Innere Sicherheit: Ist jede Flucht aus dem Gefängnis ein Skandal?

Die bloße Flucht aus einer JVA ist im deutschen Rechtssystem nicht strafbar. Begleittaten wie Körperverletzung an Wachpersonal sind es. Symbolbild: Ichigo121212 / Pixabay Licence

Selten gelingt Schwerverbrechern die Flucht. Aber auch das Entkommen "kleiner Fische" wirft Fragen auf. Warum nicht immer Empörung angebracht ist.

Gefängnisausbrüche sind selten, aber sie kommen vor. Wenn es geschieht, ist der Ausbruch meist begleitet von einer Welle der Empörung. Begriffe wie "Sicherheitslücke" oder "Pannenknast" dominieren dann den Diskurs. Eine hektische Suche beginnt – nach dem Entflohenen, vor allem aber nach dem Schuldigen. Dabei gehören Ausbrüche und Ausbruchsversuche zum Justizvollzug schlechterdings dazu. Nicht jeder Fall ist skandalös und beruht auf einer Sicherheitspanne.

Bereits ein kurzer Blick auf die Medienberichterstattung zeigt, dass Gefängnisausbrüche auch aktuell vorkommen. Wie der Saarländische Rundfunk berichtete, kam es in der Justizvollzugsanstalt Ottweiler vor Kurzem zu einem Ausbruch. Allerdings war dem Entflohenen selbst nichts zur Last gelegt worden, das die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen könnte.

Der Mann sollte nur eine 90-tägige Ersatzfreiheitsstrafe bis zum 24. September 2023 dort absitzen. Dass er über den Zaun der Haftanstalt fliehen konnte, warf aber die Frage auf, wem das noch gelingen könnte. So weit, so skandalträchtig.

Ganz ähnlich und nicht minder skandalträchtig sind Fälle, in denen Gefangene nicht in den Vollzug zurückkehren, etwa von einem unbegleiteten Ausgang. Hier spricht man im Gegensatz zum Ausbruch, also einem Entweichen aus dem Vollzug, schlicht von der Nichtrückkehr. Das Ergebnis bleibt jedoch dasselbe: Am Ende des Tages fehlt der Anstalt ein Gefangener im Bestand.

Justizvollzug zwischen Resozialisierung und Sicherheit

Gefängnisse sind "totale Institutionen". Den Begriff prägte der Soziologe Erving Goffman. Er wirkt heute noch passend. Vor allem, wenn man sich vorstellt, dass gefangene Menschen unter besonderer Kontrolle und in vollständiger Abhängigkeit vom Staat leben.

Kontrolle ist jedoch nicht das Hauptziel des Justizvollzugs. Vielmehr soll er die Gefangenen auf ein eigenverantwortliches Leben ohne Straftaten vorbereiten. Dieser Resozialisierungsauftrag ist zugleich verfassungsrechtlich verbrieft, nämlich durch die sogenannte Lebach-Entscheidung von 1973.

Mehr noch: Es besteht ein Anspruch der Gefangenen auf Resozialisierung, abgeleitet aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Darüber hinaus dient der Justizvollzug auch der Sicherheit, indem er die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten schützen soll.

Dies führt zu einem als Zielkonflikt bezeichneten Zustand, bei dem die Vollzugsbehörden ihre Maßnahmen im Spannungsverhältnis von Resozialisierung und Sicherheit genau abzuwägen haben. Ein bloßes sicherheitsbedingtes Wegsperren darf es nicht geben. Im Gegenteil: Um dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsanspruch der Gefangenen zu genügen, müssen bereits während der Haftzeit Freiheiten gewährt und damit auch gewisse Risiken eingegangen werden.

Konkret bedeutet das etwa, dass Besuche erlaubt oder unbegleitete Ausgänge gestattet werden. So geht moderner und vor allem gesetzeskonformer Vollzug. Denn wie schon das frühere Bundesstrafvollzugsgesetz von 1977 schreiben mittlerweile alle Landesvollzugsgesetze den Vollzugsbehörden Resozialisierungsmaßnahmen vor.

Schließlich hat der Gesetzgeber dem natürlichen Freiheitsdrang des Menschen dergestalt besonderen Ausdruck verliehen, dass er die Flucht aus dem Gefängnis grundsätzlich straffrei stellt. Der straffreie Gefängnisausbruch ist freilich selten, da es regelmäßig zu typischen Begleitdelikten wie Sachbeschädigung oder Körperverletzung bei der Flucht kommt.

Wider die allgemeine Skandalisierungswut

Nur vor diesem Hintergrund ist es verständlich, warum die Nichtrückkehr und der Ausbruch im System Justizvollzug immanente Risiken sind. Der Gesetzgeber verlangt jedoch, dieses Risiko einzugehen – wie oben dargelegt. Insofern wirkt es bisweilen widersprüchlich, wenn Politiker bei Ausbrüchen (respektive der Nichtrückkehr) einerseits vom Versagen der Vollzugsbehörden oder gar der Justizverwaltung sprechen, mithin einen Skandal wittern, andererseits aber für Resozialisierung und einen modernen Justizvollzug werben.

Auch die regelmäßig einsetzende, nachträgliche Sicherheitsdiskussion (so etwa die Bild: "Wie sicher sind unsere Gefängnisse?") hilft wenig und verschweigt viel: insbesondere, dass solche Vorfälle nicht automatisch eine behördliche Panne oder gar eine Sicherheitslücke bedeuten, sondern auch einen individuell gescheiterten Resozialisierungsversuch darstellen können.

Dabei geht es nicht darum, dieses Scheitern schön oder Sicherheitsbedürfnisse in der Bevölkerung kleinzureden. Der Punkt ist ein anderer: Es verbietet sich jede pauschale Beurteilung. Vielmehr kommt es auch bei einem so skandalträchtigen Thema wie dem Gefängnisausbruch auf eine differenzierte Betrachtung und damit – wie so oft im Leben – auf den Einzelfall an.