Industrie 4.0 - paradiesische Aussichten mit Marx und Keynes?

Seite 3: "Marx ohne Murks"

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Hagelüken geht es darum, Arbeitnehmer mit Kapitalinteressen auszustatten. Wie "demokratische Entscheidungsmacht" aussehen könnte, erläutert er nicht. Arbeitnehmer mit Besitzanteilen an "ihrem" Unternehmen werden sich die Anliegen des Betriebes zu ihren eigenen machen (müssen) und es sich zweimal überlegen, ob sie ihre Interessen als Lohnabhängige in einen Gegensatz zu jenen der Geschäftsleitung setzen wollen. Ausgestattet mit Betriebsanteilen, werden sie die Leistungen ihrer Mitkolleg/inn/en einer fortwährenden Überprüfung unterziehen und damit den innerbelegschaftlichen Konkurrenzkampf anheizen.

Damit nicht genug werden sie auch die Lage "ihres" Unternehmens auf dem Felde der Wettbewerber zum Gegenstand ihrer Sorge machen. Die Bemühungen ihrer Unternehmensleitung um Erhalt und Ausbau der Konkurrenzfähigkeit könnten für lohnabhängige Anteilseigner in letzter Konsequenz zu der wenig erfreulichen Situation führen, aus Gründen notwendiger Kostenreduzierung ihre eigene Entlassung befürworten zu müssen. Wäre die Beteiligung von Arbeitnehmern am Firmeneigentum ein für die Inhaber allerdings wirklich lohnenswertes Geschäft, hätten die sie schon längst von sich aus in nennenswertem Umfang eingeführt. Dass dies nicht der Fall ist, lässt den Schluss zu, dass die allermeisten Firmeninhaber es bevorzugen, Ertrag und Leitung ihrer Unternehmen ausschließlich selbst und ungeteilt in Anspruch zu nehmen.

Lohnabhängige zu betrieblichen Miteigentümern machen - dieser nicht ganz neue Vorschlag komme lt. Hagelüken "Marx' Vision vom Volkseigentum nahe". Abgesehen davon, dass Marx' Kritik am Kapitalismus alles andere nahelegt, als die Lohnabhängigen zu Miteigentümern am kapitalistischen Vermögen zu machen und dadurch dessen gesellschaftliche Akzeptanz und Machtposition zu stärken, möchte Hagelüken zuvor "viele Fragen" geklärt wissen, wie z.B. die folgende: "Wie lassen sich die Arbeitnehmer an den Firmen beteiligen, ohne die Effizienz des kapitalistischen Modells zu opfern?" Einfache Antwort darauf: die Beschäftigten spalten, das kapitalistische Konkurrenzwesen als alternativlos propagieren und den Konkurrenzdruck in jeglicher Hinsicht hoch halten! Denn: "Sozialistische Planwirtschaft will keiner. Man bräuchte also Marx ohne Murks. Und ohne Diktatur."

In der öffentlich schon endlos wiederholten Phrase vom (sozialistischen) "Murks" kommt auch bei Hagelüken ...

  1. die abschätzige Wertung eines politischen und ökonomischen Bemühens der ehemaligen sozialistischen Staaten zum Ausdruck, der eigenen Bevölkerung sichere Arbeitsplätze und damit eine sichere Existenz zu gewährleisten, denn auf diesen Anspruch glaubten die seinerzeitigen kommunistischen Parteien des europäischen Ostens aus politischen Gründen nicht verzichten zu können. Man muss kein Anhänger der staatssozialistischen Herrschaftsform sein, um die industriellen Leistungen der damaligen Gesellschaften sowjetischen Typs anzuerkennen. Immerhin hatte der Westen jahrzehntelang alle Hände voll damit zu tun, sie ökonomisch und militärisch niederzukonkurrieren, bis sie ihr "realsozialistisches" Projekt endlich aufzugeben bereit waren und ihre Bevölkerungen dem kapitalistischen Bereicherungsinteresse preiszugeben.
  2. zeigt sich darin die Gleichgültigkeit gegenüber den sachlichen Gründen für die letztendliche politische und ökonomische Selbstaufgabe eines Systems, welches sich den Widerspruch leistete, zentralistische Planung mit erzkapitalistischen Elementen wie Geld, Lohnarbeit, Gewinnstreben und einer darüber autoritär herrschenden Staatsgewalt vereinbaren zu wollen. Die damit verbundenen strukturellen Probleme und der ideologisch begründete Unwille, der Arbeiterschaft organisatorische und politische Selbstverantwortung zu übertragen, verhinderte eine emanzipatorische Entwicklung in diesen Gesellschaften.
  3. Hagelüken lehnt "sozialistische Planwirtschaft (will keiner)" ab und "Diktatur" natürlich ebenso. Planung als verpflichtende Vorgabe, also Diktat, scheint den Zusammenhang von "Planung" und "Diktatur" nahezulegen, und die seinerzeitige sozialistische Einparteienherrschaft scheint das ja auch zu bestätigen. Hier stellt sich allerdings die Frage: wie kommen denn die betrieblichen Planungen in kapitalistischen Unternehmen, ja ganzen nationalen und internationalen Konsernverbünden, zustande? Etwa durch eine demokratische Befragung aller Mitarbeiter? Eher nicht!

Hat die unter dem Schlagwort "Industrie 4.0" als Fortschritt gepriesene IT-mäßige Durchorganisierung ganzer Konzerne und Volkswirtschaften bis hin zur Überwachung des Verfügbarkeitsstatus der kleinsten Schraube samt in den Produktionsablauf integrierter Zuliefererketten, externer IT-Dienstleistern, multinationaler Social-Media- und Vertriebs-Plattformen usw. also mit Planung überhaupt nichts zu tun? Und fällt die darin sich widerspiegelnde Planungshoheit der unternehmerischen Eigentümer auf keinen Fall mit der Vorstellung eines Diktats durch übergeordnete Leitungsinstanzen zusammen? Die ausgefeilte Planungsrealität in kapitalistischen Unternehmen aller Größenordnungen widerspricht der ideologisch motivierten Behauptung, eine vernünftige Planung ökonomischer Ablaufe im gesellschaftlichen Maßstab sei unmöglich! Mit dem immergleichen Verweis auf das angebliche Scheitern der ehemals sozialistischen Volkswirtschaften wird jede Auseinandersetzung über deren wirklichen Charakter abgeblockt und als erledigt zur Seite gewischt!

Eine stärkere Beteiligung der Beschäftigten an den süßen Früchten des kapitalistischen Warengartens fordern nicht nur marktkonforme Linke aller Coleur seit Jahren, sondern - nationalistisch und rassistisch unterfüttert - auch die Propagandisten eines sogen. "nationalen Sozialismus" (ein absurder Widerspruch in sich: beides schließt sich wechselseitig aus!) vom rechten politischen Rand. Beide haben an einer sozialistischen Perspektive, die sich mit einigem Nachdenken sachlich begründet aus der marxschen Analyse des Kapitalismus herleiten läßt, erkennbar kein Interesse, glauben aber ihre geschmacksarmen bis geschmacklosen Süppchen mit undurchdachten sozialistischen Begrifflichkeiten garnieren zu müssen.

Hagelüken verkündet den von Arbeitsplatzverlust bedrohten Bürgern abschließend goldene Zeiten, sofern es ihnen gelingen sollte, den Unternehmern einen ihre Existenz sichernden Anteil aus den prognostizierten Erträgen der sich ankündigenden "Maschinenära" abzutrotzen - wohl ahnend, dass diese sich mit Zähnen & Klauen dagegen wehren würden und wütende Verteilungskämpfe dem Einzug ins gelobte Zukunftsland voraus gehen müssten, sollte auch nur irgendwas von dem in Erfüllung gehen, was er aus Marx' "Deutscher Ideologie" entnimmt . Nämlich - für Marx allerdings erst nach (!) erfolgter Abschaffung des Kapitalismus, versteht sich - die Perspektive eines vom Arbeitszwang befreiten Bürgers, der in der Lage wäre, "... heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen..." usw.

Die durch den Kapitalismus verursachten Probleme erfordern allerdings mehr als ein bloß verteilungspolitisches Herangehen an die Sache, denn der Zweck des Geldvermehrens schlägt sich auch in den dafür notwendigen industriellen Strukturen nieder. Theoretisches dazu findet sich bei Hegel.2

Hagelüken erblickt, wie sein Redaktionskollege Zielcke (Kapitalismus als Sozialismus) auch, angeblich bereits oder vielleicht bald im Kapitalismus aufscheinende sozialistische Elemente, die aller unser Leben besser zu machen versprechen.

In einer Zeit, in der die kapitalistisch erzeugten Kollateralschäden ein für die gesamte Menschheit existenzbedrohliches Ausmaß annehmen und dadurch die Legitimität des kapitalistischen Gesellschaftsmodells immer mehr Gefahr läuft, grundsätzlich in Frage gestellt zu werden, versuchen Journalisten der SZ dem durch eine ideologische Vereinnahmung von Marx - des nach wie vor überzeugendsten Kapitalismuskritikers - argumentativ entgegenzuwirken. Sie verbasteln dafür bekannte Marx-Zitate mit ihren politischen Wunschvorstellungen zu Rezepten einer für das kapitalistische Ökonomiewesen möglichst schmerzarmen Überlebensstrategie.

Dieses Bemühen ist Ausdruck einer interessengeleiteten und von Konformitäts- und Anpassungswillen geprägten Form öffentlicher Meinungsbildung, die mit dem Anspruch vernunftgeleiteten Räsonnierens auftritt. Einer kritischen Überprüfung halten diese Versuche allerdings kaum stand. Journalismus dieser Art hat mit dem von Faschisten gebrauchten Vorwurf der "Lügenpresse" jedoch absolut nichts zu tun: hier wird nicht gelogen, sondern der freien Meinungsäußerung gefrönt - und zwar bis zum Gehtnichtmehr parteiisch im Sinne bestehender Macht- und Wirtschaftsinteressen.