Info-Überfluss, Hyper-Konkurrenz, Entortung, digitale Verlustmodelle

Seite 4: Der leere Platz mit der großen Leuchtreklame

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Soziale Institutionen wie die Kirche oder der Trachtenverein verloren über frühere Jahrzehnte hinweg an Bedeutung - wie gegenwärtig die Leitmedien, vielleicht auch wirklich differenzierte Informationen generell. Kritische Überlegungen zu Kommunikationskultur, Erwerbsmodellen und öffentlichem Raum werden schnell als die "kulturpessimistisch" genannte Tendenz wahrgenommen, da sie den Begeisterungsstürmen der nachwachsenden Online-Spieler und Snapchatter entgegenstehen.

Jedes Gespräch über Online-Handel führt doch zu dem Eingeständnis, er sei für einen selbst von praktischem Vorteil. Die dadurch fehlende Mieteinnahme für das Ladengeschäft steht bei den wenigsten auf dem eigenen Zettel. Sie wird derzeit nur beim Blick in manche Einkaufszeile der Verdacht beschleichen, es habe dort früher anders ausgesehen und könne bald an noch mehr Orten genauso leer sein. Der Übergang zu einer nicht existierenden Zukunft des stationären Handels ist der Outlet-Store mit Ansichts-Exemplaren für die Online-Bestellung.

Man wird unter größeren logistischen, sozialen, emotionalen, finanziellen und sicherheitspolitischen Problemen städtischen Lebensraum umgestalten oder aufgeben müssen. Womit sollte er neu bespielt werden?

Konsum-Tempel eher noch als das Lädchen werden materiell verbleiben. Künftige Kunden-Typologien, die es in die Städte oder stattdessen an die Computermaus zieht, sind noch nicht in jeder Hinsicht absehbar. Gemeinsames Essen, Politik- und Kulturereignisse jeder Art einschließlich der Religion sind die heute bekannten anderen Gründe, ein städtisches, öffentliches und gemeinschaftliches Leben zu führen.

Es gibt verschiedene Abstufungen zwischen den Zukunftsromanen "1984" und "Schöne neue Welt", die für die Realität gedacht werden können. Pragmatismus bis Euphorie von BGE-Entwürfen stehen den Befürchtungen von sinkendem allgemeinem Wohlstand und Überwachung bis zum Chip-Implantat für den gläsernern Bürger gegenüber. Für totale Grundversorgung könnte, zumal unter Krisendruck, totale Kontrolle gefordert werden. Informationell ist sie jetzt für Geheimdienste schon fast gegeben.

Was im Fall des Einzelhandels und der produzierenden Gewerbe mindestens noch sehr viele Arbeitsplätze kosten wird, hat im Fall der Aufzeichnungen und Informationen den gravierenden zusätzlichen Aspekt der sich permanent erweiternden Speicher- und Abrufbarkeit. Das Ende vieler ökonomischer Grundlagen von Medienproduktion wird verstärkt wohl auch mit Neuordnungen und Präsentationen der Archivinhalte, der Substratbildung und Abstrahierung verbunden sein. Wie viele der Nutzer diese letztlich verstehen und für sich praktisch handhaben können, ist noch nicht absehbar.

Der Realismus heutiger TV-Erzählungen steht typologisch und reflexiv noch im 19. Jahrhundert. Nicht unbedeutend sind im Internet ja schlichteste Formen des Geschicklichkeitsspiels oder der Pornografie als Zeitvertreib. - Könnte das Massenpublikum selbst etwas mit der Auswertung von Big Data anfangen? Wie weit folgt das Expertenwissen der Demokratisierung von Medien-Produktionsmitteln und Zugangsberechtigungen?

Dass die erfolgreichsten wirtschaftlichen Profiteure der unaufhaltsamen Entwicklung neben den Kapitaleignern die Betriebswirte und Programmierer sind, ist bereits erwiesen. In einem globalen Umfeld welthistorischer Tragödien und härtester Überlebenskämpfe verläuft die ökonomische, technische und kulturelle Entwicklung der verspielten Gesellschaften, die dabei in nur von wenigen halbwegs verstandenen Finanzkrisen um ihren geldbasierten Wohlstand bangen.

Durchaus ist schon von einer Wiederkehr des Realen über die demokratisierten Kanäle zu sprechen. Mit der Nähe und Präsenzbildung internationaler Konfliktherde steigt eine gewisse Hysterie der überforderten Einzelnen, die ahnen, nach Generationen wieder einen Krieg oder einen Währungscrash erleben zu können.

Die hier beschriebenen Fragmentarisierungen und Pluralisierungen eines zugleich an ökonomischer Tragfähigkeit verlierenden Marktes der Informationen, Spiele und Sinnesreize sind auch ein riesiger symbolischer Schutzschild über einer harten Realität weitester geografischer Bereiche, die mit der Vergrößerung der Bildschirme zugleich immer deutlicher hindurchschimmert - für den, der aufmerksam hinsieht. Wir kennen keine Statistiken, wie viele andere allein ins noch Trübere blicken als das, was sie vor der Internet-Revolution von der Welt sahen. Es gibt Millionen von Menschen, die nur in Verehrung und naiver Wahrnehmung von Sport- oder Filmhelden, in Computerspielen oder Kaufsüchten leben.

Die Letztgenannten werden von den laufenden Entwicklungen noch mehr überrollt werden als jene, die sie schon kommen sehen - aber selbst auch kein erwiesenermaßen tragfähiges Modell des BGE vorweisen können, geschweige denn von sich aus die größeren Konflikte um Lebensraum, Rohstoffe und Märkte erwartbar friedlich zu schlichten imstande wären.

Digitalisierung, Internet und Automatisierung (mit vielen weiteren, hier ungenannten technischen Aspekten) werden ein Millionen-Heer von Arbeitslosen hervorbringen, wo diese sich nicht jetzt schon hinter irreführenden Arbeitslosenzahlen in allerlei Niedriglohn-Bereichen bewegen. Hinzu kommen Migrations- und Finanzkrisen, sicher auch erfolgreich verdrängte ökologische Krisen wie verschmutzte Meere und gefährdete Bestände am Beginn der wirklichen Nahrungskette. Kleinere und größere Fragezeichen stehen noch hinter Energieversorgung und Rohstoffvorräten für die in einer neuen Lebens- und Arbeitswelt erforderliche Gerätetechnik.

Es gibt Hoffnungszeichen, dass verschiedene Altersgruppen, sicher an erster Stelle Jüngere, die Notwendigkeiten neu denken können und von manchem Abschied nehmen werden, was sich zunächst als Normalität gegenüber allerlei alternativen Lebensentwürfen der 1960er und 70er durchgesetzt hatte: Konsumkulturen und -fetische, Egotrips in Wohlstandsverteilung, Gehaltsverhandlung und prohibitionistische Behandlung von Informationen. Doch hat an so mancher Mauer, Gegensprechanlage und Vertragsvereinbarung der Altruismus nach wie vor schnell ein Ende.

Die Wissens-Allmende hat vorerst zu Zwischenstadien geführt, in denen ökonomisch eine extrem vergrößerte Präsenz kostenloser Inhalte erreicht ist sowie Unübersichtlichkeit und Unsicherheit notwendige Begleitumstände einer erweiterten Realitätswahrnehmung sind. Leakings und Verschwörungstheorien gehören dazu ebenso wie die mächtigsten Schnatter-Werkzeuge, virale Kurzzeit-Hypes, schier endlose Schleifen der Selbstreferenz, von Duplikaten, Zitaten und Varianten.

Es lässt sich hier nicht ausführen, wo Demokratisierung Illusion sein kann, wo in den realen Begebenheiten schließlich außermediale machtpolitische Faktoren anstatt von Erkenntnissen, ethischen Prinzipien und Basisdemokratie über den Fortgang der Ereignisse entscheiden und wer die konkreten Vertreter dieser Machtpolitik sind. Das Internet hat einigen jedenfalls (wie vielen?) davon eine deutlichere Ahnung vermittelt.

Es sind Titanenkämpfe der Etablierten mit den brüllenden Mäusen an der Peripherie. Wir rätseln einstweilen, wie genau die Roadmaps unserer Zukünfte auf Reißbrettern von Think Tanks schon aufgezeichnet sind - und was dies für jeden Einzelnen bedeutet.

Es bleibt als formulierbare Handlungsalternative nur die größtmögliche Aufmerksamkeit, Geländegewinn nicht wieder zu verspielen und alle lebensbejahenden und emanzipatorischen Effekte von Medien zu nutzen. Dies löst noch nicht alle ökonomischen und Gerechtigkeitsprobleme, die eine Gesellschaft hat, die sich, wie hier thematisiert, traditionell eine Widerspiegelung ihrer Realitäten in Formen des Berichtes und der Kunst wünscht.

Gerade Vertreter mit einer großen Reichweite haben die konkreten Folgen der Medienrevolution offensichtlich persönlich noch nicht deutlich genug gespürt. Sie stehen immer mehr mittellos werdenden Konkurrenten und einer mächtiger werdenden Backlist der Public Domain gegenüber. Und auch das Bild der hintergründigen Machtstrukturen wird präziser, ermöglicht immer weniger die vollständige Verdunkelung nebst ertragreichen und unhinterfragten Komplizentums.

Vielleicht ist das neue Wissen und seine prekäre wirtschaftliche Lage in allgemeinsten Begriffen dieses Knäuel von Begebenheiten: das zugespitzte Ringen um Zugänge der Distribution bei teilweise nahezu kostenfreier Produktion; der erleichterte Zugang zu Information bei ihrer gleichzeitigen Entwertung.

Die politische Arbeit aller entscheidet darüber, ob am Verkauf von Gütern und der Verbreitung von Information in Zukunft nur noch immer weniger Einzelne großen Wohlstand erlangen, während die Übrigen sich dem Existenzmininum nähern - oder ob eine kooperative, partizipative und kreative Utopie halbwegs einlösbar wird. Selbst diese wird sich wesentlich auf jene beschränken müssen, die aktiv an ihr teilhaben können und wollen.

Der Rest des Geschehens deutet sich gegenwärtig an als eine Kombination aus Maschinisierung und Sozialismus. Hoffen wir, dass mit dem, was daran als Freiheit bezeichnet werden kann, sinnvoll wird umgegangen werden können. Und dass entstehende Freiräume keine weiteren sozialen und psychologischen Wüsten, sondern Lebensräume hervorbringen.

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