Informationsfeuer im Eisland
Wird Island die Schweiz der Daten?
In Reykjavík wird möglicherweise gerade Mediengeschichte geschrieben. Im isländischen Parlament bringt heute die Icelandic Modern Media Initiative (IMMI) ein Gesetzespaket ein, das die medienfreundlichsten Gesetze der Welt kombinieren soll: Etwa das traditionell in den USA kultivierte Recht auf freie Meinungsäußerung und den ebenfalls von dort stammenden Freedom of Information Act (FOIA) zur verpflichtenden Öffnung staatlicher Archive, die in Belgien besonders geschützte Kommunikation zwischen Journalisten und Informanten sowie das in Schweden sogar von Verfassungs wegen garantierte Recht auf Anonymität von Informanten. Von Deutschland, wo 2009 allen Ernstes von vier von fünf im Bundestag vertretenen Parteien das Von-der-Leyen-Gesetz mitgetragen wurde, Journalisten eine Online-Durchsuchung und Vorratsdatenspeicherung befürchten müssen und industrielle Unternehmen eigene "Persönlichkeitsrechte" einklagen können, hatte man keine Inspiration für das Medienrecht des 21.Jahrhunderts gewinnen können.
Die isländische Gesetzesinitiative zum modernsten Medienrecht der Welt geht vor allem auf die in den letzten Monaten intensivierte Lobby-Arbeit der Whistleblower-Plattform WikiLeaks.org zurück, die sich vergangenes Jahr durch die Veröffentlichung der Mauscheleien im Zusammenhang mit der Kauphting Bank die Sympathien der geprellten Isländer verdiente. Wissen ist Macht, und dieses Herrschaftswissen gehört nach Auffassung der WikiLeaker in Demokratien nicht einer Elite, sondern dem Souverän, also dem gesamten Volk.
Zu verbergen haben die Mächtigen der Welt genug, was in den konventionellen Massenmedien durch die wirtschaftliche und soziale Abhängigkeiten der Gatekeeper sowie durch staatlichen und vor allem zivilrechtlichen Druck kontrolliert werden konnte. Das funktionierte in der Vergangenheit vor allem innerhalb der Landesgrenzen, wo man nur eine übersichtliche Anzahl an politisch relevanten Redaktionen und Presseagenturen umschmeicheln oder ihnen drohen musste. Seit dem internationalen Phänomen Internet, bei dem jeder mit jedem massenmedial weltweit kommunizieren kann, sind Informationen nicht mehr wirksam zu unterdrücken, können allenfalls weggeleugnet, marginalisiert oder durch Verleumdung verbrämt werden. Besonders gut ignorieren ließen sich Whistleblower auf privaten Guerilla-Websites, die sich auf irgendwelchen ausländischen Servern tummelten und unterhalb des öffentlichen Radars im Ruch des Unseriösen agierten.
Datenschleuder WikiLeaks
Doch seit vor drei Jahren WikiLeaks antrat und ohne Rücksicht auf Verluste aus Prinzip jedes Dokument mit politischer Relevanz veröffentlicht, steht jedem Whistleblower eine salonfähige und gut organisierte Möglichkeit offen, Wissen mit der Öffentlichkeit zu teilen, ohne sich dem Risiko staatlicher Zensur oder zivilrechtlicher Repressalien auszusetzen. Auch für professionelle Medienhäusern ist WikiLeaks attraktiv. Denn wer sich den Luxus einer für Gerichte erreichbaren Adresse leistet, jedoch die Korrupten dieser Welt kritisiert, macht schnell die Bekanntschaft entsprechend spezialisierter Anwälte, die sich dem Gesetz des geringsten Widerstandes folgend im internationalen Pool die für sie bequemsten Gerichtsstände aussuchen. So wird kurioserweise "Malaysia Today" nicht mehr in Malaysia veröffentlicht. Erstaunlicherweise hat sogar die "American Homeowners Association" ihre Internet-Publikation nach Schweden verlegt. Selbst etablierte große Verlage scheuen langwierige Zivilrechtsstreite, weshalb Journalisten vorsichtiger schreiben müssen, manche Geschichten sogar im redaktionsinternen Giftschrank beerdigt werden. Spätestens seit dem Stolpe-Urteil und dessen seltsamer Auslegung durch norddeutsche Gerichte sind auch hierzulande kritischer Journalismus und Meinungsfreiheit zu einem unkalkulierbaren Risiko geworden.
Nachdem WikiLeaks inzwischen weltweit ca. 100 juristische Angriffe erfolgreich abwehren und auf diese Weise Medienunternehmen Unsummen an Rechtskosten ersparen konnte, ist "der Geheimdienst des Volkes" aus dem Enthüllungsjournalismus kaum mehr wegzudenken; ein Hinweis, dass man eine brisante Information bei WikiLeaks finden kann, erfüllt des Zweck eigener Veröffentlichung fast genauso gut. Die als besonders scharf geltenden britischen Pressegesetze dürften sich so langfristig als Farce erweisen. Auch die London nicht nur geografisch nahestehende Rechtspraxis des Hamburger Landgerichts dürfte ebenfalls an Autorität verlieren, denn nicht nur politisch zensierte, sondern auch zivilrechtlich angegriffene Beiträge finden inzwischen bei WikiLeaks Asyl.
Die professionellsten Geheimniskrämer stellen Industrie und Geheimdienste, für die unabhängige wie unkontrollierbare Datenschleudern wie WikiLeaks einen natürlichen Feind bedeuten. So hatte etwa der BND Federn lassen müssen und sich danach gleich noch selbst nach Kräften blamiert. Auch der Informations-Macht von US-Diensten und -Militär zeigten die Hackern die Grenzen auf.
Datenhafen Island
Zwar konnte Wikleaks aufgrund der dezentralen Struktur durch geschicktes Taktieren den Anwälten der Mächtigen etliche Schnippchen schlagen, doch mussten die WikiLeaks-Aktivisten einen gewissen Preis zahlen, etwa zum Teil im Untergrund agieren. Der deutsche Wikileaks-Aktivist "Daniel Schmitt" etwa tritt in der Öffentlichkeit zum Schutze seiner Familie nur unter Pseudonym auf. Ein Großteil der bislang angefallenen Anwaltskosten wurde von Verlagen aufgefangen, deren Redaktionen von WikiLeaks profitierten und sich insoweit Ausleihen der eigenen Anwälte revanchieren. Finanzielle Industriespenden lehnt man bei WikiLeaks jedoch prinzipiell ab, weil hierdurch die Unabhängigkeit gefährdet werden könnte.
Auch das Projekt, Island zu einem sicheren Hafen für Journalismus zu machen, sieht man bei WikiLeaks nicht als Anlass zur Zentralisierung. Ethan Zuckerman, Betreiber der Website für freie Meinungsäußerung globalvoicesonline.org, befürchtet, dass sich Island als Ort für kontroverse Websites bewähren müsse. Ein unter Druck gesetzter Staat könnte etwa ansässige Medienunternehmen und damit auch Leute von Wikileaks befragen. Auch, wenn Island in vielerlei Hinsicht unabhängig ist und keine militärische Tradition hat, so ist der Inselstaat Gründungsmitglied der NATO und etlicher internationaler Organisationen und hat anderen Staaten gegenüber Verbindlichkeiten.
Die WikiLeaker betrachten daher die isländische Initiative als eigenständiges Projekt. Die Unanständigen dieser Welt haben schon immer gerne ihr Geld in die Schweiz getragen, wo es durch das Bankgeheimnis der Eidgenossen diskret geschützt wurde. Nun soll Island "eine Schweiz der Daten" werden, wie es WikiLeaks-Aktivist Julian Assange formulierte. Die Insel aus Feuer und Eis wäre als Standort schon deshalb prädestiniert, weil dort die für den Betrieb von Servern erforderliche Energie aus emissionsfreier Wasserkraft und Geothermik gewonnen wird und Kühlung kein Problem darstellt. Aufgrund der Finanzkrise, die nicht zuletzt mit schlechter Informationslage zusammenhing, herrscht eine gewisse Aufbruchsstimmung vor, die ein Umdenken im Umgang mit Informationen und fragwürdiger Geheimhaltung derselben begünstigt hat. So fand die Gesetzesinitiative bereits im Vorfeld die Unterstützung von 30% der Parlamentarier, darunter auch Kulturministerin Katrín Jakobsdóttir.
Journalistenpreis
Ein weiterer Vorschlag der Initiative ist ein entsprechend renommierter internationaler Preis für investigativen Journalismus, der das Ansehen dieses Berufsstandes heben soll. In jedem Fall hätte Islands neue Mediengesetzgebung eine fortschrittliche Vorbildfunktion, welche insbesondere den westlichen Demokratien einen heilsamen Spiegel vorhält und archaische Rechtsordnungen in Zugzwang bringt. Man erhofft sich eine "weltweite Stärkung der Demokratie durch die Kraft der Transparenz".
Wer möchte, kann auf einer seit gestern eröffneten Unterschriftenliste seine Unterstützung für das Gesetz bekunden.