Intelligente Festung Europa

UBild aus "Proposal for a Regulation establishing EUROSUR" der EU-Kommission

Eine neue Studie kritisiert das hochgerüstete EU-Migrationsregime. Den weiteren Ausbau von "virtuellen Grenzen" beraten die EU-Innenminister bald in Luxemburg

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Zuviel Grenzüberwachung und Migrationskontrolle: Das ist das Ergebnis der Studie Borderline - EU Border Surveillance Initiatives, die heute von der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin präsentiert wurde. Die Wissenschaftler Ben Hayes und Mathias Vermeulen untersuchen darin die "Initiative für intelligente Grenzen" und das "Europäische Grenzüberwachungssystem". Die Grenzüberwachungsinitiativen spülen den großen Rüstungskonzernen Milliarden in die Kassen.

Mit der sogenannten "Initiative für intelligente Grenzen" wollen die Innenminister der Europäischen Union die Handhabung zukünftiger "Reiseströme an den Grenzen" verbessern. Kontrollen gegen unliebsame Migranten werden durch technische Hilfsmittel verschärft, während gleichzeitig Privilegien für "legal Reisende" geschaffen werden. Damit soll Personal entlastet werden - ein gern vorgetragenes Argument für die Beschaffung neuer Überwachungstechnologie (Milliarden zur "Abschreckung illegaler Einwanderer").

Laut dem Verordnungsvorschlag der EU-Kommission werden die Außengrenzen der 27 EU-Mitgliedstaaten jährlich rund 700 Millionen Mal übertreten. Rund ein Drittel der Einreisen an Land, auf See und in der Luft werden demnach "Drittstaatangehörigen" zugeschrieben. Allein für den Luftverkehr wird bis 2030 von einer Zunahme von 400 auf rund 720 Millionen Reisenden im Jahr 2030 ausgegangen. Nach Vorbild der USA wird deshalb ein "Einreise-/Ausreisesystem" eingerichtet, das Grenzübertritte protokolliert. Damit sollen Grenzbehörden jederzeit eine "exakte und zuverlässige Berechnung der zulässigen Aufenthaltsdauer" vornehmen.

Elektronische Buchhaltung unerwünschter Migranten

Gewünscht ist auch die vereinfachte Buchhaltung unerwünschter Personen: Die elektronische "Überprüfung der Reisehistorie von Visuminhabern" soll den Polizeialltag an den EU-Außengrenzen erleichtern. Doch es geht auch um die Anhäufung von Daten, die für Statistiken und Risikoanalysen genutzt werden. So wollen die Grenzwächter stets überprüfen, wie stark die verzeichneten Ein-und Ausreisen voneinander abweichen. Dann können etwa Gemeinsame Polizeioperationen geplant werden, um sogenannte "Overstayer" einzufangen, also jene Personen die nach Ablauf ihres Visums die EU nicht sofort verlassen möchten (Jetzt nicht mehr so geheim: Operation RADAR).

Aber nicht nur die Grenzkontrollstellen werden automatisiert. Auch unerlaubte Grenzübertritte an Land und auf See sollen mit technischer Hilfe besser überwacht werden. Hierfür errichtet die EU mit dem "Europäischen Grenzüberwachungssystem" EUROSUR eine Aufklärungsplattform, die Informationen aus verschiedenen Quellen verarbeitet (Das Ende des "patrouillengestützten Ansatzes"). Das Ziel ist die Erstellung eines Lagebildes in Echtzeit, das auf Kameras, Radarüberwachung, Drohnen und Satellitenaufklärung basiert. Die Integration vorhandener Systeme und die Entwicklung neuer Sensoren werden in zahlreichen EU-Vorhaben vorangetrieben. Diese ohnehin hoch dotierte Sicherheitsforschung soll im kommenden Forschungsrahmenprogramm gehörig aufgestockt werden.

EURSOSUR soll bereits nächstes Jahr in einigen Ländern einsatzbereit sein, darunter in Spanien, Italien oder Polen (Militarisierung des Mittelmeers). Später sollen alle EU-Mitgliedstaaten angeschlossen werden. Die Grenzschutzagentur Frontex in Warschau fungiert als Hauptquartier: Hier laufen alle erhobenen Informationen zusammen. Dann verfügt die ohnehin rasant aufgebaute EU-Grenzpolizei über ein eigenes polizeiliches Lagezentrum. Von dort will Frontex die nationalen EUROSUR-Koordinierungszentren mit "Risikoanalysen" versorgen.

Die Agentur kümmert sich auch um die "Interoperabilität von Informationen und Technologien". Damit liegt EUROSUR voll im Trend der polizeilichen Zusammenarbeit, die sich an den Grundsätzen "Informationsaustausch" und "Informationssicherung" orientiert. Tatsächlich sollen die nationalen EUROSUR-Koordinierungszentren auf alle Daten zugreifen können, die in das System eingestellt werden. Damit wäre etwa die deutsche Bundespolizei stets im Bild über die Migrationsabwehr vor der tunesischen Küste.

Bild aus "Draft Roadmap towards establishing the Common Information Sharing Environment for the surveillance of the EU maritime domain" der EU-Kommission

"Zynische Antwort der EU auf den arabischen Frühling"

Deutlich wird auch, dass mit EUROSUR längst nicht das Ende einer auf technischer Aufrüstung basierender Überwachung erreicht ist. Im Gegenteil soll EUROSUR etwa auf See Teil eines noch umfangreicheren Kontrollsystems werden. Gemeint ist die Initiative zum Aufbau eines gemeinsamen Informationsraums für die Überwachung des maritimen Bereichs der EU. Integriert werden weitere Informationssysteme des Militärs, der Fischerei sowie Positionierungsdaten von Schiffen.

Die Vorschläge der "Initiative für intelligente Grenzen" und des "Europäischen Grenzüberwachungssystems" werden nun in den zuständigen EU-Gremien beraten. Die Initiative zu EUROSUR beschäftigt bereits den Innenausschuss des Europäischen Parlaments. Die Verordnung der "Initiative für intelligente Grenzen" wird wohl erst nach der Sommerpause von den Parlamentariern diskutiert.

Dass die Systeme auf ernsthaften Widerstand stoßen, ist nicht abzusehen. Grund dafür gäbe es aber genug: Kritisiert wird nicht nur die Datensammelwut europäischer Grenzpolizisten und die Einrichtung neuer Informationssysteme. Auch der zunehmende Einsatz von Überwachungstechnologie als Antwort auf politische Fragen wird unter anderem von Migrantenorganisationen angegriffen. EUROSUR und die "Initiative für intelligente Grenzen" seien die "zynische Antwort der EU auf den arabischen Frühling", folgern auch die grünen Auftraggeber der Studie zu den Grenzüberwachungsinitiativen. Die Innenminister der 27 Mitgliedsstaaten schotten sich demnach zunehmend ab - auf Kosten von Grundrechten.

Die großen Rüstungskonzerne in der EU würden indes von den Maßnahmen profitieren: Die polizeilich gewünschte Überwachungstechnologie wird bereits für militärische und geheimdienstliche Zwecke eingesetzt. Ihre Nutzung auch zur Grenzsicherung ist aber kein Nischenprodukt: Nach Angaben der Kommission schlägt die "Initiative für intelligente Grenzen" mit rund 1,1 Milliarden Euro zu Buche. Bis zu 800 Millionen Euro könnten nach unterschiedlichen Schätzungen für EUROSUR fällig werden. Üblicherweise steigen die tatsächlichen Kosten während der mehrjährigen Errichtung rapide an.

Ausbau von "virtuellen Grenzen"

Die Studie der Böll-Stiftung erscheint rechtzeitig zum nächsten Treffen des Rates für Justiz und Inneres in zwei Wochen. Die Innen- und Justizminister der 27 EU-Mitgliedstaaten widmen sich in Luxemburg dem Ausbau jener Datenbanken, die von Bürgerrechtlern als "virtuelle" Grenzen des EU-Migrationsregimes bezeichnet werden. Ihre Nutzung soll nicht nur Grenzbehörden vorbehalten bleiben: Diskutiert wird eine Erweiterung des Zugriffs auch zur allgemeinen Strafverfolgung. So soll etwa die Fingerabdruckdatenbank Eurodac zukünftig von Polizeien genutzt werden dürfen. Dafür muss aber ihre Zweckbestimmung geändert werden: Ursprünglich wurde sie lediglich zur Kontrolle der Identität von Visa-Inhabern eingerichtet. In Luxemburg wird nun ein entsprechender Vorschlag der Kommission zur Ausweitung des Eurodac-Mandats abgestimmt.

Kopfzerbrechen bereitet den Innenministern weiterhin das "Schengener Informationssystem" (SIS), in dem unter anderem ausreisepflichtige Ausländer gespeichert sind. Ein Upgrade auf das neue SIS II, in dem beispielsweise auch biometrische Daten gespeichert werden können, ist bereits seit mehreren Jahren verzögert (Wirrwarr um aufgebohrte EU-Polizeidatenbank). Die für 2006 vorgesehene Fertigstellung wurde mehrmals verschoben und ist jetzt fürs erste Quartal 2013 angekündigt. Ein Anfang Mai durchgeführter "Meilensteintest" des neuen Systems hat laut der Bundesregierung allerdings nicht die geforderten Bedingungen erfüllt. Deutschland weigert sich, die Ergebnisse formal anzuerkennen. Nun ist den zuständigen Behörden aufgefallen, dass auch ein Rechtsakt für den Umzug auf die neue Plattform fehlt: Weil nicht alle Mitgliedsstaaten ihre Daten gleichzeitig migrieren können, müssen das alte und das neue System zunächst gleichzeitig genutzt werden. Die entsprechenden Verordnungen sehen dies jedoch nicht vor.

Die EU-Innenminister werden sich in Luxemburg auch mit einer Evaluation des Schengener Grenzkodex in Griechenland beschäftigen. Der Bericht widmet sich der Situation an der griechisch-türkischen Grenze und listet zahlreiche Maßnahmen der Grenzschutzagentur Frontex auf, an denen sich Deutschland zukünftig verstärkt beteiligen will. Bulgarien nimmt mit den hierfür abgeordneten 58 Polizisten sowie umfangreichen Gerätschaften zum Aufspüren von Migranten einen Spitzenplatz ein: Allein für die Operation "Poseidon Land" wurden letztes Jahr 77 Beamte eingesetzt, hinzu kommen Spürhunde, Thermokameras und 16 geländegängige Fahrzeuge. Womöglich wird die noch bis Ende Juni amtierende dänische Ratspräsidentschaft weitere Maßnahmen zur Migrationsabwehr in Griechenland initiieren.

UBild aus "Proposal for a Regulation establishing EUROSUR" der EU-Kommission

Friedrich bezwingt EU-Kommission

Auf dem Innenministertreffen soll auch ein Rückübernahmeabkommen mit der Türkei zur Sprache kommen, das nach Ansicht des deutschen Bundesinnenministers bereits fertig verhandelt ist. Über die Türkei eingereiste Flüchtlinge können dann bequem dorthin zurück geschoben werden. Derartige Verträge werden gemeinhin mit Zugeständnissen einer visafreien Einreise honoriert.

Hans-Peter Friedrich wäre dies laut dem Magazin stern ein Grauen: Angeblich müsse mit "erheblichen Strömen" aus der Türkei gerechnet werden. Stattdessen drängt die deutsche Bundesregierung auf die Bekämpfung unerwünschter Migration in der griechisch-türkischen Grenzregion (Panzergraben, Grenzzaun, Wachroboter und mehr deutsche Polizei).

Innenminister Friedrich hatte zuletzt verbissen gegen eine Initiative der EU-Kommission gekämpft, gegenüber EU-Mitgliedstaaten bei der Wiedereinführung temporärer Binnengrenzkontrollen mitzureden. Damit wollte die Kommission der ausufernden Praxis begegnen, etwa wegen anstehenden Gipfeltreffen die Anreise von Demonstranten zu behindern. Polen hat kürzlich die vierwöchige Kontrolle seiner EU-Binnengrenzen anlässlich der Fußballmeisterschaft EURO 2012 verkündet.

Derartige Kontrollen sind laut dem Schengener Grenzkodex zwar vorgesehen. Sie müssen jedoch die Ausnahme bleiben und dürfen nur bei schwerwiegenden Gefahren zum Zuge kommen. Die EU-Mitgliedstaaten sollen unter Angabe der Gründe so früh als möglich davon unterrichtet werden. Seitens der Kommission wurde deshalb Möglichkeit eines Vetos durch die übrigen Regierungen gefordert. Doch die Initiative ist vom Tisch: Vor allem wegen des Drucks aus dem deutschen Innenministerium hat die Kommission klein beigegeben und ihren Vorschlag zurückgezogen.