath, denn er hat auch den letzten Schein von Seriosität abgelegt. Fast alle Toten bei den Demonstrationen gegen das Einbürgerungsgesetz gab es in Uttar Pradesh.
Obwohl mittlerweile nachgewiesen ist, dass die Demonstranten von Polizeikugeln tödlich getroffen wurden, wiederholt der Priester bis heute gebetsmühlenartig, dass die Polizei von Uttar Pradesh nicht eine Kugel während der Proteste abgegeben habe.
Stattdessen drehte er den Spieß um: Seine Regierung ließ im ganzen Bundesstaat Plakate anbringen, mit Fotos und Namen von Aktivisten und Demonstranten. Dass der High Court von Allahabad die Aktion als Unrecht verurteilte, interessierte den radikalen Priester nicht: Die Plakate blieben noch lange nach dem Urteil hängen.
Die Regierungspartei BJP wusste, dass ein Mann wie der Priester noch lange nicht mehrheitsfähig ist. So wurde Yogi Adityanath erst nach dem Wahlsieg 2017 in Uttar Pradesh als Chief Minister eingesetzt.
Experten sahen es als eine Art Experiment: Die BJP wollte sehen, wie weit man es im (noch) demokratischen Indien treiben kann. Scheinbar weiter, als die Zentralregierung dachte, denn immer mehr radikale Hindus fordern den Priester als Nachfolger für Narendra Modi.
Doch die Yogi-Anhänger vergessen die Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), die hinter der ganzen Agenda eines "Hindustans nur für Hindus" steht. Narendra Modi ist nur einer ihrer Spielbälle, der größer wurde als erwartet.