Info-Überfluss, Hyper-Konkurrenz, Entortung, digitale Verlustmodelle
Seite 2: Digitaler Bluthochdruck - soziale Netzwerke, Meta-Portale, Feeds
- Info-Überfluss, Hyper-Konkurrenz, Entortung, digitale Verlustmodelle
- Digitaler Bluthochdruck - soziale Netzwerke, Meta-Portale, Feeds
- Umverteilung, Allmende - sozialistische Untugend oder Existenzfrage?
- Der leere Platz mit der großen Leuchtreklame
- Auf einer Seite lesen
Es sei hier nur global skizziert, was die meisten Internet-Besucher täglich nutzen, um sich zu informieren: Es sind die großen Nachrichten-Portale, die Mühe haben, ihre Online-Inhalte zu monetarisieren, während gekauftes Papier schwindet und bezahlte Abos digital im Verhältnis nur langsam nachziehen. 2016 wurden 19 Mio. Zeitungen verkauft. Hinzu kommen 977.156 E-Papers. 1991 waren es noch 27 Mio.
Daneben platzt die Blogosphäre aus allen Nähten. Fast egal, für welche weit verbreiteten Inhalte man sich interessiert - es tauchen im Netz laufend neue Autoren auf, die mehr oder minder originell kleinere Publika an sich ziehen. Der Erfolg ist detailliert schwer einzuschätzen. Doch die einzelne kleinere Seite ist selten der Publikumsmagnet, die Mechanismen der Aufmerksamkeit und algorithmischen Steuerung sind nicht immer durchschaubar. Letztere beide finden in sozialen Netzwerken und anderen Verteilstationen wie Meta-Portalen und Messengers statt. Zahlreiche Formen der E-Mail-Benachrichtigung und der Weiterleitung von Links wie RSS-Reader werden genutzt. Zu den mobilen News-Apps mit hohem Marktanteil bemerkt die Website "contentmanager.de":
Man könnte auch sagen: Je kleiner der Bildschirm, desto höher ist die Konzentration auf die großen Medienhäuser.
(contentmanager.de)
Man kann hieraus eigentlich durchweg Paradoxien ableiten, die betriebswirtschaftlich formuliert ein Desaster nach dem anderen bedeuten: sinkende Einnahmen für mehr Aufwand, Konzentration auf Gratis-Anbieter mit großem Kapital bei gleichzeitigem rasantem Wachstum der Zahl vieler weiterer kleiner und kleinster digitaler Anbieter, die unweigerlich weitgehend ehrenamtlich tätig sind. Digitale Produkte sind für unbezahlte Kopien sehr anfällig; keine aktuelle große Zeitschrift, die als PDF auf Tauschportalen nicht findbar wäre, ebenso E-Books oder gescannte ältere Bücher, die sonst ggf. gekauft würden. Im Arbeitsministerium scheint man noch eher im "Wünsch Dir was"-Modus zu verweilen, wenn man in der Foresight-Studie "Digitale Arbeitswelt" (2016) formuliert:
Wenn unternehmerisch und politisch die Überzeugung vertreten wird, dass die Digitalisierung Chancen für den Erhalt von Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit bietet, müssen die gleichen Akteure dafür sorgen, dass die einhergehenden wirtschaftlichen und sozialen Risiken - wie sie etwa in der Flexibilisierung von Arbeit bestehen - nicht auf den Einzelnen übergehen.
(Digitale Arbeitswelt)
Es geht in einer solchen Studie wesentlich um materielle Produktionsbereiche, Automatisierung von Fertigungsabläufen und deren Datenverwaltung. Nicht nur in den ministeriellen Verlautbarungen zum Thema bricht sich eine Wissenschaftsprosa Bahn, die geradezu zwanghaft positiv besetzte Adjektive vor jede effektive Krisen-Entwicklung schiebt.
Man muss es den digital primitives vielleicht nochmal vor Augen führen: Was hätte man vor 30 Jahren gedacht, wenn Menschen auf Dauer massenhaft eine Zeitschrift fotokopiert und per Post an viele ihnen persönlich Unbekannte verschickt hätten, statt dass diese ihre Zeitschrift selber kauften?
Dass Digitalisierung so selbstverständlich geworden ist, ändert noch nichts daran, dass sie alles, was als Produkt in Buchstaben, Bildern und Tönen daherkommt, rasend inflationiert. Das Jammern über die Radikalisierung von Diskursen übersieht allzu oft auch dies: dass an höchsten Stellen kaum Bewusstsein, Kompetenz und Sensibilität dafür vorhanden zu sein scheint, dass wie zu Zeiten von Weberaufständen im 19. Jahrhundert Maschinen (und heute auch Programmcodes) Arbeitende um ihr Einkommen bringen, die anschließend als verzweifelte einsame Rufer in Lumpen durch die Siliziumwüste irren. Mit Betteln im Realraum lässt sich teilweise schneller und einfacher Geld verdienen.
Ich gehe hier nicht auf die sich ebenfalls ändernden Aspekte von Bildung, Urteilsfähigkeit, die inhaltlichen und formalen Strukturen von Medieninhalten ein. Sie wären Gegenstand einer Medienwissenschaft, die es kaum noch gibt, weil alles nur noch über ‚das Mediale‘ spricht oder die allgegenwärtige Vernetzung besingt.
Der Kollektivkörper ächzt also bei erhöhtem Bewusstsein und starker Aktivität unter einem damit verbundenen Hochdruck der zirkulierenden Informationen. Die empirisch fundierten Medienwissenschaften werden eher Industrie-intern veranstaltet: als quantitative Auswertungen der Fülle von Medieninhalten. So erst kann man stärker verallgemeinern, was gerade massenhaft wahrgenommen und was übersehen wird, wo es bedenklichen Wildwuchs und totale Aberration gibt.
Fragmentierung und Kontrollverlust
Der Expertokratie der übrigen Wirtschaftssektoren steht die Pluralisierung und Amateurisierung der Medienproduktion gegenüber. Das zuvor angerissene Problem der Radikalisierung umfasst (teils anonyme) Blog-Beiträge, Podcasts und Videos bis zu Leserkommentare und Postings in sozialen Netzwerken. Entweder, es werden Leser auf andere Inhalte an vielen verteilten Stellen umgelenkt, die teilweise nur Inhalte neu formulieren, oder es treten nur Überschrift und Anreißer in der Weiterleitung an die Stelle der Übersicht eines einzelnen Anbieters.
Die nur in wenigen Büchern wie Andrew Keens "Die Stunde der Stümper" (2007) behandelte Entprofessionalisierung ist ein Teilproblem der Entwicklung. Wo in der etablierten Presse schon nicht alles Blattgold ist, was glänzt, führt Selbstproduziertes teilweise bisher ungefilmte Idiotie in die Manege. Oder mehr sowie minder begabte Laien kompilieren und reproduzieren schlicht das von anderen erarbeitete Wissen, oft, ohne dass Leser dies zwingend bemerken müssen. Reblogging und Re-Uploads machen zwar auch Interessierte erst aufmerksam, lenken aber Besucher von der eigentlichen Quelle des Beitrags ab, wenn sie sie überhaupt kenntlich machen.
Nicht jeder wird erwarten dürfen, daraus einen Lebensunterhalt zu machen. Aber auch die, die nicht selbst an dieser ihrer Digitalarbeit verdienen, nehmen anderen Zeitbudget respektive Einnahmen weg. In allerlei Varianten spielen dabei noch Querfinanzierungen eine Rolle, durch die in Blog- und YouTube-Kultur eher skurrile oder merkwürdige Blüten aufdringlicher sprießen. Wer hingegen allzu Abgewogenes und Intellektualisiertes wie in Traditionsblättern produziert, aber keine Sendezeiten und Werbeplätze kaufen kann, hat abermals geringere Chancen. Schneller, schärfer, in der Qualität stark schwankend und undurchschaubarer in ihrer Herkunft und Güte sowie weit verstreut sind die neuen Inhalte.
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